Laufen, Schauen, Denken

Sonntags Tagebuch

Eintragung vom 29. September 15

Sollte es Lauf-Verächter geben, die sich zudem darüber beschweren, daß sie das öffentlich-rechtliche Fernsehen mit einer Marathon-Übertragung am Sonntagvormittag langweile – Argument: „…ist doch immer dasselbe!“ –, so hätte ich nun eine Antwort. Fast fünfzig Jahre beobachte ich die Laufszene, Dutzende von Laufschuhen habe ich getragen, unzählige Laufschuhe habe ich real und auf Laufbildern gesehen; doch was ich am Sonntag bei der Übertragung des Berlin-Marathons geboten bekam, ist auch mir neu gewesen. Einem Läufer hingen die Einlegesohlen aus den Schuhen.

Weder ist mir so etwas passiert noch habe ich das bei anderen beobachtet. Versteht sich, daß wohl jeder, dem dies passiert wäre, die Einlegesohlen vollends herausgezogen und weggeworfen hätte. Doch dieser Läufer erklärte, er habe dazu am Sonntag keine Zeit gehabt. Was man verstehen kann. In den wenigen Sekunden hätte er vermutlich erst seine Gruppe verloren, dazu seinen Laufrhythmus, später seinen Vorsprung. Bei ihm kam es wirklich auf jede Sekunde an – es war der Sieger, der beim Berlin-Marathon die Jahresweltbestzeit gelaufen ist, Eliud Kipchoge (2:04:00).

So wird dieser Lauf nicht so sehr allein wegen seines Ergebnisses in die Laufgeschichte eingehen, sondern deshalb auch, weil der Sieger des Berlin-Marathons 2015 ungefähr zwei Stunden lang mit wehenden Sohlenflügeln gelaufen ist. Dies trotz Druckschmerzen und härterem Auftritt.

Irgend jemand wird sicher die Antwort auf die Frage finden, wieso es geschehen konnte, daß sich die Einlegesohlen aus der vorgesehenen Position lösten und sich selbständig machten. Die Frage liegt nahe, ob denn Kipchoge das Schuhwerk nicht probiert und eingelaufen habe. Das wird doch schließlich in jedem Marathon-Anleitungsbuch geraten. Offenbar hat er tatsächlich die Schuhe im Training getragen. Da verhielten sich die Einlegesohlen aufgabengerecht.

Wem also das Rennen Eliud Kipchoges in der Fernsehübertragung nicht spannend genug war, der konnte immerhin wegen der Sohlen fiebern: Würde er womöglich stolpern? Würden sich die Sohlen vollends lösen? Würde er sie auf der Strecke herausziehen müssen?

Spannend auch, ob deutsche Läufer die Olympia-Qualifikation erreichen würden. Philipp Pflieger (LG Telis Finanz Regensburg) hätte sie geschafft, wenn er nicht Deutscher wäre. Er lief 2:12:50 – der DLV jedoch hat die Qualifikation bei 2:12:15 enden lassen. Zu Recht hat Pflieger darauf hingewiesen, daß die beiden Belgier, mit denen er am Brandenburger Tor um Platz 15 gespurtet sei (2:12:49 und 2:12:51), sehr wohl nach Rio fliegen dürften, ebenso wie ein Schweizer (2:13:57).

Meine dritte Anmerkung: Die Fernsehübertragung ist von der ARD besorgt worden. Mir hat gefallen, daß sie nicht nur das Rennen der Spitzengruppen gezeigt hat, sondern Eindrücke der Massenveranstaltung bis hin zum Besenwagen vermittelt hat. Gemeldet waren über 41000 Läufer. Ins Ziel kamen 36820, die letzten nach über 7 Stunden. Die Altersklasse M 80 war mit fünf Teilnehmern besetzt; die Spitzenzeit lief der Däne Poul Jensen mit 3:58:23. Damit war er 23 Sekunden schneller als der Spitzenmann der 61 Läufer in M 75. Die nun 75jährige Sigrid Eichner – Glückwunsch zum Geburtstag! – schaffte es auf den zweiten Platz der acht Läuferinnen der F 75 in 4:57:59.

Zum Moderatoren-Dialog wurde Dieter Baumann gebeten. So sympathisch er in seinem Auftreten auch ist, – zweifelhaft bleibt mir, weshalb ihn sein Profi-Kollege als Marathon-Experten bezeichnete. Marathon-Experte wird man auch nicht als Olympia-Sieger auf 5000 Metern, und man ist es nicht schon, wenn man es mal mit dem Marathon probiert hat. Auch ohne Übertreibungen ist ein Marathon wie der von Berlin spannend.

Eintragung vom 22. September 15

Aus der Hängeregistratur die Mappe „Fett“ herausgezogen und im Inhalt geblättert. „Die sehr einfache Botschaft heißt: Meide Fett, wo immer Du Fett erkennst und bevorzuge fettreduzierte Lebensmittel wie Halbfettmargarine, Milchhalbfett, magere Wurst und Käsesorten; davon gibt es heute schon ein breites Angebot im Lebensmittelhandel.“ Das ist die Empfehlung, die der damalige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, Prof. Dr. med. G. Wolfram, im Jahr 1995 verbreitet hat. Prof. Dr. med. H. Greten, Hamburg, pflichtet bei: „Die Wissenschaftler haben die Zusammenhänge aufgeklärt und bewiesen, daß eine fett- und cholesterinreiche Ernährung mit dem Risiko des frühen Infarktes behaftet ist. Jetzt sind allen voran die Politiker und die Massenmedien aufgerufen, der Bevölkerung zu sagen, was Sache ist.“

Die Massenmedien machen das, was man ihnen sagt. Prof. Dr. Volker Pudel (1944 – 2009) hatte ihnen gesagt: Fett reduzieren, wo immer es geht! Für Abnehmwillige – das ist im Prinzip fast die gesamte Bevölkerung der Industriestaaten – empfahl er 1996 seine „Pfundskur“. Danach sollten die Kurteilnehmer die Menge ihres Fettverzehrs in „Fettaugen“ berechnen. Die AOK Baden-Württemberg und Sachsen machten sich zu Sprechern der Pudelschen „Pfundskur“. Ich schrieb damals dem Leiter meiner regionalen AOK einen Protestbrief. Der Sender SDR 1, „Fit for Fun“ und andere Zeitschriften ließen sich willig für die Pfundskur aktivieren. Angeblich gab es damals Pfundskur-Milch, Pfundskur-Käse, Pfundskur-Wurst, und in Betriebskantinen und Restaurants standen Pfundskur-Gerichte auf der Speisekarte. Denn, wie es in dem Nachruf auf Professor Pudel hieß, „alle seine Programme profitierten zudem von der medialen Strahlkraft ihres Erfinders“. Vorbei.

„Die Bilanz nach etwa 10 Jahren zeigt: hat alles nix genützt“, schrieb die schweizerische Zeitschrift „Fit for Life“ schon im Jahr 2003. „Der Fettkonsum sank zwar um 10 Prozent, derweil ist die Zahl der Übergewichtigen aber gestiegen und die gefürchteten Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind nicht rückläufig. Mittlerweile tönt es aus wissenschaftlichen Kreisen ungewohnt selbstkritisch: Nicht mehr Low-Fat ist angesagt, sondern Moderate-Fat. Heißt soviel wie vernünftiger Umgang mit Fett, von den einen Fetten weniger, von den anderen hinreichend.“

Statt des Fettverzichts wird die „Low Carb“-Ernährungsweise, die Einschränkung des Kohlenhydrate-Verzehrs, empfohlen. Wieder überschlagen sich die entsprechenden Medien. „Fit for Fun“, als habe es sich nie für die „Pfundskur“ stark gemacht, schreibt: „Kohlenhydrat-Bomben wie Pasta oder Brot werden komplett vom Speiseplan gestrichen. Dafür stehen um so mehr Gemüse, Milchprodukte, Fisch und Fleisch auf dem Einkaufszettel.“ Wieder ist zu befürchten, daß, wie beim einst geradezu verteufelten Fett, alles in einen Topf geworfen wird. „Weniger Kohlenhydrate“ sollte vor allem bedeuten, „leere“ Kohlenhydrate zu vermeiden. Es versteht sich, daß man in einen Ausdauerwettbewerb mit gut gefüllten Glykogen-Speichern geht und sich in einem Marathon oder Ultramarathon, ausgenommen die extremen Strecken, nicht mit fett-, sondern mit kohlenhydratreicher Nahrung verpflegt.

Ich sehe jedoch bei der „Low Carb“-Welle wieder die Gefahr der Einseitigkeit, nebenbei auch – das ist sogar das erklärte Ziel – eine Steigerung der Eiweißzufuhr. Doch das ist ein anderes Thema.

 

Wieder fühle ich mich in der Ernährungsform der „vitalstoffreichen Vollwerternährung“ bestätigt. Als ich 1982 Dr. med. Max Otto Bruker (1909 – 2001) kennenlernte, lag von ihm bereits die Kleinschrift vor „Fett macht nicht fett. Die Fettsucht kein kalorisches Problem“. Einige Kernsätze darin lauten: „Es ist nicht nur die gesamte Presse, voran die Illustrierten, sondern auch Fernsehen und Rundfunk, die seit Jahrzehnten glauben machen wollen, daß der Übergewichtige eben deshalb zu dick sei, weil er zu viel und vor allem zu viel Fett esse. Es sind auch die Vertreter der herkömmlichen Ernährungsphysiologie, die es als die Lösung des Fettsuchtproblems ansehen, daß der Dicke eben kein Fett essen soll, da Fett fett mache.“ Es gebe unter den ernährungsbedingten Zivilisationskrankheiten kaum ein besseres Beispiel als das Problem der Fettsucht, um zu zeigen, wie ganze Völker jahrzehntelang mit falschen Parolen (Fett macht fett) irregeführt werden können.

An anderer Stelle weist Bruker auf die Ansicht des Quantenphysikers und Nobelpreisträgers Max Planck hin: Irrlehren der Wissenschaft brauchen fünfzig Jahre, bis sie durch neue Erkenntnisse abgelöst werden. Es müssen nämlich nicht nur die alten Professoren, sondern auch deren Schüler aussterben. Für die Fett-Theorie sind offenbar die fünfzig Jahre vorbei.

