Laufen, Schauen, Denken

Sonntags Tagebuch

Eintragung vom 28. Juni 16

Dies also sind die Tage, an denen wohl nicht primär über Laufthemen gesprochen wird. Wir erleben den Tag X. Die Welt geht zwar nicht unter, aber vielleicht doch ein Stück Europa. Ganz sicher haben wir alle einmal auf „die in Brüssel“ geschimpft und in ganz trüben Stunden die sogenannte Europäische Gemeinschaft zum Teufel gewünscht. Dort ist sie nun bald – für die Briten.

Wie das mit dem Schimpfen ist, – so ganz ernst ist es uns mit den Verwünschungen nicht gewesen. Den Briten wohl auch nicht. Doch nun ist es zu spät. Für die meisten von uns war die mit dem Referendum verfolgte Absicht, aus der Gemeinschaft auszutreten, „leeres Gerede“. Die wenigsten von uns, Politiker inbegriffen, haben das Referendum, bevor es vollzogen war, ernst genommen. Wahrscheinlich nicht einmal alle diejenigen, die über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Gemeinschaft zu befinden hatten. Es ist geradezu auffällig, wie sehr man sich in Großbritannien bemüht, den Vollzug des Abstimmungsergebnisses aufzuschieben. Vielleicht ereignet sich ja doch noch ein politisches Wunder? Die Kontinental-Europäer hingegen möchten alles möglichst schnell hinter sich bringen.

Keiner weiß so recht, wie es weiter geht. Nun wird wahrscheinlich doch vom Laufen gesprochen. Nämlich: Schlecht gelaufen…

Eintragung vom 21. Juni 16

Die Antwort auf die Frage, wie ich mich in meinem Alter fühlte, war kurz: „Alt!“

Ja, gewiß doch, Laufen hält jung, und mit Sicherheit fühlen sich Läufer jünger als ihre unsportlichen Altersgenossen. Dennoch, der Tag kommt, an dem das Laufen nicht mehr so recht laufen will. Dieser Tag ereignet sich in unterschiedlichen Lebensjahren, bei dem einen früher, bei der anderen später. Wer mit der Wettkampfteilnahme, den langen Strecken oder gänzlich dem Laufen aufhören muß, mag sich damit trösten, daß dieser Zeitpunkt unweigerlich komme.

Nur zu einem kleinen Teil haben wir es selbst in der Hand, wann wir uns vom Laufen verabschieden müssen. Ein laufender Hundertjähriger – das ist den Aufmacher in einem weltweit verbreiteten Medium wert. Mit neunzig einen Marathon oder Ultramarathon zu laufen, das bleibt wohl auch noch die Ausnahme. Mir fallen nur wenige Namen in Deutschland ein: Josef Galia, der erst im Alter von 74 Jahren mit dem Laufwettkampf begann, im Alter von 86 Jahren den Altersklassen-Weltrekord im Marathonlauf aufstellte (4:47:50 Stunden) und ein Lebensalter von fast 104 Jahren erreichte, Dr. Adolf Weidmann, der im Alter von 89 Jahren auf den 100 Kilometern von Biel den deutschen Rekord in M 90 aufstellte (22:35:13) und Horst Feiler, der im Jahr 2012 in M 90 101,683 Kilometer im 24-Stunden-Lauf zu Stadtoldendorf zurücklegte. Die Altersklasse M 85 findet man beim Marathon und Ultramarathon ebenfalls selten. Die 100 Kilometer von Biel weisen auch in diesem Jahr wieder keine Altersklasse M 80 auf, erst recht keine W 80.

Da habe ich wohl keinen Anlaß zu klagen: Im Alter von 82 Jahren (minus ein paar Tage) das letzte Finish in Biel, im Alter von 84 Jahren die letzten Marathons. Eine Geburtstagsrunde von 10 Kilometern zu traben wie einst Josef Galia am neunzigsten, ist mir nicht vergönnt. Ich bin halt nur Durchschnitt, allenfalls wenn man die Altersleistungen berücksichtigt, guter Durchschnitt. Aber ich bin zufrieden, hat doch bei mir das Erlebnis meistens mehr gezählt als das Ergebnis.

Nun sitze ich auf dem Turm, der in den Himmel ragt, und blicke mehr oder weniger abgeklärt auf die Laufstrecken unten. Wenn ich mir etwas wünschen dürfte und dies in Erfüllung ginge, hätte ich nichts mehr davon. Ich wünschte mir – nun für die anderen, die folgenden Altersläufer – passende Laufveranstaltungen, nämlich mehr Zeit bei den 100 Kilometern, lange Zielöffnungszeiten bei geeigneten Laufveranstaltungen, vielleicht auch die gesellige Einbindung in Laufveranstaltungen. Der Jubilee Club des Berlin-Marathons – mit einem Treffen auf der Messe – ist ein Weg, die Publikationen des GutsMuths-Rennsteig-Laufs – jetzt wieder die Schrift "Who is Who“ – ein anderer.

Nichts jedoch würde bei unseren Aktivitäten daran ändern, daß nur der Zeitpunkt des Aufhörens aufgeschoben würde. Eines Tages ist Schluß. Darauf sollten wir vorbereitet sein. Wir selbst sollten alles tun, damit dieser Zeitpunkt möglichst spät eintritt. Es macht keinen Sinn, mit siebzig oder fünfundsiebzig oder auch achtzig zu sagen: Nun höre ich auf, nur weil die Leistung nicht mehr mit unseren Vorstellungen übereinstimmt. Richtig ist, die Aktivität an die Realität anzupassen, nicht aber sie völlig aufzugeben, nur weil das Leistungsvermögen stark zurückgegangen ist. Ich habe den Eindruck, daß der Zeitpunkt der Beendigung körperlicher (und geistiger) Aktivität immer nur von Jüngeren definiert worden ist. Die Lebensplanung obliegt uns selbst, niemand anderem sonst.

Eintragung vom 14. Juni 16

Mag es auch ein Reklamelauf sein, – die gute Absicht ist zu loben: Ein Lauf allein für Frauen (ich hasse es, wenn solche Läufe wie weiland auch von Ernst van Aaken als „nur für Frauen“ bezeichnet werden, denn „nur“ ist eine Abwertung!). Die Diskussion darüber, ob man Frauenläufe brauche, da es ja doch auch keine Männerläufe (mehr) gebe, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt überflüssig. Der Anteil der Frauen unter den Läufern, auch bei Wettkämpfen, hat zwar zugenommen, aber die Motivation von Frauen bedarf noch einiger Impulse.

In der Serie von Frauenläufen ohne Wertung, die von Craft und dem deutschen Runners-World-Verlag in fünf Großstädten veranstaltet werden, ist dieses Jahr am 4. Juni Stuttgart hinzugekommen. Das Teilnehmerpotential hierfür ist hierzulande sicher vorhanden; die Zahl von etwa 2500 Läuferinnen, die sich für die 8-km- und die 5-km-Strecke angemeldet hatten, ist wahrscheinlich ein Beleg dafür. Ich hätte mir die Veranstaltung sicher angesehen, wäre ich nicht verreist gewesen. Doch allein beim Lesen eines Berichtes darüber keimten Erinnerungen.

  Die Strecken in der Waldau im Stuttgarter Stadtteil Degerloch führten an dem Parkplatz vorbei, an dem ich – das war wohl im Jahr 1974 – meinen Lauftreff, den ersten in Stuttgart, einrichtete. Damals konnte man nach Art der Verkehrsschilder ein großes gelb-grünes Zeichen anbringen. Ich fand das eine gute Werbung und hilfreich für Einsteiger. Wenn ich an die fünf Jahre zurückdenke, in denen ich wöchentlich einmal abends den kleinen Lauftreff um mich sammelte, waren es immer mehr Frauen als Männer, die bei mir zum Laufen fanden.

