Laufen, Schauen, Denken

Sonntags Tagebuch

Eintragung vom 30. Juni 15

Am vergangenen Freitag und Samstag war ich in Gedanken im Lungau. Dort hat der Murtal-Lauf stattgefunden, ein Halbmarathon und verschiedene kürzere Strecken. Ja, doch, lest mal weiter. Ich bin dem Lungau verbunden, obwohl ich seit Jahrzehnten nicht mehr dort war. Dennoch, ich möchte euch gern mitnehmen – eine Anregung, mehr nicht.

  Wir haben Jahre hindurch im Lungau unseren Urlaub verbracht. Begonnen hatte das Anfang der sechziger Jahre schlicht und einfallslos so: Wir wollten in Winterurlaub gehen, erstmals. Österreich kam in Frage, schon mal, weil es damals billiger war. Also blätterte ich Prospekte. Ein Bild kam mir bekannt vor. Wir waren einmal auf dem Weg an die istrische Küste durch den Ort gefahren. Das gab den Ausschlag. Dort also, in St. Michael i. L., wählten wir eine Pension aus; allzuviele gab es noch nicht. Die Pension war vordem die Schule gewesen.

Die Inhaberin des Lebensmittelladens – es gab nur den einen – hatte nach dem Neubau eines Schulgebäudes die alte Schule gekauft und vermietete die Klassenzimmer als Gästezimmer. Jeden Morgen, während wir noch im Bett lagen, kam sie, richtete den Kachelofen her und entflammte das gespaltene Holz. Wenn es angenehm warm war, standen wir auf. Später erfuhren wir, daß wir die ersten Gäste der neuen Pension gewesen waren.

Der Tourismus steckte, wie man sieht, in den Kinderschuhen. Der Fremdenverkehrsobmann war der Werk- und Zeichenlehrer; im Tourismusbüro saß die Tochter des Fuhrunternehmers, dessen Kleinbus-Fahrer auch unser Skilehrer war. Im Winter darauf wohnten wir beim Schulleiter, der zugleich die Blaskapelle leitete, den Männerchor dirigierte, sich um einen Kreis vornehmlich deutscher Jäger kümmerte und inoffiziell der Kulturmanager des Ortes war. Auf diese Weise lernten wir im Handumdrehen eine Anzahl Einwohner des Marktfleckens kennen. Weihnachten 1965 beschlossen Albert, der Fremdenverkehrsobmann, und ich, zu Beginn des neuen Jahres mit dem Rauchen aufzuhören. Schon deshalb kommt mir der Lungau nicht aus dem Sinn.

  Die Dörfer im Lungau, zumal im Winter, sahen so aus, wie wir sie aus antiquierten Kinderbüchern kannten. Unsere Neugier war erwacht. Wir verbrachten auch unseren Sommerurlaub im Lungau. Wenn das Wetter mittat, wanderte ich; ja, ich nahm mir unbekümmert vor, einen Wanderführer für den Lungau zu schreiben. Ich trat dem Club 760 bei, dem Verein zur Erhaltung der Murtalbahn von Mauterndorf nach Murau, mit der Spurweite 760 Millimeter. Auf einem kleinen Stück verkehren noch jetzt Dampfsonderzüge. Ich erwarb die Befähigung, eine Dampflokomotive bedienen zu dürfen (die wichtigere Befähigung erbrachte der Heizer). Wir besuchten regelmäßig Schloß Moosham und sein Original, die Museumsführerin Rosl (jetzt besteht das Personal aus einer Geschäftsführerin, drei Museumsführern und einem Wirt). Wir fühlten uns im Lungau heimisch; die Zeitmaschine hatte uns einige Jahrzehnte zurückgeschubst.

Doch das alles blieb nicht so. Eine Umgehungsstraße wurde gebaut, dann die Tauernautobahn mit der Mautstelle in St. Michael. Da ich über den Tunnelbau schreiben wollte, durfte ich in die erste Bohröffnung fahren. Ein Techniker und ich stiegen in eine Art Wurstkessel und wurden in dem ausgebohrten künftigen Lüftungsschacht herabgelassen. In der Tiefe verkleinerte sich der Himmel über mir auf die Größe eines Stecknadelkopfes. Es war eine Geisterfahrt. Da es den Tunnel noch nicht gab, hing die Rückkehr aus der Tiefe ab von der Haltbarkeit des Seils, dem angebohrten Gestein und einem Motor. Ich habe den Verdacht, nie und nimmer würde man in Deutschland eine solche Journalistenfahrt zulassen. Wie man sieht, habe ich das Tageslicht wieder erreicht.

Der „Wastlwirt“, bei dem wir häufig zu Mittag aßen, und der „Eggerwirt“ sind heute Viersternehotels. Ich war das letztemal 1989 in St. Michael, zur Beerdigung von Loisi, der Frau des Schulleiters, einer Hauswirtschaftslehrerin. Inzwischen sind alle tot, die wir in unseren Ferien näher kennengelernt hatten.

