Laufen, Schauen, Denken

Sonntags Tagebuch

Eintragung vom 28. März 11

"Ein Falke fliegt davon" betitelte die "Zeit online" ihre Geschichte über Axel Weber, der in wenigen Wochen sein Amt als Präsident der Deutschen Bundesbank aufgibt. Wohl keine Zeitung, die diesen Rücktritt ein Jahr vor Vertragsablauf nicht kommentiert hätte. Bei der "Zeit" heißt es: "Axel Weber, der Marathonläufer, der renommierte Wirtschaftsprofessor, dem man seine pfälzische Herkunft anhört, war die ideale Projektionsfläche für deutsche Stabilitätssehnsüchte." Der Marathonläufer? Eine Metapher vielleicht? Doch das angesehene Munzinger-Archiv bestätigt: "Passionierter Wanderer, Jogger und Marathonläufer". Nirgendwo sonst habe ich den "Marathonläufer" Axel Weber in biographischem Zusammenhang erwähnt gefunden.

Ich denke zurück: Als ich in den siebziger und achtziger Jahren im März den Engadiner Skimarathon lief – damals allein im klassischen Stil –, bekam ich einen Eindruck davon, was der Skimarathon für die Schweizer bedeutete. Wer als Schweizer daran teilnahm, bildete in der Woche darauf Gesprächsthema unter den Kollegen. Wer ihn beendet hatte, genoß hohes Ansehen. Die Teilnahme in seinem Lebenslauf zu erwähnen, bedeutete eine Empfehlung. Diesen Rang wünschte ich mir wie viele meiner Sportfreunde in Deutschland für den Marathon. Ein paar Jahre mußten wir noch darauf warten; der City-Marathon mußte sich erst entwickeln, der Marathon mußte zum Volkssport geworden sein. Dann erschienen allmählich Artikel, in denen Prominente oder jedenfalls solche Läufer, denen man einen gewissen Bekanntheitsgrad zubilligte, als Marathonläufer porträtiert wurden.

Mit der Zeit hörte das wieder auf. Ich erkläre es mir damit: Der prominenten Marathonläufer waren es zu viele geworden. Allenfalls ein grüner Außenminister, der vordem Laufschuhe nur zur Vereidigung als Landesminister getragen hatte, konnte mit seinen Marathonläufen noch Aufmerksamkeit erregen, andere hingegen nicht. Marathon war positiv besetzt. Wenn Joschka Fischer am Start war, wurde das erwähnt; Jörg Haider hingegen startete ohne publizistische Untermalung.

Wir haben nun in Deutschland einen Zustand erreicht, in dem Laufen und später auch das sportliche Gehen Alltagskultur sind. Zwar startet längst nicht jeder Läufer zum Marathon, aber die Marathon-Teilnahme ist für die Öffentlichkeit kaum noch etwas Besonderes; sie wird, wie jetzt bei Axel Weber, eher beiläufig erwähnt. Es ist wie mit dem korrekten Titel: Mit dem "Professor Dr. rer. pol. Dr. h. c." wird Axel Weber eher selten bedacht. Marathon? Er sieht zwar als Pykniker nicht wie ein Marathonläufer aus, aber warum sollte er es nicht sein? Marathon ist nicht mehr der Sport der irgendwie aus der Art Geschlagenen.

Nebenbei: Axel Weber, der Pfälzer, stammt aus Kusel. Dort nahm ich am 27. Juni 1986 an dem 1. 100-Kilometer-Lauf teil. Ungefähr in jener Zeit promovierte Weber zum Dr. rer. pol. Und nun lassen wir ihn sein Amt abwickeln. Er sollte uns nur daran erinnern, daß so viele, die Tag für Tag eine Krawatte tragen, zu anderer Zeit in kurzer Laufhose zu sehen sind. Das ist auch gut so.


Eintragung vom 21. März 11

Der Laufkalender des DLV, den man seit Jahresbeginn auf www.laufen.de findet, enthält etwa 3500 Laufveranstaltungen jeder Art in Deutschland. Unmöglich also, eine informative Jahres-Vorschau schreiben zu wollen. Der Lauf, von dem hier die Rede ist, steht zudem gar nicht im Veranstaltungskalender (sofern mir beim Nachschlagen kein Fehler passiert ist). Die Starterliste ist bereits geschlossen. Sie nennt nur 16 Namen. Denn es handelt sich um einen privaten Erinnerungslauf. Der Anlaß ist bemerkenswert: 100 Kilometer in Unna.

Ein Blick zurück: Wenn man den ersten deutschen Volkslauftermin im Oktober 1963 als Markstein nimmt, so geht die deutsche Laufbewegung allmählich ihrem fünfzigjährigen Bestehen entgegen. Aus der Anfangszeit sind nur noch zwei Marathone erhalten, der Lauf „Rund um den Baldeneysee“ in Essen, der ursprünglich ein Lauf für Profis gewesen war, und der als Volksmarathon ausgewiesene Schwarzwaldmarathon in Bräunlingen, der 1968 zum erstenmal veranstaltet worden ist. Bereits ein Jahr später jedoch begann in Unna in Westfalen konkret der Ultralanglauf in Deutschland.

Zwei Mitglieder des TV Unna 1861, Horst Altenhoff, jetzt 77 Jahre alt, und der Oberfeldwebel Günter Baumann, hatten damals an dem seit 1960 öffentlichen 100-Kilometer-Lauf und -Marsch in Biel (Schweiz) teilgenommen und ihren Verein unter Heinz Raschke, jetzt 88 Jahre, davon überzeugt, eine Veranstaltung nach Bieler Muster zu wagen. Obwohl keinerlei Erfahrungen vorlagen, brachten es die Organisatoren in Unna fertig, noch im selben Jahr, am 25./26. Oktober 1969, den ersten deutschen 100-Kilometer-Lauf zu organisieren. Der Leichtathletik-Obmann von Westfalen hatte vorsichtshalber noch zurückgefragt, ob bei der angegebenen Streckenlänge von 100 Kilometern nicht ein Fehler vorliege und es 10 km heißen müsse. Der 100-km-Lauf in Unna bedeutete die Grundsteinlegung dafür, daß in der damaligen Bundesrepublik der Ultralauf sein Haus finden konnte.

„Vom Aufwand und von der Organisation des Veranstalters her war das Abenteuer nicht minder groß als bei den Teilnehmern, die, bis auf eine verschwindend geringe Anzahl, zuvor auf eine solche Distanz noch nicht gestartet waren. Das nachfolgende Echo in Lob und Anerkennung über die Durchführung und Gestaltung des Wettbewerbs bestärkte den Turnverein, in dem begonnenen Sinne fortzufahren“, heißt es im Vorwort zu der Jubiläumsschrift „Zehn Jahre 100km-Lauf und -Marsch in Unna“. Die meisten seien zwar körperlich durchtrainiert gewesen, aber mit einer solchen Strecke noch nicht konfrontiert worden.

 

Im Jahr 1969 bereits waren der 27 Jahre alte Kölner Helmut Urbach und die 51jährige Hamburgerin Eva-Maria Westphal am Start, sie siegten in 8:59:10 und 13:19:40 Stunden. 363 der etwa 450 Teilnehmer bewältigten seinerzeit die gesamte Strecke, die nach dem Bieler Muster als Rundkurs angelegt war. Fortan drängte es fast jeden, der in der Bundesrepublik die Herausforderung Ultra annahm, außer nach Biel auch nach Unna. Dr. med. Christoph Wenzel erwähnt im „Ultramarathon-Lexikon“ den Schweizer Heinz Hasler aus Herzogenbuchsee, der 1975 mit 6:44:52 Stunden den Streckenrekord erzielte, und Christa Vahlensieck aus Wuppertal, die 1976 nach 7:50:37 Stunden (Streckenrekord) einlief. Werner Rathert aus Dortmund lief 1976 in 8:03:42 Stunden die Weltbestzeit für Blinde; seine erste Teilnahme im Jahr 1969 in Unna hatte er noch, mit wechselnden Begleitern, in 21:48:10 Stunden bestritten. Die Jubiläumsschrift bildet zudem den Versehrtensportler Friedrich Berg aus Bünde ab, der als Beinamputierter die Strecke viermal mit Stöcken zurücklegte. Helmut Urbach gewann fünfmal, beim dritten Sieg unterbot er mit 6:57:55 Stunden erstmals auf der Welt die 7 Stunden für 100 Kilometer. Eva-Maria Westphal siegte viermal.

Wie Wenzel weiter berichtet, wurde die Strecke nach der Vergrößerung des Kreises Unna im Jahr 1975 geändert und bezog die Städte Werne und Lünen ein; dieser Rundkurs blieb bis 1985. Im Jahr 1989 wurde in Unna die 3. Deutsche Meisterschaft im 100-km-Straßenlauf ausgerichtet und dazu eine zehnmal zu laufende 10-km-Strecke benützt. Heinz Hüglin aus Ettenheim verbesserte auf diesem Kurs die 100-km-Bestzeit auf 6:37:52 Stunden und Birgit Lennartz die Weltbestzeit für Frauen auf 7:26:52 Stunden.