Noch immer denke ich kopfschüttelnd an den Redaktionsdirektor des Verlagskonzerns, in den ich 1976 – für eine kurze Probezeit – von der Tageszeitung gewechselt war. Als ich den Redaktionsdirektor, der allen Medien des Verlags vorstand – heute würde ihm auch „Runners World“ unterstehen – , darüber unterrichtete, daß ich beabsichtigte, einen Beitrag über das Laufen als Freizeit-Aktivität zu schreiben und wir über meine Marathons sprachen, äußerte er zustimmend: „Ein männlicher Sport!“ Er hatte die Vorstellung, das Automagazin des Konzerns als Männerzeitschrift zu konzipieren und fand, daß Marathon eine Männersache sei. Ernst van Aaken hätte die Hände überm Kopf zusammengeschlagen. Ich gestehe, daß ich damals schwieg; zu groß schien mir der Informationsbedarf. Heute sind solche Vorstellungen, Autos seien ein Männer-Thema und Marathon ein männlicher Sport, längst im Informationsmüll vergangener Jahre begraben.

Tatsache ist, daß Frauen weniger als Männer zur Wettbewerbsteilnahme neigen; das mag eine Frage des Testosterongehalts sein. Einerseits sehe ich den Verzicht auf Wettkämpfe positiv, andererseits haben Wettbewerbe ihre eigene Qualität, die sich nicht nur auf das Training, sondern auch auf die gesamte Lebensgestaltung auswirken kann. Deshalb finde ich Motivationshilfen für Frauen angebracht. Frauenläufe ohne Wettkampfcharakter sind eine Motivation auch dafür, schließlich doch zu einem Wettkampf zu melden.

Eine Laufveranstaltung wie der Women’s Run bietet ein alternatives Konzept zu den streng geregelten Wettkämpfen. Jede Läuferin konnte sich als Königin fühlen; schließlich tragen auch die brombeerfarbenen T-Shirts in diesem Jahr den Aufdruck „Streckenkönigin“.

Photo: Sonntag

Eintragung vom 7. Juni 16

Das ist ein Lauf, über den die Laufmedien wohl nicht berichten. Er ist zu klein; in diesem Jahr haben 104 Läufer und 14 Läuferinnen den Marathon beendet, dazu 335 Teilnehmer den Halbmarathon. Ich selbst wollte einmal den Marathon unbedingt laufen, spielt er sich doch in der Stadt ab, in der ich geboren bin und die einprägsamsten Jahre meines Lebens, die Jugendzeit, verbracht habe.

Als ich die Stadt im Herbst 1949 verließ, ahnte ich noch nicht, daß dies den endgültigen Abschied bedeuten würde. Und wenn schon, die Stadt schien mir tiefste Provinz zu sein. Dann kam der Tag, an dem mir klar war, daß es keinen Weg zurück mehr geben würde. Ich stamme aus Görlitz, der Stadt, die durch die Neiße in einen zur Sowjetzone/DDR gehörenden Teil und einen polnischen Teil geteilt worden ist. Es folgten die Jahre, in denen ich zwar die Hoffnung auf die Wiedervereinigung Deutschlands hatte, aber nicht annahm, daß ich sie erleben würde. Es ereignete sich die friedliche Revolution, die sich so überraschend vollzog, daß der Mauerfall wie ein zeitgenössisches Wunder wirkte.

In Görlitz war ich gelaufen, als ich meine Eltern besuchen konnte. In den sechziger und siebziger Jahren kam ich mir da schon als eine Art Paradiesvogel vor, der Aufsehen erregte, obwohl ich genau das vermeiden wollte. Nach dem Mauerfall dauerte es lange, bis ich Görlitz besuchte. Meine Eltern waren tot, und nun zog mich einzig die Neugier in die Heimatstadt, die Neugier auf den Wandlungsprozeß und die mit unseren Solidarbeiträgen in Angriff genommene Sanierung von fast 4000 Baudenkmalen. Einen weiteren Impuls setzte der im Jahr 2004 erstmals veranstaltete Europamarathon. Polens Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft hatte den Arzt, Gründer der Wählervereinigung „Bürger für Görlitz“ und Stadtrat Dr. med. Rolf Weidle veranlaßt, diese Laufveranstaltung ins Leben zu rufen. Nebenbei: Als ich in den achtziger Jahren, noch vor der Wende, in einen kurzen Briefwechsel mit Lothar Ratayczak eintrat, einen der Gründer der Görlitzer Laufgruppe Landeskrone, schlug ich ihm vor, einen grenzüberschreitenden Lauf zu veranstalten. Das war damals mit Sicherheit zu früh.

Die Görlitzer Laufveranstaltung trägt den anspruchsvollen Titel „Europamarathon“. Doch Europa hat damals wohl kaum von der Premiere erfahren. Entgegen der Ankündigung „Am 12. Juni 2004 werden Tausende Sportler aus ganz Europa in der Europastadt Görlitz/Zgorzelec (so lautet der polnische Name für die ehemalige Oststadt) erwartet. Sichern Sie sich frühzeitig Ihren Startplatz für den sportlichen Höhepunkt im europäischen Laufkalender!“ taten das 162 Marathon- und 246 Halbmarathon-Läufer. Dabei ist es im Prinzip geblieben. Der Betrieb an Start und Ziel in der Elisabethstraße, wo bis Mitte des 19. Jahrhunderts die Stadtmauer verlief, resultiert daraus, daß zum Europamarathon auch ein 5- und ein 10-km-Lauf zählen sowie Rollstuhlfahrer, Walker und Skater starten. Einzig die Marathon-Strecke führt über die Neiße-Grenze.

Den Kurs kann man schwerlich als attraktiv bezeichnen. Zgorzelec, die ehemalige Oststadt hat nun einmal keinen städtischen Mittelpunkt, sondern Vorstadtcharakter. Nach 13 Kilometern kommt man über die dem polnischen Papst Johannes Paul II. gewidmete Brücke, einst die Reichenberger Brücke, nach Görlitz zurück. Die besuchenswerte Altstadt muß man wegen der nach historischem Vorbild geschaffenen Pflasterung von der Streckenführung aussparen. Bleiben einige grüne Strecken und die schattenlosen Landstraßen rings um die Landeskrone, den charakteristischen Hausberg der Görlitzer.

Dennoch, den Marathon meiner Heimatstadt wollte ich laufen. Doch der Termin überschnitt sich mit dem der Bieler Lauftage. Also sagte ich mir: Erst die 100 Kilometer, die Marathonstrecke kannst du später noch laufen. Eines Jahres war es zu spät, es hätte nicht einmal für den Halbmarathon gereicht. Auf diese Weise hat es zwölf Jahre gedauert, bis ich meine Absicht, den Europamarathon wenigstens als Zuschauer kennenzulernen, verwirklichen konnte.

Zum Anschauen war das Wetter am 5. Juni gerade recht, zum Laufen dagegen fast schon zu warm. Organisation und Verpflegung sind gelobt worden. Freilich, die Laufveranstaltung vollzieht sich unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Wer sieht sich auch sechs Stunden lang 118 Marathonläufer an!

Weshalb dann empfehle ich diesen Lauf, indem ich von ihm erzähle? Europamarathon – das ist ein Programm. Wer sich vor Augen hält, daß jahrelang ein distanziertes Verhältnis zwischen Deutschen, davon vielen Vertriebenen, auch aus der Oststadt, und Polen, die aus dem von der Sowjetunion besetzten Teil Polens vertrieben und in Schlesien angesiedelt worden waren, geherrscht hatte, wird die seit einigen Jahren betriebene freundschaftliche Zusammenarbeit, auch beim Marathon, zu schätzen wissen. Das sollte man durch aktive Beteiligung fördern. Gerade im Hinblick auf die Vergangenheit hat der Lauf über die Grenze einen besonderen Reiz. Es gibt nicht viele Läufe, die über Staatsgrenzen führen.

Das Ambiente des Laufs ist ein weiterer Grund, in Görlitz zu starten. Die Stadt ist wie kaum eine andere deutsche Stadt ein Bilderbogen der Architekturgeschichte. Gotik – in einigen Kellern mit romanischen Spuren – , Renaissance, Barock, Gründerzeit, Jugendstil, Neue Sachlichkeit – Görlitz ist ein Museum, unverstellt durch Kriegszerstörungen und Neubauten. Die Film-Industrie hat das entdeckt. In der DDR-Zeit hat wie anderswo lediglich mangelnde Denkmalpflege zum Verlust historischer Substanz geführt. Der Europamarathon ist ein läuferischer Anlaß, sich Görlitz anzusehen und vielleicht, wenn man mit dem Auto da ist, auch die Umgebung, das Oberlausitzer Bergland, Im nächsten Jahr wird als Teil der Deutschen Fachwerkstraße eine Touristenstraße durch die Region der „Umgebindehäuser“ eröffnet. Die Startunterlagen erhält man in der „Turnhalle“ an der Annengasse. Die „Turnhalle“ des Gymnasiums befindet sich in einer gotischen Kapelle. Dort hat man Anfang des 20. Jahrhunderts eine Zwischendecke eingezogen; oben ist die Aula, im unteren Geschoß findet der Sportunterricht statt. Hier hing ich einst als nasser Sack an den Geräten herum. Erst das Laufen überzeugte mich im Erwachsenenalter vom Nutzen des Sports.