Die Zeit hat sich auch den Lungau unterworfen. Geblieben ist, daß er relativ unbekannt ist. Wer auf der Tauern-Autobahn gen Süden eilt, durchquert ihn zwischen Tauern- und Katschbergtunnel auf nur wenigen Kilometern, ein breites Hochtal entlang der Mur; davon zweigen Seitentäler ab. Steigt man in die Höhe, ist man als Wanderer vielfach gefordert, aber man braucht keine Seilsicherung. Wer es bequemer haben will, kann im benachbarten Kärnten in den Nockbergen wandern. Zum anspruchsvollen Skilaufen fährt man nach Obertauern oder auf den Katschberg.

  Doch der Lungau hat auch seine Eigenheiten; es dauert alles etwas länger. Als ich mit Langlaufski auftauchte, lachten die Lungauer. Es brauchte viele Jahre, bis Loipen gespurt wurden. In den sechziger und siebziger Jahren verband ich im Lungau das Wandern mit dem Lauftraining. Ich lief dort, wo vernünftige Läufer nicht liefen – auf alpinen Pfaden, bergauf, über Baumwurzeln und Geröll. Damalige Läufer hätten mich, wenn sie mich gesehen hätten, nicht zu den ihrigen gezählt. Erst ihre Enkel behaupten nun, sie hätten das Trailrunning erfunden.

Man kann im Lungau aber auch ohne größere Steigungen und abseits des Straßenverkehrs laufen; die Talsohle liegt etwa 1000 Meter hoch. Dennoch, der Murtallauf von St. Michael nach Tamsweg, dem Verwaltungsmittelpunkt des Lungaus, hat am 26. und 27. Juni erst zum drittenmal stattgefunden. Einige wenige Deutsche waren unter den 114 Finishern des Halbmarathons.

Ich weiß, es spricht einiges dagegen. Eines Halbmarathons wegen, der 130 Meter steigt und 160 Meter fällt, muß man nicht einige hundert Kilometer weit reisen. Benützt man das Auto, was zu empfehlen ist, muß man eine Vignette kaufen und dann obendrein noch eine Gebühr für den Tauerntunnel zahlen. Auf diese Weise ist man jedoch von Salzburg aus schon in einer Stunde in St. Michael.

Muß man denn sein Leben allein um das Laufen herum organisieren? Ich stelle mir vor, eine solche Halbmarathonreise mit einigen Tagen des Ausspannens, des Wanderns, des Trailrunnings zu verbinden. Der Lungau, industriefrei und ohne Ballungsgebiete, eignet sich hervorragend dazu.

Photos: Sonntag

Eintragung vom 23. Juni 15

Ist der Ton der Medien-Berichterstattung rauher (ich schreib’s mit h, weil ich die konservative Orthographie benütze!) geworden? Der am 18. Juni von 3sat ausgestrahlte Dokumentationsfilm hat den Titel „Die Cholesterin-Lüge“ gehabt. Der Originaltitel der kanadischen Produktion von Michael McNamara ist dagegen unverfänglich: „The Cholestorol Question“. Der Film selbst setzt sich sehr differenziert mit der Cholesterin-Problematik auseinander. In 3sat mußte er als Beispiel-Schilderung für Irrtümer der Wissenschaft herhalten, so daß danach der Moderator Gert Scobel im Gespräch mit einem Psychologen, einem Sozialpsychologen und einem Rechtsanwalt daran anknüpfen konnte. Das Gespräch selbst hatte das wissenschaftskritische Thema „Aus Fehlern lernen?“

Die Redaktion hat den deutschen Titel „Die Cholesterin-Lüge“ nicht erfunden, sondern eine Anleihe bei dem gleichnamigen Titel eines Buches von Prof. Dr. med. Walter Hartenbach gemacht, erschienen im Jahr 2002 bei Herbig, in diesem Jahr in der 35. Auflage. Danach hat der durch Bücher abseits des Mainstreams bekannte Kopp-Verlag ein Buch mit der synonymen Aussage: „Der große Cholesterin-Schwindel: Warum alles, was man Ihnen über Cholesterin, Diät und Herzinfarkt erzählt hat, falsch ist“ von Anthony Colpo verlegt. Mit der Cholesterin-Problematik, aus der die pharmazeutische Industrie und die Margarine-Industrie ein Milliardengeschäft gemacht haben, setzen sich die Titel „Cholesterin – 99 verblüffende Tatsachen“ von Dr. med. Volker Schmiedel (Trias-Verlag, 2006), „Mythos Cholesterin: Die zehn größten Irrtümer“ von Uffe Ravnskov (Hirzel) und wahrscheinlich der eine oder andere Ratgeber einschließlich der aufklärenden Bücher des journalistischen Kritikers der Ernährungsindustrie Dr. Hans-Ulrich Grimm auseinander. Der Begriff „Cholesterin-Lüge“ ist auch schon 2002 in einem Forum von „Runner’s World“ (deutsche Ausgabe) verwendet worden.