Der 21. 100-km-Lauf in Unna wurde im selben Jahr auf einem zweimal zu laufenden 50-km-Kurs ausgetragen. Dies verführte jedoch viele Läufer dazu, nach der ersten Runde aufzuhören. Der gleiche Lauf im Jahr 1990 brachte nach 100 Kilometern nur noch 282 Finisher; in den besten Zeiten zählte Unna 1200 Teilnehmer. Die Veranstaltung wurde aus organisatorischen Gründen eingestellt.

Inzwischen hatte die „Versportlichung“ des Ultralaufs und -marsches eingesetzt, die später auch vor dem Vorbild Biel nicht Halt machte. In Hamm gab es die 10-Kilometer-Runde, und in Rodenbach bei Hanau bereitete Harry Arndt die Strukturierung des Ultralaufs in der Bundesrepublik vor.

Der 10-km-Kurs in Unna-Lünern wurde noch einmal im Jahr 1996 für die Westdeutschen und Westfälischen 100-km-Meisterschaften benützt. Insgesamt sind in Unna 24mal die 100 Kilometer gelaufen worden. Auch wenn der letzte Lauf auf dem 100-km-Kurs schon 22 Jahre zurückliegt, sind die 100-km-Läufe auf einer großen Runde lebendige geschichtliche Erinnerung.

Matthias Vogel aus Unna und Andreas Dersch aus Holzwickede haben es nicht bei der Geschichte belassen wollen. Sie sind dabei, zusammen mit anderen Sportfreunden einen Erinnerungslauf am 3. September 2011, dem Termin des Stadtfestes, zu organisieren. „Wir sind keine Ausdauersportler, die Höchstleistungen bringen wollen, sondern eher Läufer, die Spaß an einer Belastung im Kreis ihrer Freunde haben“, heißt es auf der Website 100km-lauf-unna.de. „Bei gemeinsamen Trainingsläufen ist uns der Gedanke gekommen, den altehrwürdigen 100-km-Lauf von Unna aufleben zu lassen. Die Gründe dafür sind: Es gibt kaum eine Ultralaufveranstaltung in Deutschland, die traditioneller ist, wir sind Hobbysportler aus dem Kreis Unna, und wir finden es einfach schade, daß dieser Lauf nicht mehr stattfindet.“ Wenn sie als Angehörige der nächsten Läufergeneration schon nicht an der Originalveranstaltung teilnehmen konnten, so wollen sie doch wenigstens die Rundstrecke, möglichst dem Original entsprechend, laufen. Der Erinnerungslauf mit Start um 20 Uhr im Herderstadion ist kein Wettbewerb; die 16 Teilnehmer wollen die 100 Kilometer als Gruppe in 13 bis 14 Stunden zurücklegen – individuelle Zeiten werden nicht genommen. Max Manroth zeichnet für die mobile Verpflegungsstation verantwortlich. Bei Interesse soll der Erinnerungslauf im nächsten Jahr wiederholt werden.

Als Teilnehmer des 100-km-Laufs im Jahr 1979 (10:19:10 Stunden) würde ich mich freuen, wenn dann das Starterfeld erweitert werden könnte. Und wenn ich träumen dürfte, so stelle ich mir eine Fortsetzung der Unnaer Hunderter-Tradition vor: einen 100-km-Lauf und -marsch mit Zielschluß nach 24 Stunden. Irgendwann mußt du auch nach Unna.

Eintragung vom 14. März 11

Kein Mensch, auch wenn er viel läuft, ist nur Läufer. Ein Tagebuch kann daher, auch wenn es in einem Laufmagazin veröffentlicht wird, keine ausschließliche Laufsport-Veröffentlichung sein. Mag sein, daß dies von manchen erwartet wird. Selbst wenn es so wäre, bedürfte es eines Autors, der genauso dächte. Ich bin es nicht. Ich habe immer versucht, Laufen in einem großen Zusammenhang zu sehen, die Läuferinnen und Läufer ebenso. Wenn man läuft, denkt man oder denkt nicht, beobachtet, assoziiert, meditiert, unterhält sich, folgt Emotionen, hört Musik, nimmt wahr oder hält Einkehr. Immer tut man, wenn man eine längere Strecke läuft, noch etwas anderes als Laufen. Das kann von Läufer zu Läufer sehr unterschiedlich sein. Manchmal aber auch gibt es große Gemeinsamkeiten.

Ich meine, die meisten werden in diesen Tagen an Japan denken. Manche schon deshalb, weil sie einmal nach Japan gereist und dort gelaufen sind. Als die Interessengemeinschaft älterer Langstreckenläufer ihre Reiseaktivitäten entfaltet hatte, stand auch eine Laufveranstaltung in Japan im Reiseprogramm. Ich bedauere heute, nicht in Japan gewesen zu sein, nicht bei der so laufaktiven Nation. Doch es gab so viele näherliegende Ziele.

Aber auch, wer keine persönliche Verbindung zu Japan oder zu Japanern hat, verfolgt in diesen Tagen die Nachrichten aus Japan. Die Bilder, die uns auf dem Fernsehschirm von reißenden Wassermassen, von Zerstörung und Tod gezeigt werden, gehen unter die Haut. Wir müssen darüber reden, vielleicht auch beim Laufen. Ich muß darüber schreiben, obwohl der Stoff nichts mit dem Laufen zu tun hat. Die Eintragung, die ich für heute vorgesehen hatte, habe ich aufgeschoben.

Mitgefühl, das auch die Solidarität mit japanischen Läufern einschließt, ist das eine. Das andere ist die intellektuelle Bewältigung des nuklearen Risikos. Wir haben in Deutschland keinen Tsunami zu gewärtigen, aber wir haben 17 Atomkraftwerke. Ich habe in den sechziger Jahren erlebt, daß Kommentatoren die Atomkraft-Technologie in den Technik-Himmel hoben. Ich habe damals an Ostermärschen teilgenommen. Die Zeit der blinden Technik-Gläubigkeit ist längst einer differenzierten, ja distanzierten Betrachtung gewichen. Auch die bürgerlichen Parteien CDU/CSU und FDP bezeichnen die Atomkraft-Erzeugung nur noch als Brückentechnologie. Sie haben das Ende der Brücke vorgezeichnet. Allerdings haben sie den bereits in die Wege geleiteten Ausstieg durch die Laufzeitverlängerung rückgängig gemacht. Wenn die Kanzlerin von einem Einschnitt für die Welt durch die Katastrophe in Japan spricht, kann sie damit die Wirkung der von ihr durchgesetzten Laufzeitverlängerung nicht aufheben, auch nicht durch das befristete Aussetzen der Verlängerung. Das Nachdenken der Regierung über weitere Kontrollen und Sicherheitsmaßnahmen mag zwar zur Verbesserung der technologischen Situation führen, aber es kommt zu spät. Auch wenn abgestritten wird, daß es sich um einen Versuch handelt, die Landtagswahlen (am 20. März in Sachsen-Anhalt, am 27. März in Baden-Württemberg und in Rheinland-Pfalz) zu beeinflussen, dürfte es die sich nach der Katastrophe in Japan ausbreitende Stimmung der Bevölkerung nicht mehr konterkarieren können. Wir wissen nun, daß die Menschheit fortan auf einem für wahrscheinlich 24.000 Jahre verstrahlten Planeten leben muß.

Wir befinden uns am Rand eines Abgrunds der existentiellen Bedrohung. In dieser Situation wollen wir unseren Horizont auf das Laufen beschränken?

Eintragung vom 7. März 11

Was in der jüngsten Tagebuch-Eintragung als Frage formuliert war, hat sich bereits am Tag danach als Faktum erwiesen: Rücktritt. Doch unaktuell ist diese Eintragung nicht gewesen; das Gespräch über Karl Theodor zu Guttenberg ist bis zum heutigen Tage nicht zur Ruhe gekommen. Die Tendenz ist eindeutig: Die Mehrzahl der deutschen Wähler, quer durch die Parteien, möchte, daß der Freiherr in die große Politik zurückkehrt. Verständlich jedoch die Aussage Ramsauers, man solle ihn doch erst einmal in Ruhe lassen. Gewiß doch, aber Wünsche dürfen formuliert werden.

Nun haben erst einmal die Universität Bayreuth und die Staatsanwaltschaft das Wort. Wieviel ist an der Dissertation zu Guttenbergs Plagiat? Hat er es auf Betrug angelegt oder ist er nur schlampig gewesen? Ich halte ihn für zu intelligent, als daß er die Einleitung mit einem Plagiat aus der FAZ in betrügerischer Absicht bestritten haben dürfte.