Eintragung vom 15. September 15

Die täglichen Bilder von Flüchtlingen wecken bei uns Älteren Erinnerungen. Es gab eine Zeit, da waren „die Deutschen“ auf der Flucht. Ich denke jetzt nicht an das, was ich gelesen habe: von den Trecks aus Ostpreußen über das Eis der Ostsee, dem Untergang der „Wilhelm Gustloff“, von dem „Todesmarsch“ aus Brünn und den anderen blutigen Vertreibungen. Ich denke an meine eigenen Fluchten – ich muß den Plural benützen und bin damit nicht der einzige. Schon fällt mir das Schreiben darüber schwer; ich habe in meinen alten Aufzeichnungen gelesen.

War nicht mein dreiviertel Jahr bei der deutschen Wehrmacht nach der Ausbildung eine einzige Flucht, nämlich ein einziger Rückzug von den Karpaten bis nach Böhmen? Wenn ich mein Tagebuch, das eines Neunzehnjährigen, lese, kann ich mich nur wundern, daß ich alles überlebt habe – eine Welt, in der Töten Lebenszweck zu sein schien, den Granatsplitter unterm Auge, der um wenige Millimeter mein Augenlicht verfehlte, die beiden Granatsplitter in den Beinen – und ich konnte 21 Jahre später unbeschadet mit dem Lauftraining beginnen! Dreimal im Transportzug nach Sibirien und dennoch im September 1945 aus Gefangenschaft heimgeschickt zu werden! Und selbst auf dem Dreitagemarsch und einer Bahnfahrt hatte ich Glück – ich setzte mich auf ein Brett, das über die Puffer eines Güterwaggons gelegt war, schlief ein und wachte während der Fahrt auf, ohne heruntergefallen zu sein. Die Schwester meiner späteren Frau war nach Böhmen geflohen; auf der Flucht stürzte sie von einem Lastwagen des Flüchtlingstrecks und wurde vom nächsten Lastwagen tödlich überfahren. Der Tod war immer nahe.

Ich erreichte meine Heimatstadt Görlitz; meine Eltern wohnten etwa 200 Meter von der Neiße entfernt – auf der diesseitigen Uferseite, sonst wäre eine weitere Flucht fällig gewesen. Ich erlebte sie in den folgenden Monaten bei anderen, die an unserem Haus vorbeizogen, Gruppen des Elends. Eine Familie klingelte: Ob sie bei uns im Korridor schlafen dürften? Eltern und zwei Kinder waren mit Gepäck und Schlafgelegenheiten irgendwo in Schlesien aufgebrochen und hatten sich nach Görlitz durchgeschlagen, sogar ohne von Polen gefilzt worden zu sein. Von Görlitz aus konnten sie dann die Reichsbahn benützen; denn in der überfüllten und unversorgten Stadt durften sie nicht bleiben; sie konnten in Thüringen Fuß fassen.

Meine 75jährige Großmutter und ihre jüngste Tochter wurden aus dem Riesengebirge nach Hessen „umgesiedelt“; das bedeutete: sie konnten Handgepäck mitnehmen und wurden nicht geplündert. Drei Jahre später besuchten wir sie, meine Mutter und ich. Die Reise war eine Flucht vor der Grenzpolizei, denn aus der Sowjetzone durften wir nicht in den Westen einreisen. Im Schulatlas hatte ich nachgesehen, wo man auf kürzestem Wege von der letzten Reichsbahnstation die grüne Grenze überqueren konnte. Wir brauchten dann nur den Dutzenden von Menschen zu folgen, die illegal die Besatzungszone wechselten. Bei der Rückfahrt auf einer anderen Route dagegen unterlief mir ein Fehler. Wir blieben eine Station zu weit im Zuge sitzen; die Grenzpolizei hielt uns fest und übergab uns der amerikanischen Besatzungsmacht. Wir wurden verhört und nach drei Tagen dorthin abgeschoben, wohin wir ohnehin gewollt hatten, auf die Reise nach Hause, nicht ohne daß wir noch die Baracken fegen und den Zwangsaufenthalt bezahlen mußten.

Dann 1952 die Übersiedlung in die Bundesrepublik. Gut, ich fuhr in Berlin aus dem Ostsektor mit dem Fahrrad über die Friedrichstraße zum Halleschen Tor im amerikanischen Sektor; dennoch, es war eine Flucht. Von der Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 bis zum Juni 1990 hatten 3,8 Millionen Menschen das Land verlassen (diejenigen, die vorher gegangen waren, sind nicht beziffert), 56 Prozent aus politischen Gründen. Ich war nun frei, hatte aber nichts zu essen. Die Ersparnisse waren, zumal in Anbetracht des Umtauschkurses, bald aufgebraucht. Die Vermieterin des möblierten Zimmers, das ich mir genommen hatte, kündigte das Mietverhältnis, weil ich im Zimmer auf dem Spirituskocher eine Suppe gekocht hatte. Kontakte zu Redaktionen ließen sich schwer an. Niemand hatte auf uns gewartet, geschweige denn daß wir mit Beifall empfangen worden wären. Im Gegenteil, uns schlug Distanziertheit, wenn nicht Mißtrauen entgegen. Das Sozialamt konnte nichts für mich tun, war mir doch wie den meisten Republikflüchtigen kein Flüchtlingsausweis zuerkannt worden. Die Alternative wäre der Lageraufenthalt gewesen. Mag sein, daß wir Republikflüchtigen es leichter hatten, weil wir dieselbe Sprache, wenn auch nicht denselben Dialekt sprachen; materiell jedoch ging es uns schlechter als den Flüchtlingen heute. Wir waren geduldet, mehr nicht. Keine Wohltätigkeitsspeisung, keine Tafel, keine Kleiderkammer, keine Krankenversicherung, nichts. Selbst als es mir dann einigermaßen gut ging, setzte sich das fort. Für das Reihenhäuschen auf Erbpachtbasis, das meine Frau und ich 1966 erwarben, mußten wir „Nei‘geschmeckte“ an die Gemeinde einen sogenannten Folgelastenbeitrag von 5000 Mark zahlen. Vermutlich erst 1989 ist der Masse der Bundesbürger wohl klar geworden, daß wir DDR-Flüchtlinge größtenteils nicht der fehlenden Bananen wegen das Land verlassen hatten. Erst nach einigen Hundert an der Grenze Erschossenen und dem Freikauf von DDR-Bürgern schien unsere „Flucht“ gerechtfertigt.

Haben die Deutschen seither den Umgang mit Flüchtlingen besser gelernt? Schon wird in der Laufszene den heutigen Flüchtlingen, vor allem Syrern und Afghanen, in verschiedenen Orten wie Ulm angeboten, sich durch Teilnahme an Laufgruppen in unsere Gesellschaft zu integrieren. Als in den sechziger und Anfang der siebziger Jahre „Gastarbeiter“ vor allem aus Italien und Spanien zu uns gekommen waren, schlug ich dem Leiter meiner damaligen Laufgruppe, später jahrelang Bundeslauftreffwart des DLV, vor, sie in den Turn- und Sportverein zu integrieren. Er entgegnete mir, die Hallenplätze reichten schon jetzt nicht mehr aus. Obwohl ihn längst der kühle Rasen deckt, meine ich, seine Haltung zu Menschen, die ihre Heimat aufgaben, nicht vergessen zu sollen. Irgendwie scheint sie mir symptomatisch zu sein für die Deutschen von einst.

Seither hat sich in Deutschland wohl ein Reifungsprozeß ereignet, ermöglicht durch wirtschaftliches Wachstum, befördert durch widerliche Angriffe von extremen Rechten. Vielleicht geht es uns so gut, daß wir uns nun den Luxus einer wohlgefälligen Ethik leisten können.

Eintragung vom 8. September 15

Wenn ich mir vor Augen führe, was und wieviel Läufer über das Laufen schreiben, komme ich zu dem Schluß, daß Läufer nicht nur beim Laufen, sondern auch beim Schreiben fleißig sind. Zwar dürfte nur der kleinste Teil davon in die Literatur eingehen, aber wohl kaum ein anderer Sport hat so viele Autoren wie der Laufsport. Ja, es scheint, als sei jeder, der einige Marathons oder den einen oder anderen Ultralauf bestritten hat, ein potentieller Laufautor. Es muß wohl an der Art des Sports liegen. Er fordert von unserer Psyche soviel ab, daß sie aufs höchste aktiviert wird; es drängt uns, das was wir beim Laufen empfinden und erleben, auch zu artikulieren. Und Schreiben ist nun einmal die für viele einfachste und daher am meisten verbreitete Kulturtechnik.

Das digitale Zeitalter hat ermöglicht, daß jeder, der schreibt, seine Auslassungen ohne nennenswerten Kostenaufwand auch verbreiten kann. Die Zahl der Läufer-Websites ist unüberschaubar. Es ist anzunehmen, daß die auf diese Weise mitgeteilten Berichte und Reflexionen jeweils zumindest eine kleine Anzahl Leser finden, was wiederum die Schreibaktivität verstärken dürfte.

Seit einigen Monaten steht im Netz ein kleines Buch „Einmal war ich in Biel – Eine Liebeserklärung an das Laufen, die Liebe und das Leben“. Es verdient in zumindest zweifacher Hinsicht eine Betrachtung. Im allgemeinen haben e-books eine Druckfassung; das gedruckte Buch wird dann in einem zusätzlichen Verbreitungskanal oder als zusätzlicher Service ins digitale Netz gestellt. Mit einem Lesegerät kann es der Rezeptor aufnehmen. Oder aber es wird zumindest in Teilen ausgedruckt. Es gibt jedoch auch spezielle e-book-Verlage, die ihre Produkte allein auf diesem Wege zugänglich machen. „Einmal war ich in Biel“ ist einzig digital zugänglich; gegen eine Gebühr von 9 € für das gesamte Buch oder 0,89 € für jedes der zehn Kapitel kann man es herunterladen (www.laterpay.net). Außer dem Text stehen auch einschlägige Videofilme zur Verfügung. Für Bieler Erstläufer bedeutet dies sicher eine realistische Hinführung zu den 100 Kilometern.

Das Zweite: Der Autor, Dr. Oliver Stoll, ist Sportpsychologe, Inhaber eines Lehrstuhls an der Universität Halle-Wittenberg, und wir wissen, daß gerade der Ultralauf sehr viel mit Psychologie zu tun hat. Bei etwa Kilometer 80 ist nicht das Training, sondern die Psyche der Schlüssel zum Finish. Wie erlebt ein Psychologe die 100 Kilometer? Was kann er uns raten? Das also sind Gründe, sich mit Stolls Auslassungen zu befassen.