Der erste zumindest populäre Titel auf diesem Gebiet war jedoch „Cholesterin, der lebensnotwendige Stoff“ von Dr. med. Max Otto Bruker und seiner Mitarbeiterin Ilse Gutjahr. Die Untertitel: „Der Cholesterinrummel und seine Hintergründe. Cholesterin macht nicht krank. Cholesterin – keine Gefahr für Leib und Seele“. Der Band erschien 1991 (emu-Verlag), gegenwärtig in 10. Auflage. Bruker hatte sich bereits in den Seminaren der 1978 gegründeten Gesellschaft für Gesundheitsberatung, ebenso wie einige Wissenschaftler, gegen die Verteufelung des Cholesterins gewandt. Damals gehörte sehr viel Mut dazu, denn wohl jeder Hausarzt prüfte gewöhnlich bei seinen Patienten den Cholesterin-Spiegel und verschrieb mit ernster Miene Cholesterin-Senker. Sie erbrachten im Jahr 2001 den größten Einnahmeposten der pharmazeutischen Industrie, nämlich 1,14 Milliarden Euro. Einen Beitrag zum Cholesterinrummel hat seinerzeit das „Gesundheitsmagazin Praxis“ des ZDF geleistet; sein Leiter und Moderator, Hans Mohl, erhielt für seine Arbeit die medizinische Ehrendoktorwürde.

Was will ich mit dieser notgedrungen oberflächlichen Zusammenstellung sagen? Wieder einmal zeigt sich: Es dauert Jahrzehnte, bis die Wissenschaft in einer klassischen Untersuchung wie der Framingham-Studie Fehler entdeckt und von ihrer fehlerhaften Erkenntnis läßt. Und es dauert, wie sich an der Ausstrahlung „Die Cholesterin-Lüge“ im Jahr 2015 zeigt,  ein, zwei weitere Jahrzehnte, bis auch eine Fernsehredaktion ihren Erkenntnisstand korrigiert hat.

Eintragung vom 16. Juni 15

Im Startfeld zum ersten Erlebnislauf der Bieler Lauftage hat mich niemand gesehen; aber auf der Ergebnisliste stehe ich. Da muß ich, ehe üble Gerüchte um sich greifen, eine Erklärung abgeben. Ich bin mit sechsminütiger Verspätung solo gestartet.

Mein Programm sah so aus: Ich wollte zuerst in Biel die Startnummer abholen, dann nach Aarberg fahren, dem Zielort des Erlebnislaufs, wo ich das Hotel gebucht hatte, und dann zum Start mit dem Postautobus nach Biel zurückfahren. Auf den Autobahnen gab es, wie überall, Stauungen. Ich traf in Biel später als geplant ein. Doch noch dachte ich mir nichts dabei.

Es blieb nicht beim Abholen der Startnummer. Auf dem Weg vom Parkplatz zum Kongreßgebäude, im Startgelände und auf dem Weg zurück zum Auto bin ich immer wieder von Lauffreunden aus alten Zeiten angesprochen worden. Wieder dachte ich mir nichts dabei, plauderte und merkte schließlich, daß die Zeit für die Busrückfahrt nicht mehr reichen würde. Ja, es wurde selbst für die Benützung des Autos knapp. Andererseits mußte ich nach Aarberg, um zumindest den Haustürschlüssel für das nächtliche Eintreffen nach der Wanderung zu bekommen. Weitere Verzögerung in Aarberg: Der Stadtplatz war schon abgesperrt, ich suchte einen Schleichweg. Im Hotel mußte ich mich in aller Eile noch für die Wanderung umziehen. Schleunigst fuhr ich zurück nach Biel, parkte auf dem Läuferparkplatz und legte den Weg zum Kongreßgebäude zu Fuß zurück. Nur – mein Geschwindschritt ist keiner mehr. Als ich die Startlinie erreichte, waren die Wanderer schon unterwegs. Zum erstenmal bei meinen 38 Starts in Biel hatte ich mich verspätet, wenn auch nur um 6 Minuten.

Damit jedoch begann mein Irrweg. Ich fand den Einstieg zum Erlebnislauf nicht. Die Erlebnisläufer waren längst davongestoben. Die Absperrungen für die Inline-Skater trugen auch nicht zur Erhellung bei. Zweimal fragte ich Helfer nach der Route; sie kannten sie nicht. Doch wenigstens wußte ich, wo Aarberg liegt. Ich marschierte den Straßenschildern nach. Die Orientierung auf einer Karte war erfolgreich. Endlich, nach anderthalb Stunden einsamer Stadtwanderung, traf ich auf die 100-Kilometer-Route; da waren schon die eine Stunde später gestarteten Läufer unterwegs. Nun war bis Aarberg alles klar.

An dieser Stelle höchste Zeit, über den Erlebnislauf zu berichten. Nach Regengüssen in Basel schlimme Befürchtungen. Doch es wurde eine warme Sommernacht. Ich denke, daß sowohl die Erwartungen von uns nun wandernden 100-km-Läufern als auch die von Lauftage-Einsteigern erfüllt worden sind. Wir sind eingebunden gewesen in den 100-Kilometer-Lauf. Ich hatte den Eindruck, daß das Überholen den Läufern keine Probleme bereitet hat. Wenn ich an die früheren Laufjahre zurückdenke, so meine ich, daß der Streckenabschnitt über die Felder aufs beste hergerichtet worden ist. Die Pfützen, in die wir bei Regen geplatscht sind, gehören nun wohl der Vergangenheit an.