Kann ein Mensch, dem der Doktorgrad entzogen worden ist, in die Politik zurückkehren? Wie immer die Verfehlung zu Guttenbergs zu werten ist, – es hat weit schlimmere Delikte deutsch-demokratischer Politiker gegeben. Denken wir allein an die Alt-Nazis in der deutschen Politik! Eine Doktorarbeit gefälscht oder zusammengeschludert zu haben, wiegt ungleich leichter als die Zugehörigkeit zu einer Partei mit verbrecherischer Zielsetzung und ebenso verbrecherischer Praxis. Wir haben in der Bundesrepublik immerhin einen Kanzler und einen Bundespräsidenten gehabt, die – ohne spätere Korrektur – der NSDAP angehört hatten. Wir haben Minister und hohe Staatsbeamte gehabt, die Hitler gedient haben. Auch das ist keine Kleinigkeit. Ebensowenig sind willfährige Richter und Mediziner zur Rechenschaft gezogen worden. All die Organisatoren und Helfer Hitlers standen einst dem Verbrechen näher als der falsche Doktor zu Guttenberg der Kleinkriminalität.

Ein weiterer Aspekt: Wer unternimmt es, die Doktorarbeiten der Nazizeit auf ihren ideologischen Gehalt zu untersuchen? Dieser Gedanke drängt sich mir auf, weil ich als Schüler Gelegenheit hatte, eine Doktorarbeit einer philosophischen Fakultät zu lesen. Ich weiß nicht mehr, welche es war. Ich erinnere mich jedoch, daß es mich, den Schüler, ziemlich enttäuscht hat, ein paar eng beschriebene Seiten als Doktorarbeit zu finden. Es ging um eine Widerlegung Einsteins zu Gunsten der "Deutschen Physik". Im nachhinein ist mir klar geworden, daß den Machthabern und Nazi-Professoren allein die Fragestellung den Doktortitel wert war. Wer jedoch hat sich nach dem Krieg um solche Nazi-Doktortitel gekümmert? Nicht ohne Pikanterie ist es, daß Dr. Gregor Gysi und Dr. Dagmar Enkelmann, beide von der Linken, den Rücktritt Guttenbergs gefordert haben. Die Doktor-Arbeiten beider entpuppten sich, wie man lesen konnte, als deutlich von der Ideologie der DDR geprägt: "Vervollkommnung des sozialistischen Rechtes im Rechtsverwirklichungsprozeß" (Gysi) und "Analyse und Kritik des Konzepts bürgerlicher Ideologen der BRD 'Identitätskrise der Jugend der DDR'" (Enkelmann). Wer hätte den Mut, Doktor-Arbeiten, die von purer DDR-Ideologie geprägt sind, zur Aberkennung des Doktor-Grades zu benützen?

Wir haben in der Bundesrepublik Minister gehabt, die sowohl vor als auch während ihrer Zeit als Minister Delikte begangen haben, ob es sich nun um Steinwürfe gegen Polizisten (Dr. h. c. Joschka Fischer), um Meineid (Friedrich Zimmermann, NSDAP-Eintritt 1943), Beihilfe zur Untreue (Reinhard Klimmt) oder um Fahren unter Alkohol mit Todesopfer (Otto Wiesheu, zehn Jahre später bayerischer Verkehrsminister) gehandelt hat. Politische Folgen hat dies nicht gehabt.

Zwar kann man sich den Doktor bei den seriösen deutschen Hochschulen nicht kaufen, sehr wohl aber Hilfen zur Erlangung der Promotion. Das war in den dreißiger Jahren schon so, und das ist auch heute noch in einer Form, die sich mit der Erklärung einer selbständigen Arbeit verträgt, möglich. Bei genauem Hinsehen dürfte so manche Doktor-Arbeit dem wissenschaftlichen Kodex nicht standhalten. Die Urheber waren nur einfach nicht prominent genug, so daß sie durchschlüpfen konnten. Meine Meinung: Politische Milde mit dem "Doktor" zu Guttenberg ist angebracht.

Wieder einmal bin ich froh, daß sich in unserem Sport Leistung exakt messen läßt. Die läuferische Kleinkriminalität, die Dopingfälle und die DDR-Doktor-Arbeiten über Doping-Themen sind Belastung genug.

Eintragung vom 28. Februar 11

Was ist derzeit das Hauptthema in Gesprächen, was in den Medien? Der Befreiungskampf in Libyen? Ach nein, wohl eher Karl Theodor Freiherr zu Guttenberg. Nebenbei: Spätestens bei der Affäre um die Dissertation zeigt sich, daß das Konversationslexikon endgültig ausgedient hat. Als ich die Internet-Enzyklopädie Wikipedia anklickte, war die jüngste Eintragung zum Verteidigungsminister gerade eine Stunde alt. Die Darstellung der Plagiatsaffäre ist fast länger als der Lebenslauf. Ob der junge CSU-Abgeordnete die Dissertation vorsätzlich gefälscht hat oder ins Plagiieren hineingeschlittert ist, wie er uns glauben machen möchte, muß die Universität Bayreuth noch prüfen. Bis dahin erhebt sich die Frage: Muß er zurücktreten oder nicht?

Ganz klar, die parlamentarische Opposition fordert den Rücktritt. Das Volk ist gespalten. Gegenwärtig scheint es, als wolle die Mehrheit den Minister behalten. In Laufgruppen könnte man die Probe aufs Exempel machen. Wenn man sich schon über zu Guttenberg unterhält, dann wäre dabei auch Gelegenheit zu fragen: Rücktritt ja oder nein? Ich habe freilich den Verdacht, so genau wissen das zur Zeit die wenigsten. In dubio pro reo (Im Zweifel für den Angeklagten) also? Das geht hier wohl nicht. Was zu Guttenberg gemacht hat, ist wahrscheinlich kein Hineinschlittern gewesen. Spätestens die fällige Erklärung bei Abgabe, daß die Arbeit allein mit den gekennzeichneten Quellen und Hilfen angefertigt worden sei, hätte ihn innehalten lassen müssen. Plagiate sind eine intellektuelle (und juristische) Todsünde. Wie will ein Wirtschaftsminister, der Karl Theodor zu Guttenberg im Jahr 2009 ja war, den abkupfernden Chinesen gegenüber treten, wenn er selbst es mit dem geistigen Eigentum nicht so genau genommen hat? Man kann auf den politischen Ausgang der Affäre gespannt sein.

Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Läufer, der beim Marathon oder Ultramarathon erwiesenermaßen betrogen hat, in einem anderen Ort eine Marathonveranstaltung leiten kann. Andererseits sollte man einen Läufer, der bei einem Marathon wegen eigenmächtiger Abkürzung disqualifiziert oder des Dopings überführt worden ist, auch nicht lebenslang sperren. Man sollte ihm eine Chance geben und möglicherweise auch dem Laufen.

Habe ich überhaupt ein Recht, mich zu dieser Frage zu äußern? Sollte es Menschen geben, die mir übel wollen oder auch nur mich kritisch sehen, hätten sie es leicht. Ehe es später jemand zutage fördert, bekenne ich lieber selbst: Ich bin tatsächlich bei einem Marathon disqualifiziert worden. Man hat es mir nicht mitgeteilt, ich habe es nur gelesen. Es geschah im März 2003 in Rom; Leser der deutschen „Runner’s World“ werden sich vielleicht erinnern. Ich hatte die einwöchige Marathon-Reise bei einem Reiseveranstalter gebucht. Wir waren in einem Hotel unweit des Vatikans untergebracht. Der Reiseleiter forderte uns auf, uns am Marathontag in der Hotelhalle zu versammeln; wir wollten um 8.30 Uhr mit dem Bus zum Start am etwas über 3 Kilometer entfernten Kolosseum fahren. Ich wandte ein, bei einem Start um 9.25 Uhr erschiene mir das zu spät. Was ich denn so früh am Start machen wolle? Da schwieg ich und fügte mich. Dies war falsch. Um 8.30 Uhr verkehrte wegen des Marathons kein Bus mehr, was wir gegen 8.40 Uhr erfuhren. Wir hasteten zu Fuß zum Start. Die Gruppe war im Nu zerstreut, den voran eilenden Reiseleiter, der ebenfalls Marathon laufen wollte, hatte ich aus den Augen verloren. Den Bus zur Kleiderabgabe erreichte ich noch, den Start jedoch nicht mehr. Da ich eine riesige Kolonne sich in Bewegung setzen sah, gliederte ich mich dort ein. Es war, was ich später merkte, ein 5-km-Lauf. Es blieb mir nichts, als diesen Fun-Lauf mitzumachen. Danach eilte ich zum Start des Marathons, wurde aber nicht mehr zugelassen, obwohl ich den Marathon sicher noch bis zum Zielschluß nach sieben Stunden hätte beenden können. Da beschloß ich, Marathon auf eigene Faust zu laufen. Ich suchte mir einen unbeobachteten Zugang zur Strecke und lief. Mir schien das ein originelles Reportagenthema zu sein. Doch bereits vom nächsten Streckenposten wurde ich aufgefordert, die Strecke zu verlassen. Das tat ich nicht, sondern lief unbeirrt weiter. Meine italienischen Vokabeln reichten, um „disqualificare“ zu verstehen. So geschah es dann auch. Ich hatte dummerweise vergessen, die Startnummer abzunehmen, war also leicht zu identifizieren. Die Geschichte ging so aus, daß ich später offenbar eine Biegung verpaßte, mich zwar auf der Strecke wiederfand, jedoch in der falschen Richtung. Ich merkte es, als mir Polizeimotorräder mit dem Ersten dazwischen entgegenkamen. Die Polizisten würdigten mich keines Blickes, der Erste erst recht nicht. Danach verließ ich die Strecke und begnügte mich mit der Rolle des Zuschauers.