Dann die Menschen… Man wird, auch beim Lauf, rasch mit ihnen warm. Zu DDR-Zeiten war mir das verborgen geblieben. Der Tourismus hat der Einwohnerschaft neue Chancen geboten. Die Ausblutung durch Wegzug scheint aufgehalten; die Einwohnerzahl, die einst die 100.000 überschritten hatte, beträgt nun knapp 57.000. Inzwischen ist Görlitz als Altersresidenz entdeckt; aus den westlichen Bundesländern sind zusammen 1300 Menschen zugezogen. Sie leben hier billiger als anderswo.

Auch auf die Startgebühr wirkt sich, wenn man sich rechtzeitig anmeldet, das niedrigere Preisniveau aus. Eine Laufveranstaltung mit niedriger Teilnehmerzahl erschwert zwar die Bewältigung, belohnt aber mit guter Placierung. Mit einer Laufzeit von 2:56:52 kann man (so am 5. Juni der Tscheche Jan Videcky) das Rennen gewinnen, als Frau mit 3:28:35 (wie die Görlitzerin Franziska Kranich).

 

Man sollte es sich gönnen, im Marathon einmal über die Neiße und wieder zurück zu laufen. Unbedingt sollte man wenigstens einen oder zwei Tage für Besichtigungen einplanen. Tunlichst nach dem Lauf.

Photos: Sonntag

Eintragung vom 31. Mai 16

Wahrheiten können subjektiv sein, zum Beispiel die Lobpreisung von Wettbewerben, mit der ich die vorherige Eintragung bestritten habe. Es gibt wahrscheinlich weit mehr Läufer, die nie in ihrem Leben einen Laufwettkampf bestritten haben und dies auch nicht beabsichtigen, als Teilnehmer von Laufwettkämpfen. Auch die Verweigerer haben recht.

Jede Teilnahme an einem Wettkampf ist mit Streß verbunden – Streß bei der Vorbereitung, bei der Reise, vor dem Start, bei mindestens einer Passage während des Laufes, beim Marathon in jenem Abschnitt, in dem der „Mann mit dem Hammer“ zuschlägt. Da kann man sich als Läufer durchaus fragen: Muß das sein? Muß man sich zum Streß des Alltags, des Berufes, der Erziehung noch den zusätzlichen Streß eines Laufwettkampfs und des Trainings dafür aufladen? Und dies womöglich mehrmals im Jahr?

In der Zeit, die man für Wettkämpfe, ihre Vor- und Nachbereitung braucht, könnte man doch etwas Vernünftiges tun – sich der Familie widmen, sich erholen, ein Instrument spielen, ein Buch lesen, ein Buch schreiben. Und vor allem auch Laufen. Nämlich für sein Wohlbefinden, seine Gesundheit, sein psychisches Gleichgewicht. Das tun ja viele. Sie laufen, vielleicht täglich, vielleicht dreimal die Woche, in ruhigem Gleichmaß, kümmern sich nicht um Trainingspläne oder Trainingsratschläge, um die Messung ihrer Geschwindigkeit oder um Laufübungen. Sie lassen die Blicke schweifen – in ihre Umgebung oder ins Innere – und freuen sich, daß sie laufen dürfen. Es ist schön, ihnen zuzusehen.

An Wettkämpfen teilzunehmen und davon für sein Leben zu profitieren, ist die eine Wahrheit. Die andere ist: Laufen allein des Wohlbefindens wegen. Für welche Wahrheit man sich entscheidet, bleibt ein individueller Entschluß. Wenn man daran denkt, daß Frauen weniger zu Wettkampfteilnahmen neigen als Männer, entsteht der Verdacht, es könne sich bei der Entscheidung auch um eine Folge der Testosteron-Menge handeln.

Ein Tagebuch jedenfalls kann vielleicht bei der Entscheidung helfen, sie aber nicht abnehmen. Vielleicht gibt es ja auch Kompromisse. Ich habe den Eindruck, daß immer mehr Läufer zwar an Wettkämpfen teilnehmen, aber mit Vorliebe an solchen, die gar nicht so sehr als Wettkampf erkennbar sind. Das ist der Fall bei nicht wenigen Ultramarathons, bei Bergläufen, bei Trail-Wettbewerben. Viele interessieren sich gar nicht dafür, wer in welcher Zeit einen solchen Wettkampf gewonnen hat, sondern wie sie selbst mit den jeweiligen Bedingungen klar gekommen sind.

Eintragung vom 24. Mai 16

Das sportliche Ziel eines Wettkampfes ist die Erzielung von Bestleistungen, sei es im Vergleich mit anderen, sei es gemessen an den Bedingungen des eigenen Leistungsvermögens. Ich behaupte jedoch, für die wenigsten Teilnehmer an Langstrecken-Wettkämpfen spielt die Bestleistung eine Rolle. Der Deutsche Leichtathletik-Verband hat es nur lange Zeit nicht bemerkt. Was zieht uns dann an die Startlinie? Und nicht selten sogar Jahr für Jahr zu ein und demselben Wettbewerb?

Ich denke, es ist das – in übertragenem Sinne – Profil eines Wettbewerbs, der Charakter, das Ambiente. Die individuellen Vorlieben können sehr unterschiedlich sein, vielleicht sogar breit gefächert. Man kann sowohl einen Stadtmarathon wie den von Berlin schätzen als auch zugleich die Einsamkeit eines Ultramarathons.

Gehen wir einmal die Aspekte einer Auswahl durch! Viele von uns wählen ihre Startmeldung danach aus, ob die Strecke landschaftlich attraktiv ist. Die Zahl entsprechender Landschaftsläufe – denken wir an die Bergläufe oder an Ultrastrecken – ist ein Beleg dafür, daß die Landschaft durchaus ein Grund ist, bestimmte Laufwettwerbe zu bevorzugen. Wenn ich an meine Marathons und Ultramarathons denke, sehe ich die Wettkampf-Teilnahme insgesamt als Gewinn an. Nie und nimmer hätte ich auf Urlaubsreisen so viele unterschiedliche Landschaften und Sehenswürdigkeiten kennengelernt.

Veranstaltungen wie der Swiss Alpine können ein Anlaß sein, nicht nur zum Wettkampf anzureisen, sondern auch einen Urlaubsaufenthalt – und sei es nur von wenigen Tagen – damit zu verbinden. Vielleicht sogar ist das touristische Ziel der primäre Grund hinzufahren. Das könnte zum Beispiel beim Passatore der Fall sein. Wir jedenfalls, Marianne und ich, waren motiviert, Florenz zu besuchen. Da traf es sich gut, daß der Start des Passatore in Florenz stattfindet (weniger gut war, daß uns dabei ein Pilotenstreik ereilte).

Nicht gering zu schätzen ist bei der Wettkampf-Teilnahme der soziale Aspekt. Ich zum Beispiel habe überwiegend allein trainiert. Ich bin gern allein gelaufen; dennoch ist es ein Gewinn für mich gewesen, zumindest bei Wettkämpfen mit anderen zu laufen, sich auszutauschen oder auch nur zu sehen, daß andere ebenso leiden. Die gemeinsame Vereinsmitgliedschaft kann ein Anlaß sein, sich zu einem gemeinsamen Start, eventuell auch in einer Fahrgemeinschaft, zusammenzuschließen. Die Anregungen der Wettkampf-Auswahl können wechselseitig sein.