Oliver Stoll ist 2014 die 100 Kilometer gelaufen. Er hat sich dabei von seiner Partnerin, Frauke Becker-Kopsch, auf dem Fahrrad begleiten lassen. Sie hat das Vorwort geschrieben, in dem sie Einblick in die Psyche des Partners vor dem Lauf gibt. „Eines Tages, da hast Du Dich geschüttelt, hinterfragt, Dich beobachtet, Ziele und Wünsche neu definiert. Du hast es getan: warst richtig mutig und entschlossen. Du hast Dein Leben geändert, neue Ziele und Herausforderungen angepackt. Du hast Angst vorm Laufen gehabt, vor den Veränderungen, dem Ungewissen. Trotzdem hast Du Deine Laufschuhe geschnürt, erst Neugierde, dann mit Freude, dann mit freudvoller Leidenschaft. Du hast das Laufen in Deinen Alltag, der anspruchsvoll und zeitintensiv ist, integriert. Du hast die positiven Veränderungen an Dir gespürt, Deine Leistungsfähigkeit verbesserte sich, Dein Körper veränderte sich und auch Dein Geist. Dein Umfeld nahm dies zu Beginn mit Erschrockenheit zur Kenntnis, mit Kopfschütteln, mit Suchtargumenten, Krisenmerkmalen eines älteren Mannes, Verrücktheit oder Verantwortungslosigkeit. Du hast Dich nicht beirren lassen. Du bist gelaufen.“

Die „Angst vorm Laufen“, das ist nicht so dahin geschrieben. Vier Wochen vor Biel ist Oliver Stoll in Eisenach zum GutsMuths-Rennsteiglauf gestartet, und alles ging schief. Am Grenzadler vor Oberhof schied er aus dem Rennen. Was als Vorbereitung auf Biel gedacht war, erwies sich subjektiv als Belastung. In den folgenden Wochen versuchte er, seine Niederlage intellektuell und mental aufzuarbeiten. Schon das mag für Ultra-Einsteiger lehrreich sein. „Was mir in dieser Zeit aufgefallen ist, ist die Tatsache, daß ich Zitate oder Texte, die ich ansonsten bei den mich inspirierenden Menschen bzw. Läufern finde – genau diese nicht finden konnte. Egal ob Dean Karnazes oder Tony Krupiczka oder auch Kilian Jornet, es gibt keine Zitate oder Textstellen, die sich mit dem Scheitern auseinandersetzen. Ist das vielleicht der aktuelle Zeitgeist?“

Der Bericht über den Lauf unterscheidet sich nicht grundsätzlich von dem, was Bieler Erstläufer zu Papier bringen. Aber vielleicht ist das ein Tip: Oliver Stoll hat mit seiner Radbegleiterin verabredet, daß er ihr alle 10 Kilometer eine SMS, bestehend aus fünf Wörtern, schicken werde. Wie viele Biel-Ultraläufer läßt er seine Gedanken schweifen – zurück in die Vergangenheit. Nach der Marathonstrecke erinnerte er sich an die achtziger Jahre, als er seinen ersten Marathon laufen wollte, und dann einen unter drei Stunden. „Eine Zeit in meinem Leben, an die ich mich nicht wirklich gerne zurück erinnere. Eine sehr, sehr dunkle Seite des Sports. Ich habe mich damals selbst zerfleischt, wenn ich einen Marathon nicht schneller gelaufen bin als beim letzten Mal. Medaillen landeten im Müll, Urkunden gingen in Flammen auf. (…) Drei ganze Jahre arbeitete ich daran, diese verfluchte 3-Stunden-Grenze endlich zu knacken. Drei ganze Jahre habe ich einen Trainingsaufwand betrieben, der an ein nicht-bezahltes Beschäftigungsverhältnis erinnert. Drei ganze Jahre lang habe ich auch immer wieder diese dusseligen Intervall- und Tempotrainingseinheiten durchgezogen… Ja, ja, ich weiß, nur so bekommt man die aerob-anaerobe Schwelle nach oben, nur so bekommst du Tempohärte auf die Distanz. Und das Ergebnis war eine 2:59:43. Und … ein weiteres Ergebnis war ein ,gebrochener Mensch‘. Ein Mensch, der plötzlich nicht mehr mit sich selbst klar kam.“ Ich denke, solche Worte eines Menschen, der zu reflektieren gelernt hat, werden manchem gut tun.

In Kirchberg hat sich Oliver Stoll eine Massage gegönnt. Den Ho-Chi-Minh-Pfad empfindet er als halb so schlimm wie häufig geschildert – „für einen geübten Trail-Läufer so etwas wie eine vierspurige Autobahn“. Den Sturz eines Läufers kommentiert der Psychologe: „Wenn man beginnt wegzudämmern und die Schritte beginnen flacher zu werden, dann wird es gefährlich. Das ist wohl die ,dunkle Seite‘ der Flow-Erfahrung. Irgendwann reguliert eben der präfrontale Kortex (unser Bereich, der für Problemerkennung und -analyse zuständig ist) seine Aktivität herunter. Man verliert die bewußte Wahrnehmung von Zeit und Raum, alles verschmilzt in der Wahrnehmung. Man befindet sich nur noch im Hier und Jetzt. Eigentlich ist das ja eine tolle Sache, aber es geht dann auch die bewußte Aufmerksamkeitssteuerung flöten. Auf Asphalt sicherlich immer noch machbar, hier auf dem Ho-Chi-Minh-Pfad fatal.“

Kurz vor Kilometer 70 dann „eine Wand von Schmerzen und Krämpfen“. Was macht da ein Psychologe? Die Schmerzen vergehen und kommen wieder. Oliver Stolls Empfindungen und Reaktionen unterscheiden sich nicht von denen anderer Läufer. Doch der Schilderung „Einmal war ich in Biel“ sind psychologische Links beigegeben. Die Texte sind zwar auch über die von Professor Stoll begründete Website „Die Sportpsychologen“ lesbar, aber welcher Läufer kennt die Seite?

Als die drei zentralen mentalen Werkzeuge bezeichnet der Psychologe die Fähigkeit, mit Bildern und Videos zu arbeiten, sich selbst instruieren und mit anderen Menschen kommunizieren zu können. Oliver Stoll schreibt: „Ich wußte vor dem Rennen schon soviel über das Rennen, daß mich kaum etwas überraschen konnte. Diese ,gesammelten Informationen‘ habe ich für mich strukturiert und in Vorstellungsbilder überführt. (…) Ich habe mir in der Woche vorher ein Drehbuch für ein – für mich optimales – Rennen zusammengeschrieben und dies dann in einen ,inneren Film‘ überführt, den ich mir dann täglich vor Augen geführt habe.“ Die Selbstinstruktion bedeutet, sich mutmaßlich kritische Situationen vorzustellen und Antworten darauf zu finden. „Ich war auf die Krise bei km 68 vorbereitet.“ Kommunikation hat in Biel bedeutet, „daß ich mindestens eine Person an meiner Seite wußte, der ich alles erzählen, alles mitteilen konnte, was mich gerade umtreibt, ohne dafür verurteilt zu werden, sondern eher im Gegenteil – die mich mit ihrer Sichtweise ,befruchtet hat‘“.

Ein weiterer psychologischer Text betrifft die Fähigkeit, Selbstgespräche zu führen, und den Ratschlag, Gedanken bewußt zu steuern, nämlich damit der beim Auftreten von Schmerzen naheliegenden Absicht, den Lauf zu beenden, entgegenzuwirken. In „Lieber Schweinehund“ setzt sich der Psychologieprofessor auch mit der Freud’schen Ich-Instanz auseinander. In einem Interview bestätigt der Ultramarathonläufer und Psychologe Michele Ufer: „Nur die ersten Kilometer läuft der Körper.“ Es gebe starke Hinweise aus der Sportmedizin, daß das Gehirn bei Ausdauerleistungen der leistungslimitierende Faktor sei und nicht, wie meist angenommen, die Muskeln beziehungsweise metabolische Prozesse.

Alles in allem: Auch wenn das e-book leider nicht den Anforderungen an ein Print-Buch entspricht – da müßte noch Hand angelegt werden –, ist es ein wertvoller Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem Ultramarathon.

Eintragung vom 1. September 15

Der Nachruf kommt spät. Erst nach vierzehn Tagen habe ich dem Newsletter von German Road Races die Nachricht vom Tode Carl-Jürgen Diems entnehmen können. Er, der Pionier der Lauftreffs, der Buchautor, der Schuh-Fachmann, der Funktionär, ist am 10. August im achtzigsten Lebensjahr in seinem Wohnort Berlin gestorben.

 

Nirgend woanders habe ich einen Nachruf gelesen. Es war in den letzten Jahren still um ihn geworden. War es seine Behinderung, die ihn die Öffentlichkeit meiden ließ? Oder war es seine Unbequemlichkeit, die ihm das eingetragen hat? Denn an seinem Profil hat es nicht gelegen. Er ist eine der prägenden Gestalten der deutschen Laufbewegung gewesen.

Carl-Jürgen Diem wurde am 14. Oktober 1935 in Berlin geboren; es war die Zeit, als sein Vater, der Sportpionier Carl Diem, sich mit der Vorbereitung der Olympischen Spiele 1936 in Berlin befaßte. Wie sein späterer Sportfreund Walter Schwebel schrieb, ersparte ihm seine Herkunft aus dem Professorenhause Carl und Liselott Diem keineswegs harte Kindheits- und Jugendjahre; einige Entwicklungsjahre verbrachte er außerhalb des Elternhauses. Dennoch, vom 10. Lebensjahr an begleitete er seinen Vater häufig auf dessen morgendlichen Waldläufen.

Erst nach dem Berufsabschluß als Elektrofeinmechaniker konnte er sich der Wissenschaft zuwenden. 1961 trat er als Physiker in das Chemie-Unternehmen Röhm GmbH in Darmstadt ein, eine Firma, die vor allem wegen des von ihr entwickelten Plexiglases bekannt geworden ist. Er war in der Materialprüfung und zuletzt im Personalwesen tätig.

In jener Anfangszeit, den sechziger Jahren, betrieb Carl-Jürgen Diem Sport wie viele andere, Handball, Feldhockey, Skilaufen, etwas Leichtathletik. In Volleyball und Leichtathletik erwarb er Übungsleiter-Lizenzen und war Übungsleiter im Schüler- und Lehrlingssport. In seiner Firma übernahm er 1963 die Leitung der Betriebssportgruppe. Zum Laufen fand er über eine Siegerehrung: „Das entscheidende Erlebnis hatte ich 1967, als ich in Höchberg/Würzburg eingeladen wurde, dort bei einem Carl-Diem-Volkslauf die Siegerehrung durchzuführen. Ich, damals 32 Jahre und eher kurzatmig als ausdauernd, hängte den flotten Alten die Medaillen um. Ich fühlte mich unwürdig und faßte den Entschluß, wieder regelmäßig zu laufen. Das Ziel war klar: fit und ausdauernd zu sein und möglichst Idealgewicht auf die Waage zu bringen. Den ersten Volkslauf absolvierte ich vier Wochen später.