Der Reiz des nächtlichen Laufens gilt auch für uns Geher, vielleicht sogar noch stärker, weil wir ja mehr Zeit zum Schauen haben. Die Publikumsinseln beklatschten auch den letzten Wanderer, der mit den Wanderstöcken den Läufern hinterher stapfte. Immer wieder einmal brach einer der mich überholenden Läufer aus dem Strom aus, um ein paar Worte mit mir zu wechseln. Es waren Läufer, mit denen ich einst die Strecke gemeinsam zurückgelegt habe; es waren Leser von Büchern und von LaufReport, erkennbar schon daran, daß sie sich zunächst einmal vorsichtig meiner Identität vergewisserten. Manche mag ich enttäuscht haben, weil es mir schließlich zu unhandlich war, jedesmal zum Handschlag den Stockeinsatz zu unterbrechen.

Schließlich, vor Kappelen, dem Ort vor Aarberg, zwei professionell ausschauende Photographen am Straßenrand. Nein, es waren keine, die zu einem kommerziellen Team gehörten; es waren Constanze und Walter von LaufReport. Wer immer mich in der Nacht auf der Strecke nach Aarberg photographiert hat, – er hat einen rechten Trottel aufs Bild bekommen; der Trottel hatte die Startnummer auf dem Kopf stehend befestigt. So rasch hatte sich der Aufbruch in Biel vollziehen müssen.

Auf dem Stadtplatz in Aarberg händigte mir der Posten am Ziel die Medaille aus, mit dem Bild des Bieler Eisstadions, das jahrzehntelang Start und Ziel des 100-Kilometer-Laufs gewesen war und möglicherweise zur Stunde schon abgerissen wird. Das Höchstmaß an Komfort: Schätzungsweise 10 Meter waren es vom Ziel zum Hoteleingang. Am Morgen dann, beim Frühstück, konnte ich in der Hausmitteilung lesen, wer den 100-Kilometer-Lauf gewonnen hat.

Photos: LaufReport

Eintragung vom 9. Juni 15

Nicht, daß ich Salz nicht zu schätzen wüßte. Im Alter von neun Jahren bekam ich eine Nierenentzündung. Die Therapie bestand außer Wildunger Tee (bitter!) aus dem Weglassen des Salzes bei allen Speisen. Als Brot war nur salzloses Weißbrot erlaubt. Dr. Bruker hätte die Hände überm Kopf zusammengeschlagen. Mir selbst blieb nur Jammern über die erbärmlich fade Kost. Immerhin, außer dem Zeitverlust – der Schulwechsel mußte um ein Jahr verschoben werden – hat die Erkrankung keine Folgen gehabt.

Mit dem Salz befaßte ich mich wieder, nachdem ich zu laufen begonnen hatte. Ernst van Aaken war darauf bedacht, Salzverluste durch das Schwitzen beim Laufen alsbald durch Zuführung von Salz auszugleichen. Im Prinzip war das ja richtig, aber doch wohl nicht auf diese grobe Art. Ernst van Aaken erfand die Salztablette für Läufer. An Verpflegungspunkten konnte man sie finden. Nicht wenige Marathonläufer – ich wohl auch, wenn mich die Erinnerung nicht täuscht – führten sie bei sich. Nach Gutdünken wurden auf Marathonstrecken ein, zwei Tabletten unterwegs geschluckt. Ich erinnere mich auch an einen Kommentar Ernst van Aakens zu dem Tod des britischen Radrennfahrers Tom Simpson am 13. Juli 1967 nach dem Kollaps am Mont Ventoux. Man hätte ihm eine Bouillon geben müssen, kritisierte Ernst seinen Kollegen, der es mit Mund-zu-Mund-Beatmung, Sauerstoff und einem Hubschrauber zum Krankenhaus versucht hatte. Weder Ernst noch seinem Kollegen vor Ort war bekannt, daß Simpson wie zahlreiche Radrennfahrer (Klaus Ullrich: „Der völlig unnötige Tod des Tom Simpson“, 1983) Dopingmittel genommen hatte.

Die Salztabletten als „Nahrungsergänzung“ verschwanden; man begann, differenzierter über die Laufverpflegung nachzudenken. Nach meiner Beobachtung sehen Marathonläufer keinen Grund, während des Laufes oder danach Salz zuzuführen. Bei extremen Hitzeläufen wie dem Marathon des Sables oder Ultraläufen jenseits der 100 Meilen oder der 24 Stunden sieht es anders aus.