Vielleicht auch verabredet man sich mit entfernt wohnenden Lauffreunden zur Teilnahme an bestimmten Veranstaltungen. Jahrelang – in der Zeit der Teilung Deutschlands – waren Wettkämpfe in einem eher liberalen Land wie Ungarn die einzige Möglichkeit der Begegnung von Läufern der ehemaligen Bundesrepublik mit solchen aus der DDR. Ich erinnere mich noch gern an die Ultraläufe im Donauknie.

Der sportliche Aspekt: An Wettkämpfen teilzunehmen, befruchtet das Training. Veranstaltungstermine veranlassen dazu, sich darauf vorzubereiten. Je länger und anspruchsvoller die Strecke, um so überlegter, gezielter und ausgedehnter muß das Training sein. Selbst wenn wir am Ende den Wettkampf verpassen, vielleicht weil eine Erkrankung uns dazu zwingt, bleibt uns doch der durch die Vorbereitung erzielte Trainingseffekt.

Vor allem jedoch: Herausforderungen wie einen Wettbewerb zu meistern, wirkt sich auf das Leben aus. Wer einen schwierigen Wettkampf bestanden hat, je nach den persönlichen Voraussetzungen einen Marathon oder einen Ultralauf (um in unserem Umfeld zu bleiben), den kann auch ein berufliches Problem nicht so leicht in die Knie zwingen.

Vielleicht gibt es noch mehr Gründe, auch als Amateur bei Wettkämpfen zu starten. Für mich jedenfalls fällt die Bilanz eines Lebens als Sport-Amateur auf der Langstrecke positiv aus. Kann man das auch anders sehen? Durchaus. Davon beim nächsten Mal.

Eintragung vom 17. Mai 16

Der Mensch schätzt es, herausgefordert zu werden; Herausforderungen anzunehmen, ist er genetisch ausgestattet. Anders hätte dieses Lebewesen sich nicht zum homo erectus und schließlich zum homo sapiens entwickeln und als Gattung alle Bedrohungen überleben können. Die Eigenschaft, Herausforderungen zu suchen, hat unser Verhalten geprägt. Spiel und Sport leben davon. Sobald wir von unserer alltäglichen Bewegungsgeschwindigkeit in den Laufschritt fallen, haben wir eine Herausforderung angenommen.

Wie verhält es sich jedoch mit der Teilnahme an Wettbewerben? Das sind zwar auch Herausforderungen, aber sie sind nicht zwangsläufig. Man braucht keinen Wettbewerb, wenn man eine Herausforderung sucht. Auch die Neigung, an Wettbewerben teilzunehmen oder sie zumindest zu beobachten, scheint in uns angelegt zu sein. Ich stelle mir vor, daß die Menschen schon auf frühen Entwicklungsstufen bei der Nahrungsbeschaffung miteinander wetteiferten. Es mag dafür zweierlei Motivationsstränge gegeben haben, einen sozialen und einen eher aggressiven. Wer als erster eine Nahrungsquelle entdeckt hatte, teilte sie vermutlich mit seiner Gruppe, seiner Großfamilie, seiner Lebensgemeinschaft, seinen Kindern. Die Veranlagung, sich sozial zu verhalten – schon aus ganz persönlichem Interesse, weil der Mensch Nutznießer sozialen Verhaltens anderer ist –, dürfte ebenfalls ein genetisches Erbe sein. Der Drang, als erster eine Nahrungsquelle zu erschließen und sie anderen zugänglich zu machen, hat wahrscheinlich seinen Ursprung in dieser sozialen Absicht. Die alternative Motivation, die aggressive, dagegen war vielleicht das egoistische Interesse, nämlich die Nahrungsquelle ausschließlich für sich selbst zu nutzen. Wie auch immer, auf der Suche nach Nahrung entstanden Wettbewerbssituationen.

Was ich hier schreibe, ist keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern die Reflexion darüber, woher wohl unsere heutige Neigung, sich in einen Wettbewerb zu begeben, herrühre. Gewiß kann man zur Erklärung die Wetten britischer Gentlemen, die vom 18. Jahrhundert an ihre Bediensteten zu Konkurrenzen im Laufen oder im Boxen veranlaßten und Wetten auf das Ergebnis abschlossen, heranziehen. Doch die Briten mögen die Wetten erfunden haben, nicht aber das Streben nach Wettkampf-Teilnahmen. Das hat mit Sicherheit einen anthropologischen Hintergrund.

So manches genetische Erbe bestimmt noch heute unser Verhalten, auch wenn uns das nicht bewußt ist und auch gar nicht mehr gebraucht wird. Warum sollte es sich mit dem Streben, erfolgreicher als andere sein zu wollen, anders verhalten? Mir ist klar, meine Überlegungen sind spekulativ. Vielleicht hilft uns Widerspruch weiter?

Eintragung vom 10. Mai 16

Wenn in LaufReport, genau wie bei mir, von Laufen die Rede ist, meinen wir Läufer, die Wettbewerbe bestreiten. So scheint es jedenfalls. Doch diese Verkürzung stimmt nicht. Tatsache ist, daß die Vorbereitung der Wettkampfteilnahme, die Probleme dabei und die Laufveranstaltungen selbst wohl den Hauptteil des Lesestoffs in den Laufmedien bilden. An den Finisher-Zahlen wird die Entwicklung einzelner Laufdisziplinen wie Halbmarathon, Marathon und Ultramarathon gemessen.

Doch was sich in den Zahlen widerspiegelt, ist nur ein kleiner Teil der Realität. Er ist geeignet, das Bild der gesamten Laufszene zu verfälschen. Da wird dann aus dem Rückgang des Marathon-Finish leichthin eine Reduzierung der Zahl der Läufer geschlossen. Nicht berücksichtigt wird die Wandlung des Wettkampfgeschehens. Von denen, die eine Anzahl Marathons gelaufen sind, hat eine Anzahl Läufer neue Herausforderungen gesucht – vom Berglauf bis zum Triathlon, von der Ultrastrecke bis zum Trail. Der Zuwachs der Ultraläufer läßt sich ungefähr beziffern – wenn man so will, von einigen hundert auf über 7000 in Deutschland. Nicht erfassen läßt sich die Zahl derjenigen, die Jahr für Jahr im Ausland starten.

Erst recht bleibt die Zahl derjenigen in jeder Laufstatistik unberücksichtigt, die zwar laufen, aber nie daran gedacht haben, an einem Wettbewerb teilzunehmen. Dies ist heute mein Thema.

Wenn ich mich des Beginns meiner Läuferkarriere erinnere, scheint mir der Schritt vom Gesundheitsläufer zum Marathon-Läufer oftmals, wie seinerzeit bei mir, ziemlich zufällig zu sein. Vor fünfzig Jahren hätte ich mich damit begnügen können, das Lauftraining zu beginnen. Mein Arzt wäre hoch zufrieden gewesen. Doch mit der Teilnahme an einem frühen Volkslauf begann ich, eine Kette von läuferischen Herausforderungen zu knüpfen.

Es spricht einiges dafür, an Wettbewerben teilzunehmen. Argumente werde ich ein andermal zusammentragen. Ich bin jedoch auch sicher, daß es wahrscheinlich auch Argumente gegen Wettbewerb-Starts gibt. Das bedeutet: Es bleibt eine individuelle Entscheidung, ob man Herausforderungen im Wettkampf mit anderen annimmt, welche Herausforderungen man bevorzugt und wie viele. Wenn dem so ist, sollten sich Läufer nicht auseinander dividieren lassen – auch nicht durch künstliche Unterscheidungen zwischen Läufern und Walkern. Auf einem Trail wird vermutlich jeder Läufer auch einmal zum Walker. Jeder Walker kann morgen ein Läufer sein. Jeder Läufer kann seinen Sport im Alter ins Walken überführen müssen.

Ein Läufer ist nicht deshalb kein Läufer, weil er keine Halbmarathon- oder Marathon-Zeit aufweist. Gewiß bilden sich beim Laufen und insbesondere bei Wettbewerbsteilnahmen Gruppierungen. Wir sollten uns jedoch abgewöhnen, einen Unterschied zwischen Wettkämpfern und „Nur“-Läufern zu machen. Jeder, der uns auf unserer Trainingsstrecke in Laufschuhen oder mit Stöcken entgegenkommt, ist unser Sportfreund – in jedem Fall, auch wenn wir ihn oder sie bei keinem Wettkampf erblicken.