Die 1974 entstandene LAUF-TREFF-Idee faszinierte mich. In der Anfangsphase war die Betreuung der Anfänger, zu denen auch meine Frau zählte, unbefriedigend. Ich wußte, wie es besser zu machen war. Aber sollte ich mich engagieren und mein eigenes Training hinten anstellen? Mein Ehrgeiz, zu beweisen, wie eine optimale Anfängerbetreuung und ein optimaler LAUF-TREFF aussieht, dominierte.“ („Warum Cooper Aerobics erfand“)

 

Carl-Jürgen Diem engagierte sich in dem 1974 von Heinrich Peters und Walter Schwebel in Darmstadt gegründeten Lauftreff und brachte seine Erkenntnisse und Vorschläge ein. Damit trug er erheblich dazu bei, daß sich der Darmstädter Lauftreff zum größten der Bundesrepublik entwickelte und vor allem, daß die Anfänger-Betreuung, die Organisation und zahlreiche Initiativen ihn zum deutschen Modell-Lauftreff werden ließen. Diems Funktionen im Führungsteam und von 1982 bis 1996 seine Leitung des Darmstädter Lauftreffs machten dies deutlich. Er war jeweils eine Zeitlang hessischer Lauftreffwart und hessischer Breitensportwart und übernahm 1985 die Funktion des Bundeslauftreffwarts beim Deutschen Leichtathletik-Verband. Er mag damit ebensowenig glücklich gewesen sein wie sein Vorgänger; nach fünf Jahren gab er diese Funktion ab

. Die Ausbildungsrichtlinien und die Trainingsziele für die deutschen Lauftreffwarte sind überwiegend sein Werk. Seine Äußerung, Lauftreffs seien keine Renntreffs, ist wohl zu einem geflügelten Wort geworden. Nach einer Erhebung Diems im Jahr 1989 erfüllten zu jener Zeit nur 10 bis 20 Prozent der etwa 2500 Lauftreffs die von Diem und Schwebel entwickelten Anforderungen. „Die Ursache dafür ist in der oft mangelhaften Qualität der Betreuer und deren nicht ausreichender Ausbildung zu suchen.“ („Hilf dir selbst: Laufe!“)

Frühzeitig befaßte sich der Physiker Diem mit der Beschaffenheit von Laufschuhen. Als amerikanische Schuhhersteller wie Nike Ende der siebziger Jahre ihr Heil in optimaler Dämpfung sahen, wetterte Diem dagegen. Die Dämpfung schlucke Energie und führe dazu, daß bei Fußfehlstellungen der Schuh niedergetreten werde. Aber auch Adidas kam mit seinem Hochpreisschuh, der ein billiges Elektronikelement zur Schritt- und Kalorienzählung enthielt, nicht ungerupft davon. Diems Schuhtests, in denen sich die präzise Gedankenwelt des Physikers widerspiegelte, waren lesenswert und wurden von den Herstellern beachtet.

Wie im Beruf war Carl-Jürgen Diem auch im Sport um stetige Qualifikation bemüht; fruchtbar wirkte sich sein Kontakt zu Professor Manfred Steinbach aus. In zahlreichen Veröffentlichungen, vor allem in der „Condition“, gab er sein Wissen weiter. In einer Zeit, in der man Laufbücher noch an den Händen abzählen konnte, schrieb er „Tipps für Laufanfänger“ (1981). Andere Bücher verfaßte er mit Hilfe von Fachautoren. Eines der wenigen Fachbücher auf diesem Gebiet und dabei wohl das erste deutschsprachige ist der „Laufschuh-Ratgeber“ (1989). Weitere Titel sind: „Laufen – Grundlage des Ausdauersports“, „Grundlage der Ausdauer: Walking“ und „Tipps für Ausgleichsgymnastik für Läufer, Walker, Nordic Walker“.

Zu Unrecht überschattet wurde sein Ruf, als er Prozesse zur Ehrenrettung seines Vaters anstrengte, dem die Nähe zu den Machthabern des Dritten Reiches vorgeworfen worden war. Auslöser dieser Vorwürfe war eine Rede, die der Sportpionier Carl Diem im März 1945 vor Einheiten des sogenannten Volkssturms, insbesondere Hitler-Jungen, gehalten hatte. Einer davon war der spätere Intendant des Deutschlandfunks und Chefredakteur des ZDF, Reinhard Appel, der die Durchhalte-Rede vierzig Jahre später öffentlich machte. Professor Karl Lennartz, Leiter des Carl- und Liselott-Diem-Archivs und SPD-Mitglied, bemühte sich zwar, zumal da Redenotizen vorliegen, um eine historisch korrekte Darstellung. Auch andere Kapazitäten wie der Philosophie-Professor Hans Lenk und der Sportwissenschaftler Professor Ommo Grupe stellten energisch in Abrede, daß Carl Diem ein Nazi gewesen sei. Aber die Gerichte, die Carl-Jürgen Diem bemühte, entschieden gegen ihn; die ehrenrührigen Behauptungen wurden nicht untersagt. Es kam im Verlauf eines offenbar geänderten „Mainstreams“ zur Umbenennung von Diem-Sporthallen, selbst des vom Deutschen Leichtathletik-Verbandes verliehenen Carl-Diem-Schildes und des Diem-Wegs an der von Carl Diem gegründeten Sporthochschule in Köln. Gegen die „Rufmordkampagne“ hatte Diem jr. bereits 1997 dadurch protestiert, daß er den Vorsitz der Kreisgruppe Darmstadt der damaligen Deutschen Olympischen Gesellschaft niedergelegt hatte und aus der DOG ausgetreten war. Ganz sicher ist über seinen nationalkonservativen Vater, der den Nazis allzu oft gefügig war, das abschließende historisch korrekte Urteil noch nicht gesprochen.

Carl-Jürgen Diem zog 2008 mit seiner Frau nach Berlin, wo seine beiden Kinder mit ihren Familien leben. Seine lebenslange sportliche Aktivität, auch als Triathlet, bewahrte ihn nicht vor einem Bandscheiben-Leiden, das ihn, wie Hans-Peter Seubert vom DOSB in seinem Nachruf schrieb, 2011 in den Rollstuhl zwang. „Dennoch“, so heißt es in dem Nachruf, „seine Lebensfreude und Neugier waren ungebrochen.“

Carl-Jürgen Diems Leistungen sind unter anderem mit dem Van-Aaken-Preis des Deutschen Verbandes langlaufender Ärzte und Apotheker und der Ehrenmitgliedschaft dieses Verbandes, der Sportplakette der Stadt Darmstadt und der Ehrenmitgliedschaft beim ASC Darmstadt gewürdigt worden.

Photos: Sonntag

Eintragung vom 25. August 15

Die Halunken haben gewonnen. Nein, hier beginnt keine Beschimpfung. Außerdem schreiben sie sich mit zwei L, weil sie aus Halle kommen. Die Schleichenden Hallunken sind eine Vierer-Staffel beim Berliner Mauerweglauf gewesen, und zwar eine, die nicht geschlichen, sondern den anderen vorausgelaufen ist (13:11:09 Stunden). Doch darauf kommt es hier nicht an. Da Staffeln einen Namen tragen müssen, verrät die Teilnahmeliste vielleicht einiges darüber, wie sich die Läufer einer Staffel sehen, welchen Geschmack sie haben oder welche Phantasie.

Der Mauerweg selbst scheint als Handreichung zur Namensgebung verstanden worden zu sein. Am 15. und 16. August sind nämlich die Mauerwegschleicher gelaufen, auch die Mauerweg-Steinläuse, die Mauersegler, die 4 Mauerblümchen und die Pankower Mauerläufer. Run down this wall ist sicher ebenfalls hier einzuordnen.

Eine weitere Namensquelle ist die Zugehörigkeit zu einem Verein, heiße er auch Flitz-Piepen; vier Flitz-Pieper (das erinnert an die Berliner Lauben-Pieper) legten die etwas über 100 Meilen zurück. Die Läufer aus Cottbus haben sich’s einfach und uns leicht gemacht; ihre Mannschaften hießen schlicht RBB-Laufbewegung Cottbus I, II und III. LRG Torpedo Berlin ist keine U-Boot-Werft, sondern ein Verein, der eine Mannschaft zum Mauerweglauf entsandt hat. Das WW Center Herford sind vier Frauen gewesen, Weight Watcher halt. Eine Staffel hat sich auch im Namen zum 1. FC Union Berlin bekannt. Die Moabiter Bären-Auslese hat weder mit einem Bärenwein noch einem Beerenwein zu tun, sondern mit dem Lauftreff Bärenbrücke Berlin. 4 for 100 ist von der LG Mauerweg erfunden worden. Obwohl ich mich in der Ultra-Laufszene etwas auszukennen vermeine, – die Kgl. Preussisch-Sächsische Ultravereinigung vermag ich nicht so recht zu lokalisieren; vielleicht frage ich mal bei der LG Mauerweg nach. Hupsis Lauftreff dürfte ebenfalls nur für Eingeweihte ein Begriff sein; mehr kann man bei Dirk Przybyllok auf der Website lesen.

Seriöse Staffelnamen dagegen lassen keine Zweifel aufkommen: Team Ärzte ohne Grenzen oder die Inklusionsstaffeln SCL 1, 2 und 3. Beliebt sind Berufe und Firmennamen, für die bei dieser Gelegenheit ein bißchen Reklame gemacht wird, wie bei einem Versicherungskonzern durch das Team Talanx II und III (Talanx setzt sich aus Talent und Phalanx zusammen). Das Team Triagnostik Chemnitz ist bei dem gleichnamigen Studio von Grit Richter zu Hause. Relais de France, eine beliebte Hotelkette, bietet offenbar auch Läufern Heimstatt. Das Zweier-Team DK-Schildkröten läßt nur die Frage nach der Bedeutung der Schildkröten, nicht jedoch der Nationalität offen.