Später fand ich meinen Namen unter den beim Rom-Marathon 2003 Disqualifizierten. Der Posten hatte seine Drohung wahrgemacht. Ich muß ihm recht geben. Objektiv hatte ich gegen die Bestimmungen verstoßen. Allerdings gab mein Erlebnis eine hoffentlich passable Geschichte für „Runner’s World“ her. Hätte ich in Rom nochmals antreten wollen, hätte ich mich auch für meine Mißachtung der Weisung entschuldigt. So aber habe ich die Angelegenheit auf sich beruhen lassen, und ich, der ich auf all meinen Wettbewerben auch in unbeobachteten Situationen keinen Meter der Strecke abgekürzt habe, bin ein schlimmer Finger, den man in Rom disqualifizieren mußte.

Eintragung vom 21. Februar 11

Heute habe ich meinen Computer zurückerhalten. Zehn Tage war er in der Werkstatt. Das kam so: Am 10. Februar gab ich ein Paket auf. Am 11. Februar – ich war gerade von meiner Trainingsrunde heimgekommen und im Kopf noch nicht ganz daheim – öffnete ich meinen e-mail-Briefkasten und fand eine Nachricht der Deutschen Post, meine Paketsendung könne nicht zugestellt werden; die Gründe seien im Anhang beschrieben. Der Text war zwar englisch, aber da die Deutsche Post ein globales Unternehmen ist, sah ich darüber hinweg und öffnete den Anhang. Es war ein Trojaner. Immer war ich solchen Gefährdungen ausgewichen; zum erstenmal in meinem Leben bin ich darauf hereingefallen. Ich weiß nicht, was in dem Anhang stand; denn in dem Moment, in dem ich darauf klickte, durchzuckte mich die Erkenntnis meines Fehlers. Es war zu spät. Mein Sicherheitssystem signalisierte die Nachricht der Deutschen Post als Fälschung. Ich beeilte mich, den Trojaner zu tilgen. Es gelang nicht. Da schaltete ich den Computer aus. Doch als ich ihn später wieder anstellte, brach das Programm ab. Vergebens versuchte ich, ihn anzuwerfen. Immer brach das Programm ab. Da blieb mir nur der Weg in die Werkstatt. Eine Woche später eröffnete man mir, 159 infizierte Objekte seien gefunden. Heute konnte ich das bereinigte Gerät abholen. Und so kommt es, daß die wöchentliche oder allenfalls zehntägige Eintragung ins Tagebuch eine vierzehntägige Unterbrechung aufweist.

Mögen Tagebücher auch der persönlichen Rechenschaft dienen, – sobald sie veröffentlicht werden, bedeuten sie auch Dialog. Ein LaufReport-Leser hat mich mit dem Hinweis, daß ich mich ja mit dem Swiss Alpine ganz gut auskennte, gefragt: "Was halten Sie von der dieses Jahr geplanten Sertig-Variante beim K78 und K42? Worin bestehen die Hauptunterschiede im Vergleich zur Scaletta-Strecke? Sicher interessiert dieses Thema auch andere Bergläufer. Falls Sie Zeit und Lust haben, könnten Sie ja ein paar Zeilen hierzu in Laufreport.de schreiben."

Vorauszuschicken ist, daß es sich bei der Sertig-Variante um die Schlechtwetter-Version des K78 und K42 handelt. Es hat ursprünglich schon eine andere Schlechtwetterstrecke gegeben; doch sie verlief im Tal und bedeutete für Swiss-Alpine-Teilnehmer keine ernsthafte Aufgabe. Daher hat die Streckenführung über den Sertig-Paß ein ganz anderes Gewicht.

  Man könnte hier sogar soweit gehen, die Schlechtwetterstrecke erst während einer Veranstaltung zu wählen. Ich denke da an das Jahr 1998, als der Wetterumschlag nicht mehr die Spitze, sondern die Läufer vom Mittelfeld an ereilte und zu desaströsen Verhältnissen am Scaletta-Paß führte. Hier hätte man die Spitze auf der Strecke des K78 und K42 weiter laufen lassen, das übrige Feld jedoch – bei entsprechender Vorbereitung der Schlechtwetterstrecke – über den Sertig-Paß leiten können. Vielleicht hätte man in diesem Fall sogar die letzten, die den Lauf abbrechen mußten, weiter aufsteigen lassen können.

Bis zum Jahr 1997 einschließlich war der Sertig-Paß (2739 m) der Kulminationspunkt der Supermarathonstrecke. Allerdings wurde er vom Val Tuors aus am Lai da Ravais-ch entlang, einem der beiden malerischen Seen, direkt erstiegen. Nach meiner Erinnerung halte ich diesen Aufstieg für leichter als den Aufstieg zur Kesch-Hütte. Von der Kesch-Hütte zum Sertig-Paß gibt es zwei Möglichkeiten, nämlich einen kürzeren, schlecht erkennbaren Pfad aufwärts direkt zum Paß, und den für die Schlechtwetter-Variante vorgesehenen Weg mit Gefälle (etwa 100 Höhenmeter) zu den Seen. Hier stößt er auf den zwölf Jahre lang für den Supermarathon benützten Aufstieg zum Sertig-Paß. Die K78- und K42-Läufer werden also über diesen Abschnitt der Ursprungsstrecke zum Paß gelangen; dabei müssen knapp 200 Höhenmeter bewältigt werden. Der Aufstieg birgt keine Probleme. Vor allem muß man bei Regenwetter keine Wildbäche wie am Panoramaweg durchqueren, und schwindelfrei muß man auch nicht sein. Zwar ist auch der Panoramaweg von der Kesch-Hütte zum Scaletta-Paß für geübte Wanderer und Bergläufer kein Problem, aber man sollte hier schon seine Sinne beieinander haben, und nicht umsonst hat Andrea Tuffli solchen K78-Läufern, die der stellenweise ausgesetzte Pfad unsicher macht, die Möglichkeit eingeräumt, die Talroute des K42 zur Alp Funtauna mit Aufstieg zum Scaletta zu wählen.

  Allerdings bringt die Sertig-Route einen steilen Abstieg über sandige Serpentinen. Dies hatte zu Klagen geführt und war auch ein Grund, zur Scaletta-Route überzugehen. Der steile Abstieg, der in einen Alpweg mündet, hat jedoch den Vorzug, daß man sehr rasch im Sertig-Tal ist. Hier ist man etwa 150 Höhenmeter tiefer als am Dürrboden. Der Weg vom Sertig-Dörfli nach Davos führt bis auf den Clavadeler Abschnitt größtenteils durch Wald. Sicherlich läuft es sich – so habe ich empfunden – im freien Dischmatal besser; doch bei Regenwetter gewährt der Wald Schutz. Zu beachten sind die Baumwurzeln, die schon manchen Läufer zum Stürzen gebracht haben.

Wenn ich die beiden Routen Kesch-Hütte – Scalettapaß – Dischmatal und die im Jahr 2011 gewählte Schlechtwetterroute Kesch-Hütte – Sertig-Paß – Sertigtal vergleiche, so geht zwar auf der Schlechtwetterroute der Panoramaweg mit dem Blick auf den Piz Kesch verloren, aber man genießt den Blick auf die Seen. Die Schlechtwetterroute über den Sertig-Paß ist auch vom Erlebnis her eine vollwertige Alternative. Zudem erfüllt sie einen wichtigen Sicherheitsaspekt: Ein Läufer, der auf der Originalstrecke hinter der Kesch-Hütte eine Unterkühlung erleidet, muß auf jeden Fall erst noch zum Scaletta-Paß und kann erst dort absteigen; von der Kesch-Hütte sind das für die meisten mindestens zwei Stunden. Auf der Schlechtwetterroute hat man zwei Möglichkeiten: entweder auf der Originalstrecke den relativ geringen Aufstieg vom Lai da Ravais-ch zum Sertig-Paß bewältigen und dann sofort ins Sertigtal absteigen oder aber die Teilnahme am See abbrechen und nach Chants ins Val Tuors absteigen. Hier kann man einen Kleinbus nach Bergün bestellen oder bequem nach Bergün laufen.