Eintragung vom 3. Mai 16

Meine letzten im Sinne des Wortes zielführenden Wettbewerbsteilnahmen haben im Jahr 2010 stattgefunden. Danach ist die Phase der Wanderungen in Biel und am Rennsteig gefolgt – vorsichtig gesagt, unterbrochen in diesem Jahr. Was folgt nun? Zwei Möglichkeiten: Entweder man zieht den Schlußstrich und begibt sich zurück in das vorläuferische Lebensstadium oder man bleibt dem Laufen fortan wenigstens mental verbunden. Für mich gab es keinen Zweifel, daß ich mich, auch wenn ich nicht mehr liefe, nicht vom Laufen verabschieden würde. Das Tagebuch mag ein Teil dieser Verbundenheit sein, ist jedoch nur eine von einer Anzahl Möglichkeiten. Ausschreibungen und Berichte über Laufveranstaltungen zu lesen, ist eine andere überdies leicht zu pflegende Möglichkeit. Wenn ich sie wahrnehme, lasse ich vor dem Kalender meine Phantasie spielen: Wäre diese oder jene Veranstaltung ein Lauf für mich gewesen? Es liegt auf der Hand, daß sich diese Auswahlliste von Jahr zu Jahr ändert. Grundsätzlich hat sie die Tendenz sich zu verlängern. Ebenso grundsätzlich ist sie anspruchsvoller geworden.

Wie sieht sie heute aus? An der Spitze steht der UTMB, der Ultra Trail de Mont Blanc, eine Herausforderung, bei der das Laufen nur eine ziemlich beiläufige Technik ist. In der Hauptsache geht es darum, die Strecke und die sonstigen Gegebenheiten wie die Witterung zu bewältigen, die Rückkehr in die Urzeit der menschlichen Fortbewegung also. Zwei Jahre würde ich mich mental darauf vorbereitet haben. Dazu würde auch die Teilnahme am Zugspitzlauf gehören. Ganz klar, die Ausdauer müßte gründlich trainiert werden. Dazu würde es passen, den Berliner Mauerweglauf, die 100 Meilen also, leichtfüßig zurückzulegen. Rechtzeitig würde ich mich zum Eiger Ultra Trail anmelden. Ein merkwürdiges Phänomen: Obwohl ich die Strecke von mehreren Wanderungen kenne oder vielleicht gerade deshalb, würde ich die 101 Kilometer und 6000 Höhenmeter als Läufer bewältigen wollen.

Dann würde ich gern den Western State kennenlernen wollen, der im nordamerikanischen Ultramarathon eine ähnliche Rolle spielt wie Biel für den europäischen, nur zeitversetzt. Ursprünglich handelte es sich um einen Reitwettbewerb. Nach Versuchen ist 1977 daraus ein öffentlicher Laufwettbewerb geworden. Wenn es im Lebenslauf zeitlich passen würde, hätte ich auch den Badwater auf meiner Liste.

Grundsätzlich würde es mir nicht um extreme Läufe gehen, sondern um Herausforderungen, die ein großes Erlebnis verheißen. Da kämen auch ein Wüstenlauf wie der Marathon des Sables und der Lauf auf der Chinesischen Mauer in Frage. Einmal möchte ich einen Marathon in Japan laufen, einfach deshalb, weil die Japaner zu den begeistertsten Läufern der Welt gehören; eine Laufveranstaltung habe ich mir allerdings in Japan nicht ausgeguckt. In den Vereinigten Staaten fehlt mir der Marathon von Chicago als einer der ganz großen.

Damit kein Mißverständnis entsteht: Ich suche keineswegs nur Läufe, die „man gelaufen sein muß“. Wenn es den Ultramarathon von Salzburg in meiner hochaktiven Zeit gegeben hätte, wäre ich sicher dabei gewesen. Er gehört daher auf meine Wunschliste. Das gleiche gilt für den Marathon von Breslau (Wroclaw). Wahrscheinlich würde ich auch in Posen und in Krakau laufen wollen. In der Slowakei ist mir Košice (Kaschau) entgangen, einer der ältesten Marathons der Welt, wenn man es mit einer mehrjährigen Unterbrechung nicht genau nimmt. Die Ernennung zur Kulturhauptstadt wäre eine Motivation zur Teilnahme gewesen; aber 2013 lief ich nicht mehr Marathon.

Ein Jammer, daß ich nicht in Skandinavien gestartet bin – also Stockholm auf die Liste! In Zürich bin ich zwar schon Marathon gelaufen, aber das war vor so langer Zeit, daß die heutige Strecke nicht mehr mit der damaligen identisch ist. Nach Luzern zieht es mich. Den Napf-Marathon hatte ich mir ernstlich vorgenommen. In Liechtenstein bin ich deshalb den LGT Alpin nicht gelaufen, weil ich immer Biel zur selben Zeit vorgezogen habe. Doch dieses Problem würde auch in Zukunft bleiben, denn auch in Zukunft würde ich, versteht sich, in Biel starten.

Deutsche Marathons würde ich, wenn mir eine gütige Fee mein Laufvermögen zurück gäbe, ziemlich spontan auswählen. Ausnahmen – also mit festem Vorsatz behaftet – bilden der Rennsteiglauf, der Darß-Marathon, weil ich dazu das Hotel des frühen DUV-Präsidenten Evers kennen lernen wollte, und der Europa-Marathon in meiner Geburts- und Heimatstadt Görlitz. So wie es aussieht, werde ich den nun am 5. Juni wirklich erleben – als Zuschauer halt.

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Eintragung vom 26. April 16

Fünfzig Jahre ist es her, daß ich mit dem Lauftraining begonnen habe. Zu diesem Jubiläum gehört, daß ich mich der ersten Marathons erinnere. Schließlich habe ich das Training konkret deshalb aufgenommen, weil ich an einem Volkslauf teilnehmen wollte. Doch nach den ersten Laufwettbewerben über etwas mehr als 10 Kilometer mochte ich nicht aufhören. Eine neue Herausforderung zeigte sich am Horizont, der erste Marathon, nicht irgendeiner, sondern der erste allein für über Vierzigjährige. Da wollte ich dabei sein. Anderenfalls hätte ich mir etwas mehr Zeit gelassen. Der erste Veteranenlauf fand am 25. Mai 1968 in Baarn (Niederlande) statt.

 

Da ich keine Informationen hatte, korrespondierte ich mit Meinrad Nägele, dem Organisator der IGÄL. Von ihm erfuhr ich, man müsse einem Verein angehören, um an einer solchen Meisterschaft teilnehmen zu können. Da meine Läufer-Laufbahn noch völlig im Dunkeln lag und ich nicht einmal wußte, ob ich den ersten Marathon am Ziel beenden und es wagen würde, überhaupt noch einmal Marathon zu laufen, gab er mir den Tip, einen Verein zu erfinden und dieses Phantom bei der Anmeldung anzugeben. So verfuhr ich. Ich nehme nach der Abkürzung VS an, er hieß Volkssportverein Nellingen. Niemand hat mich in Baarn nach meinem Verein gefragt.

Die Strecke bestand aus einer Runde, die zweimal zu durchlaufen war. Nach der ersten Runde, dem Halbmarathon, hätte ich am liebsten aufgehört. Doch ich lief die Runde mit einem älteren deutschen Läufer, Cornelius Jungmann; er rettete mich über den kritischen Halbmarathon-Punkt. Bei Kilometer 35 trennte er sich von mir und konnte so noch einige Minuten gewinnen. Ich beendete meinen ersten Marathon mit Ach und Krach, aber in immerhin unter viereinhalb Stunden, genau in 4:29:20.

Nun wollte ich aber wissen, ob man einen Marathon auch ohne Quälerei laufen könne. Die Gelegenheit bot sich einige Monate später, am 14. Juli 1968 beim 1. Brenztal-Marathon in Heidenheim an der Brenz. Es war ein Lauf über Land nach Giengen, Hohenmemmingen, Hermaringen, Giengen und zurück, organisiert von Werner Hirrlinger. Doch es war ein Hitze-Lauf; statt einer besseren Zeit lief – und ging – ich eine schlechtere, 4:58.01 Stunden. Immerhin, mit 5 Stunden hätte sich’s schlechter angehört. Zwanzig Jahre später hätte man auch eine solche Zeit bei einem Anfänger akzeptiert. Da wir damals so wenige Läufer waren – in Baarn ganze 146 Finisher – , blieb uns gar nichts weiter übrig, als sich stets an dem Feld vor uns zu orientieren.