Wer wohl verbirgt sich hinter den Finanzern? Erst beim Nachschlagen stellt sich heraus: SG BMF 07; das Bundesfinanzministerium ist also auch hier präsent. Die Lebensmitteltechnologencrew dagegen schenkt ebenso wie das Team Mecomeo 1 und 2 (ein Lebensmittel- und Nahrungsergänzungsmittel-Lieferant) reinen Wein ein. Auch das Team Axel Springer veranlaßt nicht gerade zum Rätselraten, zumal da diese Zehner-Staffel auch noch die schnellste war (13:05:10 Stunden). Das Team Karl Friedrich, ein Zweier-Team, das in 18:01:57 Stunden siegte, läßt die Wahl unter vielen Prominenten mit diesen Vornamen; ich entschließe mich, daß die Mauerwegläufer Karl Friedrich Friesen gemeint haben.

Nicht selten machen sich Läufer über sich selbst lustig. Einen Veteranenstammtisch+ – das + ist Bestandteil des Staffelnamens – hat es ebenso wie die Gurkenpower zum 100-Meilen-Lauf gedrängt, ja, im Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark trafen in der Geisterstunde gar die Weltraumjogger ein. Die Trümmertruppe erinnert mich daran, daß es seit 1980 in Berlin einen Verein namens Stolpertruppe gibt. Die B.E.S.T.ien haben möglicherweise mit dem Bremer Event Service Team zu tun. Mancher Name bedarf für Außenstehende der Interpretation, so mit Sicherheit die Schnellen Hellen aus der Meierei, nicht zu verwechseln mit Randolfs Schnelle Helle der Meierei Potsdam. Ich versuche es mal: Die Meierei gibt es wirklich, das Brauhaus Meierei liegt in Potsdam, Nauener Vorstadt, ein hübsches Ausflugslokal am Jungfernsee, beim Mauerweglauf Verpflegungspunkt 14, Kilometer 83; die schnelle Helle ist ein helles Bier, auf das man nicht allzu lange warten muß.

Halten wir uns also an die Meilenfresser, an die Horizontläufer oder die Stars & Sternchen. Wie der Staffelname Dr. Muskelkater entstanden sein könnte, kann ich mir vorstellen. Auch das Team Laktat3 scheint medizinischen Hintergrund zu haben, trägt jedoch den Namen eines Fahrradgeschäftes. Die Energiebündel wetteiferten in Berlin mit den Lust- und Laune-Läufern und den Unverwüstlichen. Der Staffelname Berliner Vollmond Marathon ist der Name einer Veranstaltung, die zwar nicht originär ist, aber in Berlin diesmal erfolgreich nachgeahmt wird. Das ist hier schon eine crazyfamily – ohne Zwischenraum bitte, denn es ist ebenfalls ein Eigenname.

Manchmal fragt man sich schon, was das alles mit Laufen zu tun hat. Die Läufer einer Staffel fragten also: Bin ich Läufer, oder was? Doch dann kamen die Schleusenläufer, die Grenzläufer, das Team Meldeläufer. 11 Läufer sollt ihr sein…, das kommt mir irgendwie bekannt vor, muß wohl von einer anderen Sportart sein. Matanja 1972 bleibt für mich ungeklärt.

Jeglicher Witz verblaßt jedoch vor dem ernsten Hintergrund des Berliner Mauerweglaufes. Eine Staffel betont das: Dank 1989 ein Team. Das wäre hier der passende Name an letzter Stelle, gäbe es nicht noch ein Team, das heißt: Besenläufer.

Eintragung vom 18. August 15

Wer wissen will, wie Cornelia Balke den Berliner Mauerweglauf bestritten hat, wird sie nicht finden. Zwar steht sie auf der Teilnehmerliste, aber eine Cornelia Balke wird man auf der Ergebnisliste nicht entdecken. Nicht, daß sie nicht angekommen wäre. Aber von Hennigsdorf an trägt Conny einen anderen Namen; sie, die Startnummer 119, hat die Startnummer 120, Karl Rohwedder, geheiratet. Auf der Ergebnisliste heißt Cornelia Balke folgerichtig Cornelia Rohwedder.

Die beiden Läufer – Mitglieder des 100 Marathon Clubs – hatten in Hennigsdorf nördlich von Berlin die Strecke verlassen dürfen und wurden im Standesamt getraut. Lange durfte die Zeremonie nicht dauern; es waren noch etwa 127 Kilometer zurückzulegen. Conny und Karl schafften es, und zwar Seite an Seite. Die gemeinsame Laufzeit betrug je 26:31:48 Stunden. Wenn man bedenkt, wie schwierig es ist, auf eine lange Strecke, auf einer Ultrastrecke gar, gemeinsam dieselbe Geschwindigkeit einzuhalten, kann man erwarten, daß die beiden laufend Vermählten auch geringere Schwierigkeiten meistern werden. Die Probe haben sie jedenfalls bestanden. Der Mauerweglauf jedoch zählt nun zu den relativ wenigen Veranstaltungen, die sich das Prädikat eines „Hochzeitslaufes“ anheften können.

Der vierte 100-Meilen-Lauf hat seinen Ruf bestätigt. Er ist ein wesentlicher Beitrag, Geschichte erfahrbar, besser: erlaufbar zu machen. In diesem Jahr galt das Gedenken der 1980 bei ihrem Fluchtversuch im Alter von 18 Jahren erschossenen Marienetta Jirkowsky. Die Finisher-Medaille trägt ihr Bild. Die Laufteilnehmer waren angeregt worden, einen Gedanken zu ihrem Mauertod auf einem Kärtchen niederzuschreiben und diesen Gruß an der Gedenkstele in Hohenneudorf (Kilometer 24) abzulegen. Die auf zwei Tafeln fixierten Karten sind dann zur Abschlußfeier gezeigt worden. Die Teilnehmer erhielten außer einem T-Shirt mit einem Motiv der East-Side-Gallery ein Mauerbröckchen.

Wiederum ist die Zahl der Mauerwegläufer gewachsen; am Start waren 292 Einzelläufer, 7 Zweier-Staffeln, 34 Vierer-Staffeln und 16 Zehner-Staffeln. Die Hitze setzte wohl allen zu; der Regen, der über Teilen der Strecke niederging, wurde eher als Erfrischung denn als Belastung empfunden. 212 Einzelläufer, davon 48 Frauen, sind in die Wertung gekommen. Der schnellste ist Marco Bonfiglio (M35) in 13:40:11 Stunden gewesen, ein Italiener, der im vorigen Jahr den zweiten Platz belegt hatte. Ihn nahm in diesem Jahr der Franzose Stephane Ruel in 15:34:05 ein; auf dem dritten Platz Marc Cornelius Jänicke in 15:34:05. Patricia Rolle (W45) vom Ultrateam der LG Nord Berlin setzte mit 15:57:39 Stunden den Streckenrekord für Frauen. Die Schweizerin Ursula Hotz (W50) erreichte in 19:29:40 Stunden den zweiten Platz, Tia Jones (W50) von den Dubai Road Renners in 20:39:36 den dritten. Die Älteste, Sigrid Eichner (W75), bewältigte die Strecke in 28:10:49 Stunden auf dem 26. Platz von 33 Gewerteten. Christel Prause (W55) hat eine Punktlandung vollbracht: Sie traf am Ziel im Jahn-Sportpark eine Sekunde vor Zielschluß ein, wie die Ergebnisliste mit 29:59:59 Stunden ausweist. Wer Zeiten vergleichen will: Die 100 Meilen sind am 14./15. August in Berlin 161,85 Kilometer lang gewesen.

Anmerkungen: Dr. Ronald Musil, der Ideengeber und Cheforganisator, hat aus Gesundheitsgründen sein Amt abgeben müssen; seine Aufgabe hat Hajo Palm übernommen. Das hohe organisatorische Niveau ist ganz offensichtlich gehalten worden.

Für die Teilnahme am Mauerweglauf spricht läuferisch die Strecke, deren Laufrichtung von Jahr zu Jahr gewechselt wird, so daß Wiederholungsläufer die gesamte Strecke bei Tageslicht kennenlernen können. Überraschend ist, daß der Mauerweg auf weite Teile im Grünen verläuft. Die Anbindung an das Straßennetz gestattet es, immer wieder mit dem Auto an die Strecke heranzufahren. Die (angemeldete) Begleitung durch einen Radfahrer oder einen Läufer ist möglich. Die Markierung wird als sehr gut bezeichnet; zusätzliche Sicherheit bietet die Beschilderung des Mauerwegs. Es ist eine eher leichte Strecke; dennoch ist es zu Stürzen gekommen. Die Beachtung von Verkehrsregeln und Ampeln spricht dagegen, unbedingt Rekorde aufstellen zu wollen. Der Mauerweglauf ist daher durchaus auch für nicht so erfahrene Ultraläufer, zum Beispiel für Läufer, die bisher 100 Kilometer gelaufen sind, geeignet; allerdings sollte der Schritt von 100 Kilometern zu 100 Meilen vorbereitet werden. Ein Blick auf die Läufer zeigt, daß in Berlin Läufer gestartet sind, denen man der Konstitution und dem Laufstil nach eine solche Ultraleistung nicht entfernt zugetraut hätte. Die Hitze stellte eine zusätzliche Herausforderung dar.

Photos: Sonntag

Eintragung vom 11. August 15

Dies ist kein Gefälligkeitshinweis, geschweige denn die Gegenleistung für einen Anzeigenauftrag. Dies ist schlicht Begeisterung für eine Laufstrecke und eine Laufveranstaltung, die ich im vorigen Jahr besucht habe, und ich hatte mir vorgenommen, in diesem Jahr an sie und die Wiederholung am 3. Oktober zu erinnern. Es ist eine Laufveranstaltung, an der ich unbedingt teilgenommen hätte, wenn es sie „zu meiner Zeit“ gegeben hätte. Ich rede vom Taubertal 100, einem Punkt-zu-Punkt-Lauf über 100 Kilometer.

Drei Aspekte, die diesen Lauf zu einem Ereignis werden lassen: der Veranstalter, die Strecke, der Ablauf. Dipl.-Ing. Hubert Beck aus Lauda-Königshofen hat diese Laufveranstaltung erfunden. Dabei hat er erst 2001, im Alter von 43 Jahren, an seinem ersten Ultra-Wettbewerb, dem K 78, und 2003 in Biel an seinem ersten 100-km-Lauf teilgenommen. Mit allem was er lief, hat er sich jedoch sehr gründlich auseinandergesetzt. Sein Wissen, einschließlich einer Ausbildung zum A-Trainer des DLV, hat er in zwei Büchern, dem „Großen Buch vom Marathon“ und dem „Großen Buch vom Ultramarathon“ (2013), sowie in Seminaren weitergegeben. Sein jüngstes Projekt ist der 2014 erstmals veranstaltete Taubertal 100 gewesen.