Auf das Thema „Salz“ bin ich gekommen, als ich die Überschrift in einem Informationsdienst für Ärzte (Univadis) las: „Salz hilft Ausdauersportlern nicht“. Das ist nun zwar eine sehr vereinfachte Überschrift, aber sie gibt das Ergebnis einer im „Journal of Sports Science & Medicine“ veröffentlichten Studie wieder. Danach unternahmen Wissenschaftler der St. Louis University (Missouri) einen doppelblinden Versuch mit elf Ausdauersportlern. Der Versuch bestand in einer zweistündigen Belastung bei 60 Prozent Herzfrequenzreserve und danach einem Leistungsfähigkeitstest. Jeder Athlet mußte zweimal antreten; einmal bekam er 1800 Milligramm Natriumsupplemente und einmal ein Placebo. Durch das Training kam es zu einem Verlust von zwei Litern Schweiß. „Das Salz übte jedoch keinen Einfluß auf die Thermoregulierung aus. Sowohl die Schweißrate als auch die wahrgenommene Erschöpfung, die Belastung durch die Hitze, der kardiovaskuläre Drift, die Hauttemperatur und die Dehydrierung unterschieden sich nicht signifikant“, heißt es in der Meldung. Viele Menschen würden schon jetzt zuviel Salz konsumieren, betonte der Studienautor, Edward Weiss. Moderate Zufuhr sei durchaus sinnvoll und notwendig, ein Überschuß könne sich aber gesundheitlich negativ auswirken. Der Umgang mit Natriumsupplementen sollte also sehr vorsichtig erfolgen.

Genau. Die unscheinbare Meldung hat den Erkenntnisstand auf den Punkt gebracht. Wer Salz zu sich nimmt, muß wissen, was er tut. Das ist mit Sicherheit bei Teilnehmern extremer Läufe der Fall. Für alle anderen aber gilt: Hände weg von zusätzlicher (supplementärer) Salzzufuhr! Die Nahrungszufuhr sorgt normalerweise für den Ausgleich. Im allgemeinen nehmen wir schon über unsere Zivilisationskost, vor allem über Konserven und die bestellte Pizza, ohnehin zuviel Salz zu uns. Im Durchschnitt verzehrt in Deutschland jeder Mann täglich 8,78 Gramm Salz, jede Frau 6,33 Gramm. Notwendig sind 1,4 Gramm; doch gibt es Naturvölker, die mit ihrem Salzkonsum noch darunter bleiben. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung nennt als Richtwert knapp 6 Gramm am Tag; das ist ein voller Teelöffel. Vom nächsten Jahr an muß der Salzgehalt in Lebensmitteln auf den Packungen deklariert werden. Gegenwärtig wird der Natriumgehalt angegeben; multipliziert man ihn mit 2,5, erhält man den Salzgehalt.

Die beste Möglichkeit, die Salzzufuhr unter Kontrolle zu halten, ist die Ernährung mit frischen, möglichst unverarbeiteten Lebensmitteln samt Verwendung von Gewürzen.

Eintragung vom 2. Juni 15

Von Fußball verstehe ich nichts, aber ich sehe, man muß auch gar nichts von Fußball verstehen, wenn man ein Urteil über die FIFA (Fédération Internationale de Football Association), den globalen Fußball-Verband, seinen Kongreß und die Festnahme von FIFA-Funktionären und -Partnern abgeben will. Allerorten Kommentare, kritische; aber erhellend finde ich sie nicht.

Der Kern des Kongresses: Ein Präsident wollte wiedergewählt werden, zum fünften Mal. Putin fand die Wahl demokratisch; ein Präsident, der sich selbst nach zwei zulässigen Präsidentschaften in die dritte, um 50 Prozent verlängerte Präsidentschaft gemogelt hat, ist da für die Beurteilung sicher kompetent.

Zwei Tage vor Kongreßbeginn fuhr die Polizei vor dem Hotel Baur du Lac in Genf vor; zwei Vizepräsidenten der FIFA, fünf weitere hochrangige Funktionäre und sieben Vertreter von Marketing-Firmen sind in Auslieferungshaft. Alles Einzeltäter, wie Joseph Blatter, der Präsident, betonte. Die Abholung im Hotel war im Fernsehen zu verfolgen – zum Teil jedenfalls: Ein nicht sehr großes Auto stand da, zwei Männer mit einem weißen Tuch schirmten den oder die Verdächtigen ab, ein weiterer versuchte, mit der Hand das Kameraobjektiv abzudecken. Eine Szene ohne Informationswert. Oder doch einen Kommentar wert? Oliver Welke hatte ihn in der „Heute-Tagesshow“: Mit einem Opel Corsa seien die FIFA-Verdächtigen ins Gefängnis befördert worden. „Welche Demütigung!“ In der Tat, wenn man am Freitag die Auffahrt der FIFA-Kongreßteilnehmer gesehen hat, ist einem der Unterschied bewußt geworden.

Der Unterschied, das ist ein Thema. Was haben die Spitzenfunktionäre der am meisten verbreiteten Sportart mit den Massen zu tun, die ins Stadion strömen – und sei es denjenigen, die sich auf dem Schwarzen Markt eine Karte für 1000 € gekauft haben? Eben nichts. Sie führen ein Eigenleben – auch mit einer eigenen Kriminalität. Spätestens der Fall Hoeneß, der wegen 28,5 Millionen € Steuerschulden verurteilt worden ist, hat das deutlich gemacht. Wie komme ich auf Hoeneß? Ach ja, am 2. Juni ein Jahr in Haft; drei Filme über Uli Hoeneß sind in Arbeit, beim ZDF ein Doku-Drama, bei Sat. 1 eine Dokumentation und ein Spielfilm. Wenn nichts interessiert, – Fußball interessiert immer. Vielleicht vor allem dann, wenn nicht Fußball gespielt wird.