Es mag für einen Anfänger ungewöhnlich sein, aber ich lief am 6. Oktober 1968 bereits meinen dritten Marathon. Da nämlich rief Roland Mall aus Donaueschingen in der kleinen Stadt Bräunlingen den Schwarzwald-Marathon ins Leben. Das war nun ein Lauf, der sowohl organisatorisch als auch persönlich höchst zufriedenstellend war. Jetzt, nach 4:18:51 Stunden, wußte ich, daß ich wahrscheinlich „Marathon kann“. Keine Rede davon, auf einer der langen Geraden durch die umfangreichen Waldungen aufzugeben. Vier Stunden und 26 Sekunden im Jahr 1969 – das war ein Sieg! Im Jahr 1971 durchbrach ich beim siebenten Marathon meines Lebens, beim 4. Schwarzwald-Marathon, die vier Stunden, und im Jahr 1972, sechs Jahre nach Beginn des Lauftrainings, erreichte ich in Ulm-Söflingen 3:38:57 Stunden. Vier Wochen später – leichtsinnig oder nicht – hielt ich die Zeit für gekommen, die 100 Kilometer in Biel zu wagen.

Eintragung vom 19. April 16

Als ich neulich beim Augenarzt war, sprach mich die medizinische Fachangestellte, die er neu eingestellt hatte, an, ich sei doch Marathonläufer? Und dies, obwohl ich nun wahrhaftig nicht mehr den Eindruck eines Leistungssport treibenden Menschen mache und mein letzter Marathon sieben Jahre zurückliegt. Weder gehört der Sport zur Anamnese eines Augenarztes noch wollte mich die Angestellte in eine positive Stimmung versetzen; beim Augenarzt hat man normalerweise keine Schmerzen oder andere Unannehmlichkeiten zu erdulden. Sie wollte einfach Respekt bekunden. Vom Ultramarathon habe ich ihr erst gar nichts erzählt.

Ich erwähne diese Begegnung, weil sie ziemlich typisch ist. Wer Marathon läuft, heimst Hochachtung ein. Als ich vor fünfzig Jahren mit dem Laufen begann, herrschte das Gegenteil vor. Wir wurden öffentlich verspottet. Da war es typisch, wenn uns hämische Zurufe begleiteten. Die Olympischen Spiele 1972 in München zum Beispiel lieferten Stichworte. „Na, Opa, auch zur Olympiade?“ Da war ich 46 Jahre alt. Überflüssig, etwa ein Gespräch dergestalt beginnen zu wollen, daß die Olympiade nur der Zeitraum zwischen Olympischen Spielen sei. Beide Bezeichnungen waren zumindest damals Synonyme. Die Zurufe waren in den wenigsten Fällen von der Art, daß es einen danach gelüstete, ein Gespräch zu eröffnen, um damit vielleicht sogar Nutzen zu stiften.

Manche Zurufe waren so einfältig, daß sich manche Läufer vorher schon passende Standard-Entgegnungen zurechtlegten. Ich selbst zog es vor zu schweigen. Manchmal wunderte ich mich. Ich erinnere mich noch jetzt an eine Szene. Da begegnete mir eine mehrköpfige Familie. Einer davon, ein bebrillter junger Mann, konnte sich nicht enthalten, mir mit kindisch verstellter Stimme etwas zuzurufen. Ich weiß nicht mehr, was; schmeichelhaft war es nicht. Jedenfalls war es so dümmlich, daß ich mich wunderte, wie sich ein Mensch damit vor anderen entblößen konnte. In der Tat verzogen die anderen aus der Gruppe keine Miene. In Fällen wie diesen wäre eine Entgegnung zuviel der Ehre gewesen.

Beliebt war das Zählen: „Eins, zwei…“. Wem mochte das eingefallen sein? Denn dieses Zählen kam ja bei uns im Lauftraining überhaupt nicht vor. Ich nehme an, es stammt aus dem Sportunterricht und wurde, völlig verfehlt, auf unser Lauftraining übertragen.

Es gab noch andere Formen der Kränkung, eine persönliche: Mein Verleger tadelte mich, als ich 1979 eine touristische Reportage über Laufen auf Teneriffa veröffentlicht hatte. Ich hatte damals eine von der IGÄL veranstaltete Laufreise privat gebucht und beruflich verwertet, ohne auch nur eine Mark Spesen in Rechnung zu stellen. Zum Laufen verreisen, das schien mir ein touristisches Thema zu sein, eines das noch an Bedeutung gewinnen würde. Der Verleger hielt mein Lauftraining für ein gänzlich überflüssiges, wenn nicht gar schädliches Hobby.

Als ich einmal für eine Woche krankgeschrieben war, kommentierte der Verleger das damit, daß ich auf diese Weise wenigstens zu einer Pause im strapaziösen Lauftraining gekommen sei. Es ist ein später Triumph für mich, daß dieser Verlag in der nächsten Verleger-Generation sich des sportlichen Radfahrens als Verlagsgebiet bemächtigt und ein – übrigens sehr gutes – Laufbuch in deutscher Übersetzung veröffentlicht hat.

Ich erinnere mich auch, daß eine Frau aus der Nachbarschaft, die durchaus ein Lauftraining aufnehmen wollte, Hemmungen hatte, sich vor den Nachbarn in kurzer Sporthose zu zeigen. Das mag einen Eindruck davon geben, wie verklemmt viele Menschen vor fünfzig und mehr Jahren waren.

In den Medien hat sich der Wandel des Zeitgeistes getreu widergespiegelt. Seriöse Blätter öffneten sich für das Laufen, in meinem speziellen Fall „Stuttgarter Zeitung“, „Frankfurter Allgemeine“ und die „ZEIT“ für meine Laufbeiträge. „Bild“ und „Spiegel“ hielten es mit der Häme gegen uns. Ich habe es leider versäumt, den Umschwung, als „Bild“-Reporter auf einmal Marathon liefen, zu dokumentieren. Es wäre ein Stück Zeitgeschichte gewesen. Wohl erst Dr. Hajo Schumacher hat den „Spiegel“ im Hinblick auf das Laufen umgepolt und dann aus seiner persönlichen Entdeckung des Laufens einen wahrscheinlich gut gehenden Publizistik-Betrieb entwickelt, nur eben im Hinblick auf das Nordic Walking den Blick für Zusammenhänge vermissen lassen.

Was die Öffentlichkeit angeht, meine ich, daß sich die Reaktionen auf den Anblick von Läufern in den achtziger Jahren, als der Marathon in die Großstädte getragen wurde, merklich zu ändern begonnen haben. Nicht, daß die Zurufe verschwunden wären; aber nun drückten sie Respekt aus. Als ich noch meine Trainingsstrecke lief, erhielt ich in den letzten Jahren fast so oft einen respektvollen oder aufmunternden Zuruf wie einige Jahrzehnte zuvor Schmähungen. Wenn ich als Läufer verkehrsreiche Straßen überqueren wollte, passierte es nicht selten, daß Fahrer anhielten und mich über die Straße winkten. Laufen ist Teil unseres Alltags geworden. Läufern kommt man entgegen, weil man ihnen die Fortbewegung erleichtern will, denn sie tun etwas Nützliches.

Innerhalb von dreißig Jahren hat ein kompletter Wandel in der Reaktion auf Läufer eingesetzt. Nimmt man ein paar Jahre dazu, ist der Wandel noch krasser. In den zwanziger Jahren sind Marathonläufer, die es damals schon wagten, durch New York zu laufen, mit Steinen beworfen worden.

Für andere Lebensstil-Änderungen gilt genauso, daß der Wandel der Anschauung Zeit fordert. Als Dr. med. Max Otto Bruker in den sechziger Jahren den Zuckerkonsum als schädlich bezeichnete, überzog ihn die Zuckerindustrie mit einer gerichtlichen Klage. Heute ist bereits, ausgehend von der Praxis im Ausland, in der Diskussion, ob Zucker nicht besteuert werden solle. Als ich 1981 meine Ernährung auf vegetarische Kost umgestellt hatte und bei Arbeitsessen entsprechend disponierte, wurde ich insbesondere von einem Kollegen lauthals verspottet – unter dem Gelächter mancher Kollegen. Nach etwa zehn Jahren war meine vegetarische Ernährung akzeptiert. Mehr als das, heute ist selbst vegane Ernährung eine allgemein akzeptierte Ernährungsrichtung und ein journalistisches Thema.