Hubert Beck ist das, was man einen ambitionierten Läufer nennt – 100 Kilometer in 10:22:44, in 24 Stunden 191,441 Kilometer, GutsMuths-Rennsteiglauf 8:13:14, UTMB 42:18:45 Stunden, Zehn-Tage-Rennen New York 841,686 Kilometer, in diesem Jahr Comrades Marathon (Up Run) 10:57:27 Stunden. Er versteht es, seine Leistungen und die anderer zu analysieren und in die Praxis umzusetzen.

Sein Wohnort liegt an der Laufstrecke, am Radweg Liebliches Taubertal. Diese Route ist in den achtziger Jahren aus Wirtschaftswegen entlang der Tauber geschaffen und ausgebaut worden. Sie gilt als einer der schönsten deutschen Fern-Radwege und ist daher mit fünf Sternen prädikatisiert worden. Die etwas über 100 Kilometer lange Strecke beginnt in Rothenburg ob der Tauber und endet in Wertheim am Main, ist zum größten Teil asphaltiert und führt durch eine verhältnismäßig dünn besiedelte Landschaft mit zahlreichen Kulturdenkmalen. Da sie im Prinzip die Tauber begleitet, sind die Steigungen auch für Läufer erträglich.

Unter „Ablauf“ verstehe ich, was der Läufer Hubert Beck daraus gemacht hat; er hat sich darum bemüht, die Läufer einzubinden. Man trifft sich am Freitag im „Rappen“, um sich informieren zu lassen, und ißt gemeinsam. Zum Start am 3. Oktober im Taubertal wird in der Gruppe durch Rothenburg gelaufen, die Fackel in der Hand. Das Treffen vor dem „Rappen“ in Rothenburg ist von 5.30 auf 6.30 Uhr verschoben worden, der Start also von 6 auf 7 Uhr. Gekrönt wird die Veranstaltung von dem „Rittermahl“ in der Burg von Wertheim; dazu gibt es in diesem Jahr auch die Alternative, nach der Karte zu wählen oder gar nichts zu essen und nur die Schlußfeier zu erleben.

Die Meldeliste umfaßt für die 100 Kilometer gegenwärtig 53 Namen; das bedeutet im Vergleich zum Vorjahr mehr als die Verdopplung der Teilnehmerzahl. Einige Teilnehmer kommen aus dem Ausland – auch das ist ein Indiz dafür, daß die Veranstaltung beachtet wird. Fünf haben für die 50 Kilometer bis Bad Mergentheim gemeldet und sieben für die 71 Kilometer nach Tauberbischofsheim.

Eine Einschränkung ist im Hinblick auf die Qualifikation zu machen. Wer interessiert ist, sollte die 100 Kilometer in höchstens 13 Stunden zurücklegen oder einen Marathon in unter vier Stunden gelaufen sein. Für die Bewältigung der Strecke bedeutet das, daß man, anders als in Biel, auf einen Lauf allein in der Landschaft vorbereitet sein sollte, es sei denn, man habe sich mit einem gleich starken Läufer verabredet.

Photos: Sonntag

Eintragung vom 4. August 15

Es ist der Tag, an dem gelegentlich, wie vor einer Woche, das Jubiläum einer Laufveranstaltung zu kommentieren ist. Am 2. August jedoch hat diesmal nicht das Jubiläum eines Laufes, sondern das eines Läufers stattgefunden: Horst Preisler hat seinen 80. Geburtstag gefeiert (nehmen wir mal an).

 

Wer von den jungen Läufern ihm heute begegnet oder sagen wir besser, ihn überholt wie vor vierzehn Tagen in Dettenhausen, einen Geher, der in seinem achten 24-Stunden-Lauf dieses Jahres 71,122 Kilometer zurückgelegt hat, sollte wissen, daß Horst Preisler ein Unter-drei-Stunden-Läufer war (Marathon-Bestzeit 2:54:39). Vielleicht jedoch hätte ich zuerst seine persönliche Bestzeit für die 100 Kilometer - 8:15:38 - nennen sollen, denn er zählt zu jener Minderheit, die einen Ultralauf vor dem ersten Marathon zurückgelegt hat.

Wikipedia ist weiterhin zu entnehmen, daß er in 24 Stunden 214,708 Kilometer geschafft hat.

Wir sind uns unter anderem beim Spartathlon begegnet; im Gegensatz zu mir hat er ihn auf Anhieb bestanden, und zwar im ganzen viermal. Nach Gisela Requate ist er 1980 als erster die Route des Deutschlandlaufes (1080 Kilometer in 18 Tagen) gelaufen, begleitet von seinem Sohn auf dem Fahrrad. Seine Tochter hat dann später für die Hilfe in Afrika von seinem Lauf zum 70. Geburtstag profitiert.

Im Prinzip ist Horst Preisler von Anfang an ein Vielläufer gewesen. Wem von den älteren Läufern sage ich das? In den frühen Jahren von „Spiridon“ konnte man dort seine umfangreichen Berichte über Läufe lesen, von denen hier kaum einer gehört hatte. In jener Zeit führte Horst Preisler ein Diktiergerät mit sich, auf das er unterwegs seine Eindrücke und Informationen sprach. Im Jahr 2000 war er der erste Mensch, der tausendmal einen Marathon (oder Ultramarathon) gelaufen war. Sechzehn Jahre lang hielt er den Weltrekord im Marathon-Sammeln, bis ihn Christian Hottas ablöste. In seiner Läufer-Karriere, die 1974 begann, hat Horst Preisler über 1800 Marathons und Ultramarathons bestritten; da er weiterhin fleißig unterwegs ist, fällt es schwer, die gerade aktuelle Zahl zu nennen.

Was ich bewundere: Alle seine Laufreisen hat er mit öffentlichen Verkehrsmitteln unternommen. Man muß sich vorstellen: Ein Hamburger wie Preisler muß sich zum Beispiel informieren, wie man nach Dettenhausen im Schönbuch kommt, nämlich mit der Bahn nach Stuttgart, umsteigen in die S-Bahn und in Böblingen umsteigen in die Schönbuch-Bahn, und in die Pfrondorfer Straße findet man in der großen Gemeinde auch nicht gleich.

 

Zuweilen freilich ist er am Samstag von einem Marathon zum nächsten am Sonntag gereist. Dann konnte man ihn in der Zwischenzeit seine mitgebrachte Mahlzeit verzehren sehen; die vielen Reisen erfordern beträchtliche Sparsamkeit. In Biel ist er einmal nacheinander die 100 Kilometer und den Marathon gelaufen. Beim 24-Stunden-Lauf in Mörlenbach, der zunächst allein ein Staffellauf war, startete er Anfang der achtziger Jahre nach Friedrich Marquard als zweiter Einzelläufer.

Ein Mensch, der viel zu erzählen hat, dies aber nicht tut… Horst Preisler ist im persönlichen Umgang angenehm zurückhaltend; jedoch ist er immer engagiert gewesen, sozial, als er noch im Beruf stand, in der Leitung der Personalabteilung des Hamburger Unfallkrankenhauses, und als Läufer vorwiegend in der DUV.

In dem 2012 erschienenen Bildband „Silver Heroes“ von Karsten Thormaehlen verkörpert er zusammen mit anderen alten Sportlern ein neues Altersbild. Thormaehlen, der mit einem Preisler-Photo auch den Titel bestritt, äußerte: „Man kennt aus dem Fernsehen fast nur Megasportereignisse. Da kämpfen junge, hochbezahlte Leistungssportler gegeneinander, und es ist oft etwas langweilig, weil immer dieselben gewinnen. Bei den älteren Sportlern ist mir aufgefallen, daß das meistens Leute sind, die gegen sich selbst kämpfen, gegen den ,inneren Schweinehund‘. Das schafft natürlich so eine Atmosphäre… das macht die Charaktere irgendwie interessant. Diese Art Mensch, das habe ich gemerkt, ist mir unheimlich sympathisch. Dieser Charakterzug motiviert auch sehr, weil man nicht das Gefühl hat: Wenn ich jetzt selbst mit Sport anfange, dann werde ich nie mehr auf einen grünen Zweig kommen.“

Man muß die Anhäufung von Laufereignissen nicht unbedingt für erstrebenswert halten,  – aber für den lebenslangen intensiven Sport ist Horst Preisler auf jeden Fall ein Vorbild.

Auch in diesem Tagebuch nun der Geburtstagswunsch, zugleich im Namen von LaufReport: Unerschütterte Gesundheit, weiterhin Freude an der Bewegung und die Möglichkeit, eindrucksvolle Erlebnisse zu finden!

Photos: Sonntag

Eintragung vom 28. Juli 15

Der Schweiz, die eine dichte Volkssport-Struktur hat, verdanken wir den Ultramarathon, nämlich die 100 Kilometer von Biel als das Modell für den Ultra-Erlebnislauf, und wir verdanken ihr den Durchbruch zu einer ursprünglichen Art des Laufens. Wenn wir Schubladen aufmachen, dann ist es der Bergultramarathon. Doch Begriffe sagen hier gar nichts.

Mitte der siebziger Jahre, als ich noch dem Turn- und Sportverein meines Wohnortes angehörte, besuchte ich eine lokale Vortrags- und Diskussionsveranstaltung, die der spätere Lauftreffwart des DLV, Friedemann Haule, leitete. Ein Teilnehmer stellte die Frage, was denn die Fachleute zum Ultralanglauf, zu den 100 Kilometern, sagten. Friedemann Haule versuchte eine abstrakte Definition. Die Laufdisziplinen des DLV, sagte er, reichten nur bis zum Marathon. Der 100-km-Lauf sei keine Wettbewerbsdisziplin. Diese Auskunft war auch Manfred Steffny, der sich damals im Saal befand, zu wenig. Er meldete sich zu Wort und füllte, obwohl er selbst kein Ultraläufer ist, die Definition mit Leben, nämlich dem, wie Ultraläufer die 100 Kilometer wahrnehmen. Diese Erinnerung, die sich mir eingeprägt hat, soll veranschaulichen, daß der Ultralauf damals gerade erst begann, Gesprächsthema zu werden. Im Sport war er lange noch eine Art Subkultur. Ich erzähle das, um den Prozeß der Laufentwicklung deutlich zu machen.