Da in den 25 Jahren des Swiss Alpine noch niemals die Schlechtwetterroute benützt worden ist, ist es legitim, sie ausnahmsweise einmal bei normalen Wetterbedingungen auszuprobieren. Für diejenigen, die die Sertig-Route nicht kennen, bietet sie auf dem letzten Drittel eine neue Herausforderung. Zudem sind im Sertig-Dörfli einige Dutzend mehr Zuschauer als am Dürrboden und im Dischmatal zu erwarten. Dazu tragen auch bessere Autobusverbindungen nach Davos bei.

Zusammengefaßt: Die Schlechtwetterroute ist nicht nur sicherer, sondern auch einfacher; dennoch erfüllt sie die Bedingung, deretwegen Bergläufer nach Davos kommen: auf einer ungefähr gleich langen Strecke wie das Original eine anspruchsvolle Herausforderung zu bieten.

Eintragung vom 7. Februar 11

Was einer der Bürger in "Fausts" Osterspaziergang behauptet: "Nichts Besseres weiß ich an Sonn- und Feiertagen/ Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,/ Wenn hinten, weit, in der Türkei,/ Die Völker aufeinanderschlagen", mochte vor einigen hundert Jahren gegolten haben. Heute bemessen wir den Weg zu Krisenpunkten nach Flugstunden. Nach Kairo sind es ungefähr vier Stunden. Dort schlagen nicht die Völker, sondern die Menschen eines Volkes aufeinander und auch, wenn's geht, auf Journalisten jeglicher Herkunft.

Auch Marathonläufer sind heute nicht soweit entfernt von "Krieg und Kriegsgeschrei". Während in Kairo Hunderttausende demonstrierten und tätliche Auseinandersetzungen stattfanden – mit etwa 300 Todesopfern und etlichen Tausend Verletzten –, ist am 28. Januar in Luxor Marathon gelaufen worden. Es ist alles gut gegangen. Die etwa 350 Teilnehmer aus aller Welt und ihre Begleiter sind unbeschadet wieder zu Hause. Hätte man die Veranstaltung absagen sollen? Ich traue mir kein Urteil zu. Für die etwa 100 deutschen Teilnehmer war Gerd Engel aus Stendal, der sich seit bald zwanzig Jahren für diese Veranstaltung engagiert, hohe Verantwortung zugekommen. Ich kann mir die Situation gut vorstellen, vermute jedoch, daß viele von uns in seiner Lage ebenfalls den Lauf durchgezogen hätten. Wer Marathon bei Hitze und bei Kälte läuft, unter der Erde und in 3000 Metern Höhe, neigt dazu, sich auch von einer Bürgerkriegssituation nicht beeinflussen zu lassen, zumal da noch andere Touristen nach Ägypten geflogen waren. Dennoch, das Risiko war nicht zu unterschätzen. Nach dem Marathon kamen auch nach Luxor die Panzer. Vielleicht denken wir bei unserem Training einmal darüber nach.

Ich habe eine Parallele zum Fall der Mauer 1989 in Berlin gezogen und finde, wir haben damals eine Portion Glück gehabt. Wären einem Grenzpolizisten der DDR die Nerven durchgegangen, so daß er zur Schußwaffe gegriffen hätte, hätte sich sehr wohl eine blutige Auseinandersetzung entwickeln können. Geschichte hängt leider nicht von Weisheit ab. Allerdings gibt das auch Hoffnung, daß es in Ägypten zu einer friedlichen Lösung kommt. Der nächste Marathon, wenn auch nur ein halber, wartet schon: am 11. März in Sharm El Sheikh.

Eintragung vom 31. Januar 11

Ein Wintertag grau in grau, dünner Regenschleier, eher auf der Brille denn auf dem Körper zu spüren. Das Gehen fällt mir schwer. Leichte Steigungen werden zu Bergen. Als ich zu Hause bin, frage ich mich: Wieso sind mir die zweieinhalb Stunden so schwer gefallen? Richtig, die hohe Luftfeuchtigkeit.

Es gab eine andere Situation: Ein klarer Wintertag, aber kalt. Da ich gehe und nicht laufe, produziere ich erheblich weniger Körperwärme. Kälte, habe ich gelesen, reduziert das Leistungsvermögen genauso wie Hitze. Die Einbuße betrage 20 Prozent. Man mag darüber streiten, wie kalt es dabei oder wie hoch die Luftfeuchtigkeit sein muß, um eine solche Reduktion auszulösen.

Ich habe in diesem Winter den Eindruck gewonnen, daß die Wetterfühligkeit in hohem Alter zunehme. Wahrscheinlich ist es jedoch so, daß man in jüngeren Jahren eine durch exogene Faktoren bewirkte Leistungseinbuße viel leichter überspielen kann. In fortgeschrittenem Alter stehen nicht mehr so viele Reserven zur Verfügung. Wir merken das ja bei jeder Gelegenheit. Bevor ich die Bierkiste in den Keller schaffe, nehme ich vier Flaschen heraus, damit sie leichter wird.

Wenn ich im Durchschnitt eine Gehgeschwindigkeit von 5 km/h habe, so bedeutet eine Reduktion um 20 Prozent nicht weniger, als daß dieser Durchschnitt auf 4 km/h sinkt. Ich muß mir das künftig immer vor Augen führen, wenn es nicht mehr so rasch geht, wie ich möchte. Mit dem Altern fertig zu werden – ganz gleich, in welchem Lebensalter man diesen Alternsprozeß erstmals empfindlich spürt –, bedeutet, den Leistungsrückgang zu erkennen und ihn zu akzeptieren. Akzeptanz heißt nicht Verzicht auf Training, sondern nur: das Training an die vorhandenen Möglichkeiten anzupassen.

Wer bei meinem persönlichen Beispiel von 5 km/h abwinkt, möge bedenken, die etwa 20 Prozent Leistungsabfall bei widrigen Bedingungen gelten auch dann, wenn man im Training in einer Stunde 10 Kilometer zurücklegt. Unter Umständen können daraus nur 8 Kilometer werden. Das Altern hat mich gelehrt, der Anpassung an die Bedingungen viel größeres Augenmerk zu schenken. Insofern ist im Ausdauersport kein Wettbewerb mit einem anderen aus einem anderen Jahr zu vergleichen. Die Strecke mag dieselbe sein, die Wetterbedingungen sind selten gleich.

Eintragung vom 24. Januar 11

In der Frühzeit der Laufbewegung, die ich bis Mitte der siebziger Jahre ansetzen möchte, waren wir, wenn wir irgendwo starteten, Wettkämpfer; wir hatten nur einen Gegner: die Stoppuhr. Das hat sich gründlich geändert. Ich behaupte, die Mehrzahl der Leistungsläufer, worunter ich hier die Veranstaltungsteilnehmer verstehe, läuft primär des Erlebnisses wegen. Daraus erklärt sich die Differenzierung des Langlaufsports, nämlich in Berglauf und in Ultramarathon mit 100-km-Läufen, "kürzeren" langen Strecken und 24-Stunden-Läufen, in Mehrtageläufe, Extremläufe, Triathlon, Hindernisläufe, Treppenläufe, Rückwärtslaufen oder was immer noch erfunden werden mag. Wir möchten laufend unsere Umwelt erkunden, und wir möchten uns selbst erleben, unsere Möglichkeiten, unsere Grenzen. Wer dies nicht erkannt hat, sondern ausschließlich auf die Stoppuhr fixiert ist, über den ist die Zeit hinweggeschritten.

Der 100-km-Lauf und -marsch in Biel hatte jahrelang ein Monopol inne. Mit der Differenzierung des gemessenen Laufens ging in Biel die maximale Teilnehmerzahl erheblich zurück. Das bedeutet keineswegs, daß die Zahl der Ultramarathoner zurückgegangen wäre - im Gegenteil. Es gibt jedoch mittlerweile eine Fülle von Alternativen. Wahrscheinlich wirkt sich das auch auf den klassischen Marathon aus.

Zunächst hatte der Landschaftslauf dominiert, kennzeichnend dafür der Schwarzwaldmarathon. Inzwischen ist der Landschaftslauf zum Trail Run mutiert; er soll ja nicht mit einem Spaziergang verwechselt werden. 1976 wurde in New York der erste City-Marathon gelaufen, der die Läuferwelt gründlich verändert und Laufen zu einer öffentlichen Angelegenheit gemacht hat.

Nicht nur die Umwelt, der Ort der Strecke, beeinflußte die Welt der Wettkampf-Läufer. Wir beobachten einen weiteren Wandel, Ideen gewinnen an Profil. Begonnen hat es wohl mit Charity-Läufen, deren Mitwirkende sich der Hilfe für andere verpflichtet fühlten. Erst waren es nur Gruppen, die in Laufveranstaltungen auftraten; ihre Absicht war an den Laufhemd-Aufdrucken abzulesen. Später sind ganze Veranstaltungen geschaffen worden, die ein einziges Ziel haben: mit dem Erlös und mit der Öffentlichkeit anderen zu helfen. Einige andere Veranstaltungen dienen der historischen Erinnerung, der Röntgen-Lauf in Remscheid zum Beispiel, oder haben sich, wie der Europa-Marathon in Görlitz, vor allem einer politischen Idee verschrieben.