Was das Laufen angeht, habe ich damals überlegt, worauf denn wohl die aggressive Reaktion auf das Laufen in der Öffentlichkeit zurückzuführen sei. Ich kann mir vorstellen, daß diejenigen, die uns verspotteten, in aller Heimlichkeit ein schlechtes Gewissen hatten. Wir machten vor, was alle hätten tun sollen. Das hat Aggressionen geweckt. Die Witzeleien über uns sollten vermutlich die heimliche Aggression kaschieren. Der Wandel des Zeitgeistes hat mit sich gebracht, daß Läufer geachtet werden.

Eintragung vom 12. April 16

Die Nummer 1/2016 von „Ultramarathon“, der Zeitschrift der Deutschen Ultramarathon-Vereinigung, verdient eine besondere Hervorhebung. Im Grunde genommen bedürfte es dazu gar keines Anlasses. Was vor dreißig Jahren als Mitteilungsblatt der DUV gedacht war, ist dank der digitalen Technik und den Redakteuren zu einer Zeitschrift entwickelt worden, die nahezu kommerziellen Ansprüchen genügt. Das sollte einmal festgehalten werden.

Sicher hat der elektronische Satz eine Vereinfachung gebracht; das unproduktive Abschreiben der zur Veröffentlichung bestimmten Texte ist weggefallen; aber die digitale Technik hat auch ihre eigenen Ansprüche gestellt und beansprucht Arbeitskraft für das Layout. Grundsätzlich ist die Herausgeber-Arbeit für „Ultramarathon“ kreativer geworden; das merkt man dem Blatt an. Die Heftchen, die wir vor drei Jahrzehnten zusammenstellten, wirken geradezu erbärmlich im Vergleich zu den Magazinen heute, die Lust zu lesen machen. Für manchen Ultraläufer ist „Ultramarathon“ das wichtigste Argument, der DUV beizutreten.

Heft 1 dieses Jahres, das vorige Woche ausgeliefert worden ist, hat eine besondere Funktion; es ist als Rückblick auf 30 Jahre DUV und deren Standortbestimmung konzipiert. Ich finde diese Absicht sehr gut realisiert. Mein Urteil ist wahrhaftig nicht dadurch beeinflußt, daß ich einen Beitrag geschrieben habe und obendrein im Editorial – nach meiner Meinung vergleichsweise über Gebühr – erwähnt worden bin. Es liegt in der Natur der Sache, daß es ein Beobachter leichter hat als ein Akteur.

  Was ich ebenfalls hervorhebenswert finde, ist, daß offenbar ein Brückenschlag gelungen ist. Es ist – versteht sich – nicht nur Harry Arndt gewürdigt („Der sprühende, unruhige Macher“), und es stellen sich nicht nur Mitglieder des jetzigen Präsidiums vor; ein Fragebogen ist auch an Volkmar Mühl, den Präsidenten nach Harry Arndt, gegangen und von ihm beantwortet worden. Sein einstiger Opponent, Uli Welzel, kommt in einem Interview zu Wort, ebenso Ingo Schulze, verdienter Organisator und Ehrenmitglied.

Wolfgang Olbrich, nach dem Rücktritt Dr. Stefan Hinzes kommissarischer Präsident für einige Monate, empfiehlt an zwei Stellen die Einstellung eines hauptamtlichen Geschäftsführers. Da überlegt der geneigte Leser: Wer käme denn da in Frage? Ein Ultraläufer, versteht sich. Er müßte jedoch in seinem Beruf umsatteln oder, noch besser, sich schon aus seinem Beruf verabschiedet haben. Welcher Zufall – damit kann Wolfgang Olbrich dienen. Bedauerlich, daß sich Dr. Stefan Hinze – wahrscheinlich unter dem Druck seiner Verpflichtungen als Klinikchef – aus der Darstellung ausklinken mußte.

Besonders gefreut haben mich die Würdigung Helmut Urbachs, der durch seine Ultra-Siege lange Zeit vor der Gründung der DUV der wichtigste Förderer des Ultramarathons in der Bundesrepublik gewesen ist, und der Bericht über ein Treffen mit Bernd Evers, dem Präsidenten nach Dr. Lennartz. Auch sonst tauchen einige Namen auf, die schon in Vergessenheit geraten waren wie Helga Backhaus, Waltraut Reisert und Horst Hofmeyer.

Texte aus dreißig Jahren DUV geben ein buntes Kaleidoskop an Erfahrungen, Erlebnissen und Problemen. Auf diese Weise ist ein Heft entstanden, das keine langweilige Chronik, sondern ein historischer Bilderbogen ist. Alles in allem bietet es einen nicht alltäglichen Lesestoff. Ich bin überzeugt davon, daß dieses Heft, das Information und Lesevergnügen verbindet, in der Zukunft so manches Mal als Quelle genutzt werden wird.

Einen wenn auch kleineren aktuellen Teil gibt es dennoch. Er enthält Porträts der durch die Sportlerwahl 2015 Nominierten, Berichte von den 50-km-Läufen in Rodgau und in Berlin sowie der Brocken-Challenge, die Fortsetzung der Serie Kräuter und Gewürze und den Ergebnisdienst. Redakteur von „Ultramarathon“ ist Sven Eppelsheimer; aktiv eingebracht haben sich auch der Präsident, Jörg Stutzke, und seine Frau, Silke. Die Auflage beträgt 1700 Exemplare. Auch das muß einmal an dieser Stelle genannt werden.

Photo: Sonntag

Eintragung vom 5. April 16

Wenn man ein Einzelgänger ist, ist man wahrscheinlich auch ein Einzelläufer. Dennoch bringt das Laufen eine soziale Einbindung mit sich, spätestens wenn man sich an Wettbewerben beteiligt. An meinem neuen Wohnort, der Gemeinde Nellingen, die 1975 in der Stadt Ostfildern aufgegangen ist, hatte ich jedoch seinerzeit keine Wahl. Es gab zwar einen Turnverein, aber keine Läufer. Im Jahr 1966 war ich hier wahrscheinlich der erste, der außerhalb eines Sportplatzes lief. Als ich meinem Arzt, dem Nervenarzt, der mir zu mehr Bewegung geraten hatte, von meinem Lauftraining erzählte und meiner Absicht, genau wie er am ersten Volkslauf in Stuttgart teilzunehmen, ergab es sich von selbst, daß er in der Anfangszeit mein Laufmentor geworden ist. Wenn ich in die Sprechstunde kam, war das Gespräch über das Laufen wichtiger ist als die ärztliche Konsultation. Zudem spürte ich nach einigen Monaten, daß die Migräneanfälle schwächer wurden. Das Erstaunliche, zum Kupieren des Kopfschmerzes genügte ein Glas Bier. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Nach etwa einem Jahr blieben die Migräneanfälle völlig aus. Meine private Verbindung zu dem Arzt, der seinen Patienten das Laufen empfahl, reichte bis zu dessen Tod vor zwei Jahren.

Da ich also außer meinem laufenden Nervenarzt keine Läuferkontakte hatte, führte mich der Doktor in seinen Verein in Kirchheim unter der Teck ein. Dort gab es eine Läufergruppe. Verschiedentlich lief ich also mit Kirchheimer Läufern gemeinsam. Das änderte sich, als ich im Jahr darauf, 1967, in der Königsberger Straße, wo wir ein Reihenhaus erworben hatten, angesprochen wurde. Derjenige, der mich ansprach, stellte sich als Friedemann Haule vor. Er habe mich, sagte er, verschiedentlich durch die Königsberger Straße, wo auch er ein Haus gekauft hatte, laufen sehen. Er habe sich mit einem weiteren Sportamateur, Tobias Ronnefeldt, der ebenfalls in der 1965 angelegten Königsberger Straße wohnte, zusammengetan, um den „Zweiten Weg zum Sport“ – eine Aktion des Deutschen Sport-Bundes – zu beschreiten. So ergab es sich, daß wir drei eine wohl nicht nur in Nellingen frühe Läufergruppe bildeten, die sich jedoch dank der Werbetätigkeit Friedemann Haules bald vergrößerte.