Die Probleme, die sich heute in der FIFA zeigen – Intransparenz, Anfälligkeit für Korruption – , hätten wir nicht, wenn nicht der einstige Amateurstatus im Sport aufgegeben worden wäre. Die FIFA ist ein Wirtschaftsunternehmen, ohne es rechtlich zu sein. Sie hat daher eine spezifische Art von Kriminalität. Mir ist auch als Laie völlig klar, ein Zurück gibt es nicht mehr. Aber man wird ja wohl noch klagen dürfen…

Was uns Läufer und Geher betrifft, wir haben ja auch unsere Vereine, und in jedem, den ich kenne, gab es bisher einen Skandal, eine schwerwiegende Auseinandersetzung oder finanzielle Probleme. Aber in keinem Fall hat es für die Öffentlichkeit gelangt. Wir sind viel zu unbedeutend.

*

Ein Weltrekord im Marathon ist zu melden: Harriette Thompson ist im Alter von 92 Jahren den Rock ‚n’ Roll-Marathon in San Diego gelaufen – in 7:24:36 Stunden. Begleitet wurde sie von ihrem Sohn Brenny. Erst im Alter von über 70 Jahren war sie zu ihrem ersten Marathon gestartet. In San Diego ist sie zum 17. Mal gelaufen. Am Veranstaltungstag, dem 31. Mai, war sie 92 Jahre und 65 Tage alt. Eine andere 92jährige Läuferin, Gladys Burrill, hatte im Jahr 2011 den Honolulu-Marathon in knapp 10 Stunden beendet; sie war 92 Jahre und 19 Tage alt.

Eintragung vom 26. Mai 15

Was wohl kann als Kriterium für den Wandel des Marathons zum „Volkslauf“ dienen? Die Zahl der Teilnehmer? Von den noch jetzt veranstalteten Laufveranstaltungen käme dann dem Schwarzwald-Marathon 1968 dieses Kriterium zu. Oder die Fokussierung auf die über Neununddreißigjährigen? Das geschah ebenfalls 1968 mit dem Lauf in Baarns (Niederlande). Oder die Bildung von Berufsgruppierungen in der Teilnehmerschaft?

Nach meiner Meinung waren es wohl die Ärzte und anderen Heilberufe, die von Ende der siebziger Jahre an erstmals in der Bundesrepublik eigene Lauf-Meisterschaften abgehalten haben. Die Anregung der Gründung eines Deutschen Verbandes langlaufender Ärzte und Apotheker geht auf Dr. med. Ernst van Aaken zurück; Dr. med. Hans-Henning Borchers hat den Verband als Gründungsvorsitzender und fünfzehn Jahre lang als Vorsitzender entwickelt.

Frühzeitig gab es auch im Marathon eigene Wertungen für Studenten und für Polizisten. Da ließen sich die Initiatoren des Trollinger-Marathons in Heilbronn nicht lumpen; sie schufen 2001, bei ihrer ersten Veranstaltung, eine Handwerksmeisterschaft. Im selben Jahr wurde beim 2. Münchner Medien-Marathon eine Meisterschaft der Medien eingeführt. Im Jahr darauf beteiligten sich daran nicht weniger als 292 Mitarbeiter von Medien erfolgreich. Zu ihnen gehörte auch ich, der ich damals für „Runner’s World“ arbeitete. Ich errang mit 5:05:01 netto den ersten Platz in M 75, was mir nicht weiter schwer fiel, denn es gab in dieser Altersklasse nur mich.

Doch der Gedanke, laufende Journalisten gesondert zu bewerten, ist älter als die Münchener Initiative. Bereits beim 2. Frühlingsmarathon 1985 in Wien gab es eine Journalisten-Wertung. Der erste war der Österreicher Dr. Dietrich Scherff mit 3:15:51 Stunden, der dritte war Klaus Haetzel in 3:19:04, seinerzeit Chef vom Dienst im Berliner Senatspresseamt, der zweite war ich mit 3:16:52. Wir waren allerdings zusammen nur 13 Bewerber. Eine Kollegin schied aus. An dieser kleinen Zahl – im Vergleich zum 2. Medien-Marathon in München – mag man erkennen, wie sehr sich der Marathon später entwickelt hat. Ich bedauere sehr, daß der Gedanke der Medien-Wertung in München aufgegeben worden ist.

An diese Zeit der Einbindung aktiver Medien-Vertreter habe ich jetzt denken müssen, als ich gelesen habe, daß beim Münster-Marathon am 6. September 2015 die „1. Deutsche Sportjournalisten-Marathon-Meisterschaft“ stattfinden soll. Das klingt zunächst einmal gut. Doch wer sich ein wenig auskennt, dem offenbart sich der Pferdefuß. Der Münster-Marathon hat sich für die Meisterschaft mit dem Verband Deutscher Sportjournalisten e. V. (VDS) zusammengetan. Sportjournalisten sind jedoch keineswegs kraft Berufes Laufjournalisten, und Laufjournalisten sind häufig keine Sportjournalisten. Manfred Steffny war Fachmann für Leichtathletik, Sportjournalist also, bevor er Chefredakteur der „Condition“ und später Herausgeber von „Spiridon“ war; sein Bruder Herbert hingegen ist zwar auch Laufjournalist, aber keineswegs Sportjournalist. Ich selbst werde gelegentlich als Sportjournalist bezeichnet, weise diese Bezeichnung aber zurück und habe mich seit Beginn meiner Tätigkeit für Laufmedien schon immer als Laufjournalist bezeichnet.