Im Jahr 1981 fanden die ersten beiden deutschen Stadtmarathons statt. Bis dahin waren Marathons Landschaftsläufe oder Läufe über Strecken, die von lokalen Organisatoren im Benehmen mit den Behörden ausgewählt worden waren. Maßgebendes Kriterium war grundsätzlich, daß die Strecke geeignet war, möglichst schnell zu laufen. Die Tradition des Wettbewerbssports war unübersehbar. Der Ultramarathon bedeutete bereits einen Ausbruch aus überkommenen Regelwerken. Es gab weitere Brüche, zum Beispiel daß man Berge hinauflief oder sich die Freiheit nahm, einen Marathon wie den Schwäbische-Alb-Marathon 44 Kilometer lang sein zu lassen. Der Berglauf Sierre - Zinal im Schweizer Kanton Wallis, der 1973 begründet worden ist, galt als der europäische Abenteuerlauf. Obwohl er nur 31 Kilometer lang ist, zog er jahrelang Marathonläufer an, die bergauf an ihre Grenzen gehen wollten.

Wer schon eine Weile Marathon lief, suchte nach weiteren Herausforderungen. Darüber dachte auch der Ingenieur Andrea Tuffli aus Chur nach, wenn er in seinem „Maiensäß“ an der Albula-Bahn, einer als Wochenendhaus hergerichteten saisonalen Unterkunft für Alp-Bauern, wohnte. Er hatte 1981 schon die Kesch-Stafette begründet. 1982 bereits schwebte ihm ein Ultraberglauf vor; die Premiere fand 1986 statt, ein für damalige Zeiten kühnes Projekt, so kühn, daß manche Journalisten die Veranstaltung als „Lauf der Verrückten“ bezeichneten. Der Titel des ersten Buches über diesen Swiss Alpine Marathon lautete denn auch „Vom ,Lauf der Verrückten‘ zum Klassiker“ (1990). Allerdings habe ich keinen Läufer den Swiss Alpine so nennen hören; Fachleute wie Manfred Steffny beanstandeten lediglich, daß hier soviel bergab zu laufen sein würde. Doch als der Lauf realisiert wurde, akzeptierten ihn „die“ Läufer sofort. 773 Läuferinnen und Läufer absolvierten erfolgreich die mit 66,2 Kilometern angegebene Hauptstrecke, die sich später, nach Messung mit dem Mountain-Bike, als 72,1 Kilometer lang herausstellte. Der Erfolg des ersten Swiss Alpine Marathons bewog Andrea Tuffli alsbald, seine ursprüngliche Absicht, den Lauf alle zwei Jahre zu veranstalten, zu Gunsten eines Jahresrhythmus zu ändern.

Am 25. Juli nun hat Andrea Tuffli, demnächst 73 Jahre alt, mit seinem Team zum dreißigsten Mal seinen Lauf organisiert. Im Prinzip ist die Veranstaltung in jedem Jahr geändert worden. Die größten Änderungen der Streckenführung ereigneten sich im dreizehnten Jahr, als der Aufstieg über die Kesch-Hütte erfolgte und die Teilnehmer über den Panoramaweg zum Scaletta-Paß gelangten – ausgerechnet in dem Jahr, in dem ein unvorhergesehenes Gewitter in etwa 2500 Meter Höhe erhebliche Probleme brachte – und dann wieder 2011, als zunächst versuchsweise der Abstieg über den Scaletta-Paß aufgegeben und die Route von der Kesch-Hütte über den Sertig-Paß geführt wurde. Bemerkenswert ist auch, daß man nun nicht mehr über den Wiesener Viadukt läuft, sondern darunter durch. Schade um das Photomotiv vom Zuschauerzug und den Läufern daneben! Doch die neue Route, die ich vom Wandern kenne, finde ich angenehmer. Und in diesem Jahr? Der C 42, der doch wohl als Kultur-, Einsteiger- und Seniorenmarathon nicht so eingeschlagen hat wie erhofft, ist weggefallen; dafür ist der S 42 etabliert worden, dessen Finisherzahl (811) auf Anhieb die des Hauptlaufes K 78 (775 Einzelläufer) überstiegen hat. Seine Streckenführung könnte auch Läufer anziehen, die sonst nie beabsichtigt hätten, zum Swiss Alpine zu reisen: Durchs Dischmatal über den Dürrboden zum Scaletta-Paß – weit bequemer als der Aufstieg zur Kesch-Hütte – , über den Panoramaweg zum Sertig-Paß und wie beim K 78 und K 42 über das Sertig-Dörfli nach Davos. Wir können bei aller Veränderungslust sicher sein, daß dieser attraktive Marathon beibehalten wird.

Mit dem ersten Swiss Alpine hat Andrea Tuffli einen neuen Maßstab gesetzt, der fortan zu zahlreichen anderen Laufveranstaltungen in den Bergen geführt hat. Wenn man nach Marksteinen für das Trail-Running sucht, – hier ist der erste. Zwar beginnt der Trail erst in Chants, weit hinter Bergün; aber was dann folgt, war zumindest für die Stadion-Athleten unvorstellbar gewesen.

Photos: Swiss image/Andy Mettler

Eintragung vom 21. Juli 15

Der 24-Stunden-Lauf in Dettenhausen hat einige Eigenschaften, die ihn attraktiv machen, auch wenn die dabei erzielten Kilometer-Umfänge nicht in Bestenlisten aufgenommen werden. Unter den 24-Stunden-Läufen ist dieser in bestem Sinne ein Volkslauf. Hier kann jeder mitmachen, der in der Lage ist, eine Runde von 1,6 Kilometern zurückzulegen. Man meldet sich als Einzelläufer an oder läuft in einer Staffel. Auf diese Weise entsteht eine geradezu familiäre Atmosphäre. Auf der Strecke sind Kinder mit Startnummer gewesen, aber auch – in diesem Jahr – ein fast Achtzigjähriger, nämlich Horst Preisler. Der Sieger, der mit 211,712 Kilometern zu Buche steht, ist immerhin 57 Jahre alt, Klaus Kuhn vom TSV Beuren.

Dettenhausen im Kreis Tübingen ist ein freundliches Dorf im Schönbuch, dem ersten Naturpark Baden-Württembergs. Der Vorzug der Laufstrecke besteht daher in der Einbettung in die Landschaft. Parkplätze liegen direkt an der Strecke, ebenso das Gelände, auf dem Läufer ihr Zelt aufstellen können. Eine Sporthalle gibt es nicht. Wer übernachten will, kann sich eines Gemeinschaftszeltes bedienen. Außer Wasser wird keine Verpflegung geboten. Dafür wird jedoch keine Startgebühr erhoben. Unkosten werden von Sponsoren bestritten. Auch ohne eigenes Verpflegungszelt muß man nicht hungern; das bewirtschaftete Vereinsheim, auch in der Laufnacht geöffnet, liegt ebenfalls an der Strecke.

Der zum elften Mal veranstaltete Lauf des VfL Dettenhausen hat eine kontinuierliche Entwicklung von ein paar Dutzend Teilnehmern bis zu nun 604 Läufern und Gehern erlebt, und zwar 276 Einzelläufern und 29 Teams mit 328 Mitgliedern. Es ist zwar eine regional eng begrenzte Veranstaltung; aber wenn auch ein Horst Preisler (Startnummer 4) sich von der Bahnreise aus Hamburg nicht hat abhalten lassen, mag das ein Zeichen dafür sein, daß dieser Lauf im Schönbuch durchaus auch andernorts, beispielsweise in Köln und der Pfalz, beachtet wird. Selbst aus Ungarn, Tschechien und Finnland kamen Teilnehmer.

Mein Motiv war ursprünglich eine Verabredung. Hätte das Jubiläum im vorigen Jahr nicht gereicht? Ich bekenne, ich bin gern wieder nach Dettenhausen gefahren. Auch wenn der 24-Stunden-Lauf nicht gerade meine Lieblingsdistanz gewesen ist, – vor zehn Jahren noch wäre auch ich mit einer Startnummer auf der Strecke gewesen. Die Lockerheit hier wäre meiner Mentalität entgegen gekommen. Für die Spitzenläufer – 41 Teilnehmer legten mehr als 100 Kilometer zurück – stand mit Sicherheit der Trainingseffekt im Vordergrund. Die Grundidee ist jedoch, wie Thomas Listl, der Organisationsleiter, formuliert hat: „Aktive aller Sportarten unter einem Dach und innerhalb eines sportlichen Dialogs zu versammeln.“ Besonders positiv sei: Es gingen immer mehr Teams an den Start.

Photos: Sonntag

Eintragung vom 14. Juli 15

Nun also doch Griechenland im Tagebuch. Nein, nicht das neue Hilfspaket und der aktuelle Stand der Umsetzung. Ich habe in einem alten Ordner mit Laufunterlagen der Veranstaltungen, an denen ich teilgenommen habe, geblättert. Meine erste Marathon-Reise hat mich 1975 nach Athen geführt. Im Jahr zuvor hatte mit dem ersten Marathon auf der historischen Strecke der Lauftourismus, zumindest der deutsche, begonnen.

Doch ich will nicht in Erinnerungen kramen, in den Bildern von Straßen, an deren Rand tote Tiere lagen, von ruinierten Gehwegen, auf denen man sich hüten mußte, in eines der zahlreichen Löcher zu treten, eines Hotels, zu dessen Fenstern im Morgengrauen der Lärm der Müllmänner drang. Ich will auch nicht den Marathon vom Start bei der Müll-Lagerung in Marathon bis zum Panathinaiko-Stadion zu rekonstruieren versuchen, mich nicht an die Hitze erinnern und an die Hupkonzerte der Kraftwagen, die an unserer Route aufgehalten wurden. Ich habe einen Bericht von Otto Hosse (11. 1. 1923 – 4. 6. 1992), dem ersten deutschen Volkslaufveranstalter und ersten Volkslaufwart, gefunden, den man heute getrost als historisches Dokument bezeichnen kann. Dies nicht nur im Hinblick auf eine Laufveranstaltung vor vierzig Jahren, sondern auch auf Stil und Umstände des Laufens damals.

 

Diesen Bericht habe ich gescant, nicht aus Faulheit, sondern weil ich keine Details unterschlagen wollte, nicht die „lieben Sportkameraden“ in der Anrede, nicht den „Herrn“ Niemeyer, nicht den eingeschleusten Traubenzucker.

 

Ich habe jedoch noch eine Absicht. Teutonia 1920 Dortmund-Lanstrop hat einige Jahre den Marathon auf der historischen Strecke organisiert. Das Unternehmen fand sein Ende, als der Griechische Leichtathletik-Verband SEGAS für die Zusammenarbeit 100.000 DM verlangte. Woher hätte die das Ehepaar Niemeyer nehmen sollen?