 

Anlaß dieser Betrachtung ist eine neue Laufveranstaltung in Berlin, deren Idee sich allmählich entwickelt hat. Begonnen hat es mit dem Fall der Mauer; der war so rasch und so gründlich, daß die gegenständliche Erinnerung Not zu leiden drohte. Es war gar abzusehen, daß ein, zwei Generationen später niemand mehr genau wissen würde, wo die Mauer in Berlin verlaufen ist. Dank der Initiative des Grünen-Abgeordneten Michael Cramer, jetzt Europa-Abgeordnetem, ist im Jahr 2001 der Mauerweg geschaffen worden, der im großen Ganzen dem Patrouillenpfad der DDR-Grenztruppen folgt.

Über diese Route um das ehemalige Westberlin hat Cramer einen Radwanderführer geschrieben, der bereits in 5. überarbeiteter Auflage vorliegt (2009).

Eine solche Trasse von weltpolitischer Bedeutung und nun ein Radwanderweg im Verlauf dieser Trasse stellen für Läufer unbedingt eine Herausforderung dar. Erst waren es einzelne Läufer, die den Mauerverlauf zur Laufstrecke machten; dann institutionalisierte sich auch hier das Laufen. Ein Berliner Läufer, Dr. Ronald Musil, stellte sich vor, daß eine über 160 Kilometer lange Rundstrecke wie geschaffen für einen Hundert-Meilen-Lauf sei. Sein Gedanke fand Mitstreiter. Am 8. November 2009, fast 20 Jahre nach dem Fall der Mauer, ist eine "Langstrecken-Laufgemeinschaft Mauerweg" gegründet worden. Sie verfolgt nicht nur die Absicht, einen Hundert-Meilen-Lauf zu veranstalten, sondern auch, vorwiegend den Ultralauf zu fördern. Im Prinzip findet jeden zweiten Sonntag ein gemeinsamer Lauf auf dem Mauerweg statt und einmal im Monat auch ein längerer Lauf. Auch die hundert Meilen sind schon gelaufen worden, jedoch in drei Tagen.

Seit einigen Wochen nun ist der erste Hundert-Meilen-Lauf in Berlin ausgeschrieben. Er wird eine Woche nach dem 50. Jahrestag der Errichtung der Mauer, nämlich am 20. und 21. August, stattfinden (www.100meilen.de). Anmeldeschluß ist der 1. Juli. Der Start ist am Samstag um 6 Uhr morgens an der Sportanlage Lobeckstraße in Berlin-Kreuzberg; für die 160,9 Kilometer stehen 30 Stunden zur Verfügung. Die ersten 60 Kilometer müssen innerhalb von 10:30 Stunden und die 120 Kilometer innerhalb von 22 Stunden zurückgelegt werden. Etwa alle 10 Kilometer wird eine Verpflegungsstation eingerichtet sein. Teilnahmebedingung sind ein ärztliches Attest, das Mitführen eines Mobil-Telephons und bei Dunkelheit das Tragen einer reflektierenden Warnweste und einer Lampe. Die Teilnehmerzahl ist auf 200 beschränkt. Die Koordination hat der Vorsitzende des Vereins, Alexander von Uleniecki. Schirmherr ist der ehemalige DDR-Bürgerrechtler Pfarrer Rainer Eppelmann, Vorstandsvorsitzender zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Diese Informationen sind keine Gefälligkeitswerbung. Vielmehr bin ich selbst von dem Konzept der Mauerweg-Laufgemeinschaft und des 100-Meilen-Laufs überzeugt. Denkmale zu setzen, bleibt eine Ehrenpflicht und ist ein Mittel geschichtlicher Erinnerung und ethischer Orientierung. Doch Denkmale allein sind nur die eine Möglichkeit der Aufarbeitung von Vergangenheit. Eine lebendige Möglichkeit sind Veranstaltungen. Hundert Meilen zu laufen, bedeutet eine lebendige Erinnerung an das politische Unglück der Mauer und ihrer Opfer. Ein Hundert-Meilen-Lauf in Berlin verspricht zugleich auch eine Stärkung der deutschen Ultraszene.

Eintragung vom 17. Januar 11

Am späten Abend klickte ich LaufReport an und las, der “Dirigent des Mainzer Marathons“, Thomas Schäfer, sei zum Jahreswechsel völlig unerwartet gestorben. "Ein Schock für uns alle“, äußerte der Mainzer Sportdezernent. Bestürzung überkam auch mich.

Vor über vier Jahren hatte mich Thomas Schäfer zu einem Vortrag nach Mainz eingeladen. Ich war zwar nach meiner Bypass-Operation wiederhergestellt, aber ich war noch in der Wiederaufbauphase des Trainings. Der Vortrag sollte in einer Seniorenwoche „Aktiv älter werden“ stattfinden, und mir war klar, es gehört sich, daß der Laufreferent beim praktischen Laufteil, dem Mainzer Dreibrückenlauf, mitmache. Das war das Problem. Alle Mitläufer hatten Verständnis, daß ich die Strecke, wohl etwa 9 Kilometer, sehr zurückhaltend laufen würde. Doch ich konnte sie laufen.

 

Damals also lernte ich Thomas Schäfer kennen. Vielleicht sind wir uns auch schon Jahre zuvor zufällig begegnet. Er war im Jahr 2000 Projektleiter des ersten Marathons in Mainz, und ich habe daran teilgenommen. Es war heiß damals, und ich, knapp 74jährig, verschaffte mir etwas Erholung, indem ich nach der ersten Runde eine Gehpause einlegte (5:01:20). Zu einer Wiederholung der Teilnahme kam es leider nicht. Für den Marathon im vorigen Jahr übernahm Thomas Schäfer die Leitung, nachdem Friedel Dolhacz sein Amt hatte niederlegen müssen. Mit ihm, Dolhacz, hatte er den Marathon in Mainz begründet. Er habe den Marathon in Mainz wachgeküßt, äußerte sich der Sportdezernent poetisch.

Bei meinem Besuch im Jahr 2006 hatte ich den Eindruck, daß Thommie das, was er machte, voll in der Hand hatte. An Engagement ließ er es nicht fehlen. Er war durch und durch ein Läufer. Später sind wir uns in Biel begegnet; sechsmal hat er die 100 Kilometer bestritten.

Für einen, der schon aus geographischen Gründen nicht in den örtlichen Läufer-Alltag eingebunden ist, bleiben solche Begegnungen episodischer Natur. Im Hinblick auf Thomas Schäfer konnte ich mir jedoch gut vorstellen, mit ihm in einer Gruppe zusammenzuarbeiten. So wie ich ihn kennengelernt habe, war er ein sachbezogener Team-Arbeiter.

Wenn ich mich recht erinnere, war er Sozialarbeiter und stand im Dienst der Stadt Mainz. Über seine familiären Verhältnisse weiß ich nichts, außer daß er in Harxheim wohnte. Meine Informationen beruhen daher allein auf dem offiziellen und ziemlich späten Nachruf der Stadt. Thomas Schäfer ist nur 52 Jahre alt geworden. Wer ihn, zumal beim Laufen, kennengelernt hat, hatte sich einen frühen Tod nicht vorstellen können. Der Schock ist tief, die Trauer um einen kompetenten Mitstreiter verbreitet.

An dem Tage, an dem ich die Nachricht von seinem Tode las, ist Karl Kuhaupt gestorben. Sein Bruder Heinrich hat es mir zwei Tage später mitgeteilt. Jüngeren Läufern außerhalb des Waldecker Landes wird der Name Kuhaupt möglicherweise nichts mehr sagen.

 

Karl Kuhaupt lernte ich bei dem von Teutonia Lanstrup (Gerhard Niemeyer) organisierten Lauf auf der klassischen Strecke Marathon – Athen kennen. Ich bin ihn 1975 und 1976 gelaufen. Karl erzählte mir von Plänen, die seine Heimatstadt Arolsen erheblich aufwerten würden. Das Flüßchen Twiste werde gestaut, und unterhalb des Ortsteiles Wetterburg werde ein Stausee entstehen, der auch touristisch genützt werden solle. Karl berichtete mit großer Begeisterung, denn er hatte das Laufen entdeckt und strebte nun an, das Laufen in das touristische Konzept zu integrieren. Zusammen mit seinem jüngeren Bruder Heinrich hatte er 1975 einen Lauftreff in Arolsen gegründet. Fortan entwickelte sich ein lebhafter Kontakt zwischen Karl und mir. Karl war Postbeamter, was auch längere Telefongespräche nicht zu einem Problem machte, und er war Stadtrat. Das bedeutete, daß er über die Entwicklung aus erster Hand informiert war und dazu beitragen konnte, diese Entwicklung zu steuern.