Das ist kein Streit um Worte. Als Sportjournalist sollte man einiges vom Sport verstehen, tunlichst auch zumindest ein Volontariat in einer Sportredaktion aufweisen. Wir Laufjournalisten dagegen haben weder eine entsprechende sportjournalistische Ausbildung noch verstehen wir gewöhnlich etwas von anderen Sportarten. Wir sind über eigene Laufaktivität dazu gekommen, über das Laufen außerhalb des Stadions zu schreiben. Die wenigsten von uns dürften Mitglied im Sportjournalisten-Verband sein. Wahrscheinlich, wenn ich die Satzung nicht fehlinterpretiere, würden viele von uns auch gar nicht aufgenommen werden. Der VDS ist der Dachverband von 21 regionalen Vereinen mit zusammen etwa 3400 Mitgliedern.

Wenn ich an meine ehemaligen Kollegen in der Sportredaktion denke, nehme ich an, daß die wenigsten Sportjournalisten Marathon laufen. Laufjournalisten dagegen kann man Laufaktivitäten wie Marathon unterstellen. Da wir jedoch keine Sportjournalisten sind, bleibt uns, ebenso wie den ungezählten Journalisten anderer Ressorts, die Teilnahme an der „Deutschen Sportjournalisten-Meisterschaft“ verwehrt. Sinnvoll wäre eine Wertung aller hauptberuflichen Journalisten, wie das in Wien und in München der Fall war. Ob sich nicht der Veranstalter Münster-Marathon e. V. eine Fessel selbst angelegt hat? Sollten hingegen alle Medienschaffenden zugelassen sein, wäre die Bezeichnung „Sportjournalisten-Meisterschaft“ irreführend. Auf jeden Fall steht eine Klärung an.

Eintragung vom 19. Mai 15

Philosophen und Ökologen behaupten, sie hätten es schon immer gesagt: Wir sind kurzsichtig. Doch das ist nicht gemeint, sondern die medizinische Kurzsichtigkeit, die Myopie. Da gibt es eine neue Erkenntnis. Der Tendenz nach ist sie jedoch gar nicht so neu.

In meinem Leben hat es zwei myoptische Aha-Erlebnisse gegeben: Ungefähr ums 40. Lebensjahr fiel mir auf, daß ich im Theater – wir gingen oft ins Theater – außer von den ersten Reihen aus die Gesichtszüge der Schauspieler nicht mehr erkennen konnte. Die Gesichter kamen mir wie helle Scheiben vor. Da ging ich zum Augenarzt. Er verschrieb mir eine Brille. Ich gehöre seither zu den Kurzsichtigen. Mein Lebensalter beim Eintritt der Sehschwäche ist typisch. Das zweite Erlebnis: Vor einigen Jahren fiel mir erstmals auf, daß ich, wenn ich aus meinem Arbeitszimmer in den Garten gegangen bin, schlechter sehe; in wenigen Metern Entfernung ist alles verschwommen. Halte ich mich eine Weile im Garten auf oder bin ich auf meiner Trainingsstrecke unterwegs, verbessert sich meine Wahrnehmung binnen kurzem wieder bis zur Normalsichtigkeit.

Es ist eine alte Erkenntnis, daß vieles Lesen zu Kurzsichtigkeit führt. Es gab früher eine Zeit, in der das Tragen einer Brille unweigerlich Intellektuellen zugeordnet wurde. Doch dann wurde sovielen Menschen, auch Kindern, Brillen verordnet, daß dieses Merkmal nicht mehr taugte. Im vorigen Jahr ist jedoch eine differenzierte Lagebeurteilung publiziert worden. In der Gutenberg-Gesundheitsstudie untersuchten Mediziner der Mainzer Universität 4658 Menschen im Alter von 35 bis 74 Jahren auf ihre Sehstärke. Dabei kam heraus, daß mehr als die Hälfte derjenigen, die eine Hochschule absolviert hatten, kurzsichtig waren, während bei den Probanden ohne höhere Schulbildung nur jeder Vierte von der Sehschwäche betroffen war. „Ursache dafür ist vermutlich die Naharbeit, die den Alltag von Studierenden bestimmt“, sagte der Direktor der Mainzer Augenklinik und Initiator der Gutenberg-Studie, Professor Dr. med. Norbert Pfeiffer. In anderen Ländern und Erdteilen ist die Zahl der Kurzsichtigen weit stärker gewachsen. In manchen Großstädten Asiens sind fast 90 Prozent der Bevölkerung kurzsichtig. Mit genetischen Veränderungen ist dies, wie Untersuchungen ergeben haben, nicht zu erklären.