  Haule hatte den Sauhag, ein Waldgebiet einige Kilometer von unserem Wohnort entfernt, als Trainingsgebiet erkoren. Jeden Samstagnachmittag traf sich dort auf dem Parkplatz unsere Gruppe zum Laufen. Nach etwa einer Viertelstunde des Aufwärmens fand Gymnastik statt, die Frau Haule leitete. Der Lauftreff war noch längst nicht erfunden; aber wir bildeten gewissermaßen die erste Form eines Lauftreffs, nur mit dem Unterschied, daß es keine organisierten Leistungsgruppen gab. Jeder schloß sich anderen Läufern an, die etwa den gleichen Leistungsstand hatten. Solche informellen Laufgruppen gab es mehrfach.

Ende der sechziger Jahre legte uns Friedemann Haule nahe, ob wir nicht in den Turnverein Nellingen eintreten wollten. Nach meiner Erinnerung war ich vorher schon, wahrscheinlich im Jahr 1968 in die IGÄL, die von Ernst van Aaken gegründete Interessengemeinschaft älterer Langstreckenläufer, eingetreten. Auch von ihr hatte ich von meinem Arzt erfahren. Schriftliche Aufzeichnungen existieren nicht; ich bin auf meine Erinnerung angewiesen. Eine meiner Erinnerungen war, daß mich Arthur Lambert, der Vorsitzende, in einer Versammlung zum Statistikwart machen wollte, weil dieser Posten gerade vakant war. Dies mir, dessen Laufzeiten Ernst van Aaken besser kannte als ich selbst! Später, in den achtziger Jahren, war ich dann doch für die IGÄL tätig, nämlich als Redakteur der „Condition“. Dazu hatte ich meine berufliche Tätigkeit als Stellvertretender Chefredakteur einer Autozeitschrift aufgegeben und mich auf halbe Arbeitszeit setzen lassen.

Zurück in meine Nellinger Vereinszeit! Friedemann Haule organisierte verschiedene gemeinschaftliche Unternehmungen. Wir liefen zum Beispiel – ohne Benützung öffentlicher Straßen – in den Schönbuch, das Naherholungsgebiet südlich von Stuttgart. Mehrere Jahre fand ein “Spanferkellauf“ statt, der seinen Namen davon hatte, daß am Zielort des Laufes, einem Grillplatz, ein Spanferkel am Spieß gebraten wurde. Haule gab den „Spanferkellauf“ später auf.  

Mag sein, daß er Vegetarier nicht vergraulen wollte. Ich selbst entschied mich erst 1981 für den Vegetarismus, wiewohl ich auch vorher keine sonderliche Neigung zu Fleischspeisen gehabt hatte. Als die Zahl der Marathonläufer in unserer Gruppe beträchtlich zugenommen hatte, bestellte Haule einen Autobus, mit dem wir nach Bräunlingen zum Schwarzwald-Marathon fuhren.

Dennoch, trotz allem spürte ich eine Entfremdung. Es berührte mich eigenartig, daß wir alle unsere Aktivitäten, ob Startgeld oder die Flasche Bier nach dem Marathon, selbst bezahlten. Den Verein nahmen wir nicht im mindesten in Anspruch. Als ich dies einmal zur Sprache brachte, gab mir der damalige Vorsitzende zur Auskunft, es liege an mir, grundsätzlich also bei jedem einzelnen, ob ich die Angebote des Vereins wahrnähme oder nicht. Ein Angebot „Laufen“ gab es nicht; wir organisierten uns selbst. An der Gymnastik nahm ich längst nicht mehr teil; ich hatte ebenso wie andere Laufkollegen wahrgenommen, daß die Gymnastik meine danach zu erbringende Laufleistung schmälerte. Hinzu kam, daß mir Friedemann Haule, später Bundeslauftreffwart, allzu sehr auf sein eigenes Profil bedacht schien. Mit diesem Verein konnte ich nichts anfangen, ich brauchte ihn nicht; zum Jahresende 1979 verließ ich ihn.

Damals rief Dr. Karl Lennartz in St. Augustin einen Verein für Läufer ins Leben. Das war genau das, was auch ich grundsätzlich für erstrebenswert hielt. Aus einem Gespräch ergab sich, daß Karl Lennartz mich als Mitglied aufnehmen würde. Also schloß ich mich diesem Verein an. Allerdings zeigte sich, daß ein paar hundert Kilometer Entfernung eine Mitgliedschaft auf das Formale beschränken. Obwohl dieser Verein seine Einnahmen an die laufenden Mitglieder weitergab, fühlte ich mich auch hier nicht daheim.

Die nächste Gelegenheit ergab sich, als die Triathleten in Esslingen und Umgebung aus ihrem Turn- und Sportverein ausscherten und einen eignen Verein gründeten. Vorsitzender war Reinhard Schmid, der nicht nur Triathlet, sondern auch ein tüchtiger Ultraläufer war; er hatte 1993 beim Spartathlon immerhin den vierten Platz errungen. Die persönliche Verbindung bewirkte, daß ich dem Verein namens Non plus ultra beitrat. Ich erinnere mich, daß ich mit einigen Triathleten mehrfach im Training Ultraläufe absolvierte. Doch irgendwann hatten wir keinen gemeinsamen Termin mehr gefunden. Die Weihnachtsfeier wurde für mich als Läufer zur einzigen Gelegenheit, Kontakt zu dem Verein zu halten. Das war mir zu wenig; schließlich verließ ich auch diesen Verein.

Es mag nicht für mich sprechen, daß ich mit meinen Vereinszugehörigkeiten ziemlich liederlich umgegangen bin. Ausgerechnet ich, der ich keine sonderliche Vereinstreue an den Tag legte, bin dank Harry Arndt zum Mitgründer der Deutschen Ultramarathon-Vereinigung geworden und auch – dank Christian Hottas – zum Gründungsmitglied des Hundert Marathon Clubs. Zuvor schon hatte mich Dr. Hans-Henning Borchers in den von ihm als Gründungs- und langjährigem Präsidenten geleiteten Verband langlaufender Ärzte und Apotheker haben wollen. Das führte dann zu manchem Mißverständnis; ich wurde nicht nur von Hilfskräften aus einer medizinischen Praxis, sondern auch von Läufern, die mich nicht näher kannten, als Dr. med. angesehen. Wo immer ich konnte, stellte ich das richtig, schon weil mich Lauffreunde damit aufzogen. Als Dr. Borchers, mit dem ich 1981 den Deutschlandlauf, die Pilotstudie von Professor Jung, gemeinsam absolviert hatte, nach fünfzehn Jahren in einer Verbandsversammlung ausgebootet wurde, war auch für mich die Zeit gekommen, den Verband, der mich zum Ehrenmitglied gemacht hatte, formell zu verlassen.

Noch ein Verband ist zu erwähnen, dem ich aus völlig ideellen Gründen beitrat: Ich wurde Mitglied des Deutschen Lauftherapiezentrums, weil ich die von Professor Alexander Weber begründete und geleitete Ausbildung von Lauftherapeuten unterstützen wollte. Und noch einem Verein trat ich bei, dem Rennsteiglaufverein, weil ich zur Erhaltung dieser Veranstaltung beitragen wollte. Wenn man dazu nimmt, daß ich seit meiner Ausbildung als Gesundheitsberater (GGB) Mitglied der von Dr. Max Otto Bruker gegründeten Gesellschaft für Gesundheitsberatung bin, einem Berufsverband angehörte und drei lokale Vereine durch Mitgliedschaft unterstütze, kann mir wohl niemand vorwerfen, ein asozialer Mensch zu sein. Manchmal wundere ich mich aber, daß ich, obwohl ich glaubte, mit Vereinen nicht gar so viel im Sinn zu haben, in so viele Vereine eingetreten bin, davon zehn, die mit dem Laufen zu tun haben, den Spiridon Club und den Jubilee-Club des Berlin-Marathons nicht gerechnet. Eine Erklärung habe ich: Laufen verbindet.

Photos: Sonntag

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