Ihm schwebte nichts Geringeres vor, als Arolsen zum deutschen Ausdauersportzentrum zu machen. Denn er war, ganz im Sinne Dr. Ernst van Aakens, davon überzeugt, daß Laufen der Gesundheitssport schlechthin sei. Karl war der Typ des Gesundheitsläufers, sein Bruder Heinrich dagegen leistungsorientiert. Insofern ergänzten sich beide prächtig; einzubeziehen ist Heinrichs Frau Ingrid. Seit 1981 veranstalten Heinrich und Ingrid den Advent-Marathon, bei dem auch Karl, ebenso wie andere Mitglieder der Familie Kuhaupt, eine Helferrolle übernahm.

Karl Kuhaupt verstand es, weithin Interesse für seine Vorstellungen zu erlangen. Laufende Journalisten – davon gab es zu jener Zeit nur eine Handvoll – waren seine Bundesgenossen. Da ich Karl Kuhaupts Pläne als Läufer unterstützte, war ich ihm ein enger Ansprechpartner, und er lud mich mehrfach zu Besichtigungen und Veranstaltungen ein. Nicht immer konnte ich dem folgen, leider auch nicht 1977 zur bundesweiten Eröffnung der Trimm-Trab-Saison in Arolsen, wo Emil Zatopek den inzwischen ins Läufer-Zitaten-Lexikon eingegangenen Spruch tat: „Vogel fliegt, Fisch schwimmt, Mensch läuft“. Dagegen durfte ich die von den Kuhaupts sorgfältig und verläßlich markierte Marathonstrecke ausprobieren und an den „100 Kilometern in drei Tagen“ teilnehmen. Dank der Aktivität Karl Kuhaupts findet seit 1989 in Arolsen die von der IG(Ä)L und dem DVLÄ getragene Ausdauersportwoche statt, dazu mit Hilfe von Ingrid und Heinrich Kuhaupt seit 1976 der Twistesee-Volkslauf, der Triathlon, der Silvesterlauf. Ausgetragen wurden hier die Europameisterschaft der Senioren in 10 und 25 Kilometern, die Hessische Marathon-Meisterschaft und der Arthur-Lambert-Gedächtnis-Lauf. Außer vielfältigen Laufstrecken, darunter einer Cooper-Teststrecke, ist auch eine Finnenbahn über 1000 Meter eingerichtet worden.

Achtmal konnte ich am Advent-Waldmarathon teilnehmen, das letztemal im Jahr 2007. Ich erinnere mich an meine letzte Begegnung mit Karl Kuhaupt: Obwohl ich in einer leistungsschwachen Gruppe ganz offiziell eine Stunde früher starten durfte, gehörte ich, 81jährig, zu den letzten Läufern. Wenige Kilometer vor dem Ziel wartete Karl mit dem Auto und bot mir an, mich nach Arolsen zu fahren. Es versteht sich, daß ich das ablehnte und das Finish aus eigener Kraft bewerkstelligte (6:33:01 Stunden; beim letzten Advents-Marathon 2009 sind auch noch 7:39:04 gemessen worden). Karls Angebot machte mich nachdenklich; es schien mir ein Symptom dafür zu sein, daß er sich vom Laufen gänzlich zurückgezogen hatte.

Zu jener Zeit hatte Karl Kuhaupt all seine Aktivitäten resigniert eingestellt. Seine Vorstellungen konnten nicht verwirklicht werden. Er hatte nach den Sternen gegriffen, so wie ich auch mit der Idee eines Laufmuseums in Bad Arolsen, und mußte erfahren, daß die kleine ehemalige Residenzstadt Arolsen schwerlich das geeignete Pflaster dafür war. Die Tatsache, daß Heinrich und Ingrid den Waldmarathon von der Adventszeit in die warme Jahreszeit verlegt haben, weil sie die Miete für die Twisteseehalle nicht hätten bezahlen können, ist nur das jüngste Zeichen mangelnder kommunaler Unterstützung.

Karl Kuhaupt hatte sich zunächst dem Wandern zugewandt, war dann jedoch in seiner Fortbewegung behindert. Ganz sicher entbehrte er nun auch der Motivation für die Aktivitäten, die ihn früher ausgezeichnet hatten. Auch wenn diese aktive Lebensphase schon länger zurückliegt, werden ihn diejenigen, die ihn damals erlebten und unterstützten, nicht vergessen. Es lag nicht an Karl Kuhaupt, daß „das“ deutsche Ausdauersportzentrum Bad Arolsen nicht zustande kam. Als sein Lebenswerk bleibt, daß er zusammen mit Heinrich und Ingrid der Residenzstadt ein läuferisches Profil gegeben hat.

Am 13. Januar 2011, vier Wochen vor seinem 81. Geburtstag, ist Karl Kuhaupt gestorben. Lebensverlängernde Maßnahmen hatte er sich verbeten. Ich verneige mich voller Respekt und in tiefer Trauer vor einem der engagiertesten deutschen Laufpolitiker.

Eintragung vom 11. Januar 11

Es ist die Zeit, über das Körpergewicht zu reden. Mag ja sein, daß das Bedürfnis danach bei Läufern nicht so groß ist wie in den Redaktionen von Publikumsmagazinen. Doch vorhanden ist es auch bei Läufern. Sylvesterläufe haben ja nicht nur eine symbolische Funktion. Zumindest in der frühen Zeit ihrer Entstehung dienten sie zu einem Teil auch dazu, die vermehrte Nahrungszufuhr der Weihnachtszeit angeblich zu kompensieren. Auch manche privaten Long Jogs in Vereinen sind als „Gänsebratenvernichtungsläufe“ ausgegeben worden.

Mich selbst hat das Jahrzehnte lang nicht sonderlich interessiert. Im Spätherbst habe ich zwar immer an Gewicht zugelegt; aber diese Zunahme betrug wenig mehr als ein Kilogramm, und im Frühjahr verschwand dieses Kilogramm ebenso unauffällig, wie es sich eingestellt hatte. Ich mußte mir überhaupt keine Sorgen machen. Zuweilen, nämlich in Zeiten hoher und dichter Laufbeanspruchung – ich denke zum Beispiel an die Teilnahme an einer 100-km-Meisterschaft und eine Woche später den Start zu einem Dreieinhalbtagelauf entlang der Donau von der Schlögener Schlinge nach Hainburg östlich von Wien –, sank das Körpergewicht um fast 10 Prozent. Es waren Wochen, in denen mich Außenstehende als schlecht aussehend bezeichneten. In Wahrheit fühlte ich mich völlig wohl. Ich war bei weitem nicht der einzige Läufer, dem die Fehleinschätzung widerfuhr.

Über die Jahre pendelte mein Körpergewicht zwischen 60 und 62 Kilogramm, dies bei einer Körperlänge von damals 1,65 Meter. Vor wenigen Jahren noch, als ich mein Gesundheitsprofil durch die Website meiner Krankenkasse bestimmen wollte, warnte mich die kassenärztliche Stimme vor drohendem Untergewicht. Meine Körperlänge hat sich in den letzten Jahren um etwa einen Zentimeter reduziert, mein Körpergewicht auf 62,5 Kilogramm, in der Weihnachtszeit 2005 auf maximal 63,4 Kilogramm, erhöht. Mein Body Mass Index betrug etwas über 23. Ich stellte mich zwar täglich auf die Waage, aber ich würde das nur als narzißtischen Ritus bezeichnen.

 

Runner’s World hat sich gedreht. Das Jahr 2007 war das letzte volle Läuferjahr – mit neun Wettkampfteilnahmen, einschließlich 100 Kilometern in Biel und Marathonzeiten von 5:31 in Berlin und München. Bemerkenswert deshalb, weil ich mich im Jahr zuvor einer Bypass-Operation unterziehen mußte und dennoch den Anschluß an die Läuferkarriere wiedergefunden habe. Im Jahr 2008 deutliches Klopfen an die Tür: Noch legte ich die 100 Kilometer zurück; doch beim Supermarathon des Rennsteiglaufs reichte es nicht einmal mehr zu einer ordentlichen Zeitnahme beim Ausstieg am Grenzadler (54,7 km). Den Berlin-Marathon legte ich noch mit Ach und Krach, jedoch überwiegend trabend zurück. Rückblickend: Es war mein letzter Laufmarathon.

Im Jahr 2009 nahm ich an nur drei Marathonläufen teil, und zwar als Geher. Ein wenngleich kurzer Krankenhaus-Aufenthalt wegen eines urologischen Eingriffs führte zu einem Trainingsausfall. In Biel konnte ich daher nur die erste Hälfte zurücklegen.

Im Jahr 2010 verlängerte ich die Bieler Strecke zwar bis Kilometer 76, aber es reichte eben nicht für die 100 Kilometer. Auch im Training habe ich mich von einem Läufer in einen Geher verwandelt. Der frühe Wintereinbruch im Herbst 2010 war auch nicht dazu angetan, vernünftig zu trainieren und Pläne für dieses Jahr zu fassen.