Es ist verdienstlich, daß die Griechen dann selbst den Marathon auf der historischen Strecke ins Leben gerufen haben. Im Laufe der Jahre hat diese Veranstaltung immer mehr an Reputation gewonnen. Nur – wäre die Reputation geringer, wenn die griechischen Veranstalter zu irgend einem Zeitpunkt an irgend einer Stelle auf den deutschen Vorgänger hingewiesen hätten? Der von Teutonia Dortmund-Lanstrop initiierte und organisierte Marathon ist nirgendwo erwähnt.

Als ich in diesen Wochen die Rangeleien um die neuerliche Hilfe für den Pleite gehenden griechischen Staat in Zeitungen, Internet und Fernsehen verfolgt habe, kam mir die Taktik der hilfsbedürftigen griechischen Seite ziemlich vertraut vor.

Nun also der Zeitsprung zurück:

Anm.d.Redaktion: Zum eingescannten Originalschriftstück Seite 1 HIER & Seite 2 HIER
Wegen der besseren Lesbarkeit das Schreiben auch nachfolgend:

Volkslaufwart im DLV                   Bobingen, 11. November 1975
8903 B o b i n g e n

BERICHT ÜBER DEN 2. INT. VOLKSLAUF MARATHON-ATHEN 13. Oktober 1975 des BV "Teutonia" Dortmund-Lanstrop in Zusammenarbeit mit dem Griechischen Leichtathletik-Verband SEGAS
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Liebe Sportkameraden,

der 2. Internationale Volksmarathonlauf auf der traditionellen Strecke Marathon-Athen war mit 1'002 aktiven Teilnehmern aus 17 Nationen der freien Welt, darunter etwa 630 Deutschen das Tagesereignis der 2½ Millionen-Stadt Athen. Mit vielen Schlagzeilen und Bildern in der griechischen und europäischen Presse und im Fernsehen wurde er zu einer weithin sichtbaren Demonstration für eine neue Aera im Sport: dem Freizeitsport moderner Menschen, für die Volkstümlichkeit unserer Leichtathletik aber auch für die weltbekannte Genauigkeit deutscher Organisation, mit der wir hier neue Freunde aus vielen Ländern gewonnen haben. Dies kam auch in den Begrüßungsworten der Vertreter des griechi-schen Sports und des deutschen Botschafters Oncken zum Ausdruck, der uns nun schon zum zweiten Mal in Griechenland willkommen hieß.

Trotz der über 2'000 km Entfernung vom Ort der Veranstaltung und der einschließlich der Angehörigen auf über 1'500 angewachsenen Zahl der Gaste, gelang es dem BV TEUTONIA DORTMUND-LANSTROP alles so mustergültig, wie zu Hause ablaufen zu lassen. Eine Armada von Chartermaschinen aus vielen europäischen Flughäfen wurde mit der Präzision eines Reisebüros von ehrenamtlichen Vertretern des Ver-anstalters empfangen und verabschiedet. Mit Omnibuskolonnen wurden die Gäste auf viele erstklassige Hotels verteilt - durchwegs mit Klimaanlage. Wie im Vorjahr wurden Kisten voll Verpflegung, Sport-trikots in den Bundesfarben, Medaillen, Urkunden usw. aus Deutschland eingeflogen und von Herrn Niemeyer mit viel Mühe durch den etwas orientalischen Zoll geschleust. Nur eingeweihte wußten, daß die Organisation für diese Tage ein volles Jahr Arbeit für die zahlreichen ehrenamtlichen Mitarbeiter aus Dortmund bedeutete.

Die im Oktober für uns stets ungewohnte Hitze veranlasste die meisten von uns, nach der obligatorischen Besichtigung der Akropolis und der anderen antiken Kultstätten raschmöglichst das Meer mit seinem lauen, glasklaren Wasser und den zahlreichen Sandstränden aufzusuchen, von wo aus dann auch zur Akklimatisierung eifrig trainiert wurde.

Am Sonnabend, 18.Oktober wurden wir dann von einer fast endlosen Omnibuskolonne von den einzelnen Hotels zum Start nach Marathon gebracht. Nach der üblichen Begrüßungsfeier am nationalen griechischen Ehrenmal ging es pünktlich um 11.30 griechischer Sommerzeit (= 9.30 MEZ) bei 30° Hitze ins langersehnte Abenteuer. Schon nach einer Stunde war die Temperatur im Dionysos-Gebirge auf etwa 35° im Schatten gestiegen, bloß daß es dort kaum Schatten gibt . . . Dazu weht dieses Jahr erstmals vom Lande her ein heißer Gegenwind, wodurch uns schon auf der ersten Streckenhälfte nahezu das letzte abgefordert wurde. Freilich wurde diese Leistung durch die mustergültige Organisation der Verpflegungsstellen, an denen es in 5 km Abstand Tee, Fruchtsaft mit Schmelzflocken, Orangen, Zitronen, Traubenzucker und viel Kühlwasser gab. Hier waren auch jeweils große Uhren aufgestellt, die jedem von uns die Ablesung der Zwischenzeiten ermöglichten, denn längst war es nicht mehr möglich, die Zeiten wie im Vorjahr griechisch, englisch und deutsch durchzusagen, zu viele Sprachen wären bei 17 Nationen notwendig gewesen . . .

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Vor allem in der schattenlosen Berglandschaft mit ihren Anstiegen und der Rückstrahlung der Steinwüste und des heißen Asphalts forderte die Hitze ihren Tribut: Erstmals mußten bei einem Volksmarathon zahlreiche Teilnehmer aufgeben, 2 davon kamen mit Hitzschlägen ins Krankenhaus, einer in bedenklichem Zustand. Durch den unermüdlichen Einsatz des deutschen Sportarztes Dr. Borchers aus Augsburg, mit dem ich sofort ins Krankenhaus fuhr, konnte auch dieser Kamerad: Bernd Gentsch aus Michelstadt im Odenwald nach l6stündigen Bemühungen mit zahlreichen Salzlösungs-Infusionen gerettet werden. Er konnte einige Tage später mit uns die Heimreise zu seiner Familie antreten. Hier zeigte sich wieder, wie gefährlich Hitze für gut trainierte, schnelle aber hitze-empfindliche Läufer sein kann, ein Grund mehr, unsere Hitze-schutzbestimmungen wenigstens in Deutschland lückenlos zu befolgen. Dort ist dies leider nicht möglich, weil die Hauptverkehrsader Athens, die Sophienstraße erst Mittag gesperrt werden kann.

Wie nicht anders zu erwarten, siegte bei der Hitze der Griechische Meister, doch selbst er brauchte mit 2:35:39,0 Stunden 8 Minuten länger als im Vorjahr, dann folgte ein Niederländer und der beste Deutsche. Erstaunlich war die gute Placierung der kältegewohnten Schweden in den Altersklassen.

Nachdem nun trotz des zu "schönen" Wetters alles gut verlaufen war, gönnten wir uns noch einige Tage verdienter Erholung an den Stränden von Marathon, Phaleron, Alimos und Vouliagmeni in den Wellen der Ägäis oder beim Lauf am Strand und auf den luftigen Uferstraßen, die es leider auf der Wettkampfstrecke nicht gibt. Nach diesen herrlichen, nur von kurzen Gewittern gewürzten Sommertagen hieß es nun, für ein Jahr Abschied nehmen vom schönsten Sporturlaub, den wir kennen. Trotz Hitze und Strapazen werden wir alle wieder dabei sein und das große, schöne Abenteuer wird noch dazu Hunderte neuer Läufer aus vielen Nationen anlocken. So hieß es beim Abflug in vielen Sprachen: 'Auf Wiedersehen beim Marathon Athen 1 9 7 6". . . .

Photos: Sonntag

Eintragung vom 7. Juli 15

Über der Lage Griechenlands und den Mutmaßungen über dessen Zukunft sind andere Nachrichten in den Hintergrund getreten, darunter die über die Übertragungsrechte von den Olympischen Spielen 2018 bis 2024. Mich persönlich muß dies aus biologischen Gründen nicht so sehr interessieren, aber ich denke, wer sich jetzt nicht damit beschäftigt, wird später einmal eine Überraschung erleben.

Wer umfassende Eindrücke von Olympischen Spielen haben möchte, schaltet in Deutschland ARD oder ZDF ein. Bei den öffentlich-rechtlichen Anstalten kann man, trotz aller Kritik im einzelnen, sicher sein, eine ausgewogene Berichterstattung zu bekommen und Schwerpunkte bei den Leistungen deutscher Mannschaften zu finden. Das wird bei den Olympischen Sommerspielen 2016 in Rio de Janeiro zum letztenmal der Fall sein.

Danach jedoch liegen die europäischen Übertragungsrechte in anderer Hand, nämlich bei dem amerikanischen Medienkonzern Discovery Communications, der 1985 in Silver Spring im amerikanischen Bundesstaat Maryland gegründet worden ist. Discovery hält die Mehrheit an dem deutschen Free-TV-Sender Eurosport. Der amerikanische Konzern hat im Juni die Übertragungsrechte der Olympischen Spiele 2018 bis 2024 beim IOC für 1,3 Milliarden Euro gekauft. ARD und ZDF haben das Nachsehen.

Wie es weitergeht, ist noch offen. Nach einer Darstellung der FAZ heißt es in einer Mitteilung des US-Unternehmens „eher vage“: „Discovery“ und Eurosport werden dafür sorgen, daß die Olympischen Spiele über ihre eigenen TV-Sender und Medienplattformen übertragen werden und in einzelnen Gebieten (durch Sublizenzierung) gegebenenfalls auch durch andere Rundfunkanstalten.“ Milliarden Euro wieder hereinkommen, entweder durch die erwähnte Sublizenzierung, durch Werbeblöcke oder durch Pay-TV. Alle drei Möglichkeiten dienen nicht den deutschen Zuschauern. Die Orientierung an deutschen Leistungen (oder Fehlleistungen) fällt weg. Sportdarbietungen, die immer wieder durch Reklame unterbrochen werden, dürften selbst ausgesprochenen Freunden der übertragenen Sportart auf die Nerven gehen. Und für die Übertragung zu zahlen? Ich gestehe, da würde ich mir selbst das Marathon-Zuschauen verkneifen.

Thomas Bach, der deutsche IOC-Präsident, mag die IOC-Transaktion schönreden; aber das ändert nichts daran, daß die wirklichen Freunde des Sports geprellt werden.

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