Die Reduktion des Trainings sowohl in der Kilometerzahl als auch in der Qualität machte sich in der Zunahme des Körpergewichts bemerkbar. Dieses Phänomen wurde durch ein zweites überlagert. Ein Leben lang war ich schlank gewesen. Doch im Alter von über siebzig beobachtete ich, daß sich ein Bauchansatz einstellte. Wenn ich darüber klagte, wurde ich sofort vehement beruhigt. Ach was, ich hätte doch keinen Bauch... Mag sein, aber eines Tages hatte ich ihn. Eine Hose nach der anderen wurde zur Änderungsschneiderin gebracht. Im letzten Herbst war die Gewichtszunahme stärker als je zuvor. Im April 2010 hatte ich mein Gewicht noch mit 62,5 Kilogramm angeben können. Dieser Tage, also nach der Weihnachtszeit mit Leckerbissen und Süßigkeiten (Todsünde eines Vollwertköstlers!), das erschreckende Maximum: 65 Kilogramm. Dank wieder zunehmendem Training konnte ich den Anstieg aufhalten, ja sogar ein wenig reduzieren. Die 65 Kilogramm sind zwar noch keine Katastrophe gewesen, schließlich hatte ich als junger, jedoch nicht laufender Mensch schon soviel gewogen, aber der nachdenkliche Blick auf die Waage ist der Anlaß dieser Betrachtung.

Wen – außer mir – interessiert das eigentlich? Ich meine, mit meinen persönlichen Daten Aufmerksamkeit beanspruchen zu dürfen. Zwei Drittel aller Männer sind übergewichtig oder adipös. Immer wieder einmal hatte mir der eine oder andere der um einige Jahre jüngeren Läufer gesagt, er verfolge meine (sich nach unten neigende) läuferische Entwicklung genau, wolle er doch wissen, was ihm bevorstehe. Nun, im 85. Lebensjahr, kann ich ziemlich präzise erwidern: Mit der Einschränkung der sportlichen Leistung und der Reduktion des Trainings wächst das Körpergewicht. Sicher kann man – in meinem Falle – auch mit 65 Kilogramm noch unbesorgt leben (BMI 23,8). Doch für das zweite Phänomen, die Herausbildung eines Bauches, habe ich noch keine präzise Erklärung und vor allem kein Gegenmittel. Als jüngerer Läufer hatte ich den Bauch, den ich bei Altersläufern erblickte, auf den Rückgang der sportlichen Leistung zurückgeführt. Doch diese Erklärung reicht nicht. Auch meine Mutter, nicht laufend, war ein Leben lang schlank, erst als sie die achtzig Lebensjahre überschritten hatte, bekam sie einen Bauch. Ich hielt mich mit meinem Bewegungstraining für gewappnet.

Nun muß ich einsehen, daß Laufen und Walken vor dem Altersbauch nicht bewahren. Wenn ich andere, jüngere Läufer beraten sollte, würde ich dringend das empfehlen, was ich versäumt habe: Auch andere Sportarten zu treiben, um die Bauchmuskulatur zu trainieren. Denn als ich im Alter von 25 Jahren ebenfalls 65 Kilogramm wog, hatte ich nicht den mindesten Bauch.

Ein Zyniker würde kommentieren: Ein verpfuschtes Leben... Nein, nein, eine Altersdepression überkommt mich deswegen nicht. Tatenlos freilich will ich der Bauchentwicklung nicht zusehen. Auch wenn ich keinen Marathon mehr laufen kann, will ich doch weiterhin Herausforderungen annehmen. Sie stehen nicht unbedingt im Laufkalender, aber es gibt sie. Davon ein andermal.

Eintragung vom 4. Januar 11

Ein bundesweiter oder gar internationaler Verband zu sein, das klingt anspruchsvoll und enthält zumindest das Attribut des Repräsentativen. Doch mit dem Vereinsleben tut er sich vergleichsweise schwer. Wir, die Mitglieder der Deutschen Ultramarathon-Vereinigung, treffen uns zwar auf Laufveranstaltungen; aber selbst wenn diese wie bei Meisterschaften eng mit der DUV verwoben sind, kämpft jeder von uns allein. Nach dem Lauf nehmen wir vielleicht – vielleicht! – noch die Siegerehrung wahr und fahren so rasch es geht nach Hause. Nun gibt es zwar jährlich eine Verbandsversammlung; doch selbst wenn Wahlen sind, interessiert uns das im allgemeinen wenig. Diese Tendenz hat in den letzten Jahren wie überall eher noch zugenommen.

Dennoch besteht das Bedürfnis nach – nennen wir es einmal so – Geselligkeit, nach einer Begegnung ohne die Anspannung eines Wettkampfes, ohne die Formalien einer spröden Tagesordnung. Das zeigt sich zum Beispiel an der Beliebtheit der Siegerehrungen beim Arolser Advents-Waldmarathon und beim Siebengebirgsmarathon. Beide Veranstaltungen sind im Dezember weggefallen.

Wie gut, daß es bei der DUV eine entspannte Gelegenheit der Begegnung gibt, die nächste dieser Art freilich erst wieder in fünf Jahren. Die DUV hat auf den Tag genau ihr 25jähriges Bestehen gefeiert. Um diese Jubiläumsfeier haben sich Sigrid und Harry Arndt verdient gemacht. Beide hatten für den 29. Dezember 1985 eine Anzahl Ultraläufer zur Gründungsversammlung einer Ultralauf-Organisation in ihr Haus in Rodenbach bei Hanau eingeladen. Und nun richteten sie im Waldstadion auch die Jubiläumsfeier aus.

Es war in der Tat eine völlig entspannte Feier, ohne die Startnervosität im Waldstadion, als sich etwa 50 Ultraläuferinnen und -Läufer zu einem Freundschaftslauf über die aus früheren Jahren bekannte 5-Kilometer-Runde trafen. Dennoch war alles – sonst würde man Harry Arndt schlecht kennen – professionell organisiert, vom Startschuß an, bei dem allerdings der Schütze, nämlich ich, übersah, daß man die Pistole entsichern muß, bevor man abdrückt, über die Wendemarke im Wald, die Posten an der Strecke bis zur ausgedruckten Einlaufliste. Es war ein hübscher Erlebnislauf durch den verschneiten Wald. 20 Teilnehmer legten 25 Kilometer zurück, die anderen 5 bis 20 Kilometer. Das Duschwasser im Stadion war erfreulich warm.

In aufgekratzter Stimmung versammelte man sich danach im Vereinsheim des Stadions. Von den 22 Gründungsmitgliedern des Jahres 1985 waren noch neun anwesend. Bedauerlich war, daß Dr. Karl Lennartz und Tochter Birgit, der Gründungsvorsitzende und die jahrelang beste deutsche Ultraläuferin, die Reise nicht antreten konnten. Harry Arndt gab einen ausführlichen Rückblick auf Gründung und Entwicklung der DUV, wobei er die kritischen Zeiten nicht aussparte, nämlich die Unterschlagung des Vereinsvermögens durch den Kassierer und die Spaltung durch den seinerzeit abgewählten Präsidenten. Mit dem Zuwachs an Mitgliedern, der unaufgeregten Präsidentschaft durch Dr. Stefan Hinze und der kürzlichen Bestellung von Dr. Stefan Weigelt zum Ultramarathonwart des DLV hat die DUV wieder Fuß gefaßt; Harry Arndt hatte Anlaß, sich optimistisch über die Zukunft zu äußern.

Persönlich eingeladen waren außer den Pionieren die sportlich und organisatorisch erfolgreichen Mitglieder der DUV. Harry Arndt hatte sich die Mühe gemacht, die individuellen Verdienste in einem informativen "Who is who?" zu würdigen. Hervorzuheben ist dabei Dietmar Beiderbeck, 43 Jahre alt, ein blinder Läufer, der den Bergmarathon bevorzugt; er hat nicht weniger als 100 Marathonläufe und 95 Ultraläufe bestritten, darunter den Swiss Alpine, den Zermatt- und den Jungfrau-Marathon, meistens begleitet durch Christoph Hoffmann. Wer diese Strecken kennt, kann ermessen, was Dietmar hier geleistet hat. Und weil man ja nie genau weiß, wie viele Marathons Horst Preisler gelaufen ist, die neueste Zahl vom 29. Dezember: 1713 sind es gewesen, nach wie vor Weltrekord. Festhalten sollte man auch, daß unter den 22 Gründungsmitgliedern auch zwei Ärzte waren: Dr. Bernd Holstiege, der sich später einen Namen als Ultra-Triathlet gemacht hat, und Dr. Heiner Gaebell, dem mit Frau Franziska, eine zwanzigfache Biel-Finisherin, im Waldstadion das leibliche Wohl am Herzen lag. Das damalige Engagement der beiden Ärzte, denen später eine ganze Anzahl folgte, hat ganz sicher dazu beigetragen, daß die medizinischen Vorurteile, denen der Ultralauf bis zum heutigen Tage begegnet, eine Randerscheinung geblieben ist.

Nun ist aus meiner Eintragung ein Vereinsbericht geworden; doch ein Jubiläum mag dies entschuldigen.

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