„Laut aktueller Studienlage tragen stundenlanges Lesen, Fernsehen und Arbeiten am Computer zur Verschlechterung des Sehvermögens bei“, heißt es in der Mitteilung der Deutschen Ophtalmologischen Gesellschaft. Die Überschrift lautet: „Kurzsichtigkeit: Studium schlecht für die Augen?“

Weshalb teile ich das Untersuchungsergebnis hier mit? Die Mainzer Gutenberg-Studie hat noch eine weitere, wichtige Erkenntnis erbracht: Die Zeit, die im Freien verbracht wird, ist ein Schutzfaktor. Meine Beobachtung, daß die nach längerer Computer-Tätigkeit eintretende Sehunschärfe nach wenigen Minuten im Freien verschwindet, ist also offenbar zu verallgemeinern. Die positive Auswirkung des Aufenthalts im Freien hängt wahrscheinlich, wie andere Untersuchungen ergeben haben, mit der Licht-Exposition zusammen. Mit anderen Worten: Unser Lauf- (oder Geh-)Training ist auch eine Wohltat für die Augen. Wir können auf diese Weise die negativen Folgen der Bildschirmarbeit, die vom Kindesalter an den Alltag dominiert, kompensieren. Bewegungstraining im Freien hat also einen weiteren Effekt, den wir, die Computergeneration, nicht gering schätzen sollten.

Eintragung vom 12. Mai 15

„Hallo“ und „Guten Tag“, einmal auch: wie alt ich sei. Sehr originell ist das nicht, aber das Grüßen und das Ansprechen unterwegs zeigen doch, daß dies eine besondere Wanderung ist, eine der drei Gehveranstaltungen beim Rennsteiglauf. Auch „Vorsicht mit dem Stab!“ Ich war gerade bemüht, eine Verfitzung der Schlaufen aufzulösen. Walker und Wanderer sind so. Man muß sie zuweilen ermahnen, wenn sie mit Stöcken unterwegs sind.

Originell hingegen war, daß eine Helferin fand, meine Hosenbeine seien zu lang, ich könne darüber stolpern. Sorgfältig krempelte sie mir die Hosenbeine auf die ihr passend erscheinende Länge um und reichte mir dann auch die auf dem Boden liegenden Stöcke. Nun weiß ich, ich bin ein Greis, und zwar ein hilfsbedürftiger. Vielleicht war das der geheime Grund, weshalb ich später den angebotenen Sitzplatz im besetzten Transfer-Bus nach Oberhof zurück ablehnte.

 

Zwei Motorradfahrer knatterten auf den Großen Beerberg, die höchste Erhebung der Supermarathon-Strecke, wenngleich nicht die schwierigste. Denn das ist der Inselsberg. Die Motorradfahrer durften hier fahren. Sie waren dem Ersten vorausgefahren. Es reichte für ein Lauf-Photo des Ersten, des Schmiedefelders Wolf Jurkschat (5:41:45 Stunden). Erstmals also siegte ein Läufer des 2000 Einwohner zählenden Zielortes. Mir schien, so früh wie auf meiner dritten 17-Kilometer-Wanderung von Oberhof nach Schmiedefeld haben mich die ersten des Supermarathons noch nie überholt.

Sei’s drum, die Bergauf-Strecke war geschafft. Die Strecke war wegen Forstarbeiten etwas geändert. Respekt zolle ich insbesondere den Streckenplanern. Mehrfach bewegen sich Läufer und Wanderer auf unterschiedlichen Abschnitten; offenbar soll das Vorbeilaufen von Wanderern auf schmalen Wegen vermieden werden.

Als der Weg schmal war, benützte ich nur den rechten Stock und hielt den linken vor mich. Man sieht, die Mahnung hat ihre Wirkung getan. Einem Läufer, immerhin einem aus dem Spitzenfeld, war mein Einziehen des Stocks aufgefallen; er bedankte sich beim Vorbeilaufen. Ich denke, so etwas passiert nur auf einem Landschaftslauf.

Wo das Hauptfeld begann, war nicht mehr auszumachen. Die etwa 65 Kilometer seit Eisenach hatten ausgereicht, die Läuferkolonnen des 2080 Finisher zählenden Startfeldes, des teilnehmerstärksten Ultramarathons in Deutschland, zu sprengen. Einer der mich überholenden Läufer erkannte mich und gab dies lebhaft kund. Erinnerung an bessere Tage, an die Jahre, in denen ich den Supermarathon vierzehnmal gelaufen war.

  Nimmt man die beiden Jahre mit dem Marathon von Neuhaus nach Schmiedefeld hinzu, dazu das einmalige Sich-Durchschlagen bis zum Grenzadler, einen abgebrochenen Marathon und die Wanderungen, komme ich auf 22 Teilnahmen am GutsMuths-Rennsteiglauf. Wäre das nicht ein Lebensziel, noch das 25-Teilnahmen-Jubiläum anzustreben? In diesem Jahr, so gab der Präsident des Rennsteiglaufvereins, Jürgen Lange, bekannt, haben zusammen tausend Menschen die 25. Teilnahme am Rennsteiglauf erreicht. Das sei beim Ultralauf einzigartig, vermutlich auf der Welt.

Ich bin immer etwas mißtrauisch gewesen, wenn die Werbung für den Rennsteiglauf die Tradition so sehr betont hat. Mir schien das rückwärtsgewandt. Aber so unberechtigt ist die Traditionspflege ja nicht. Nach 25 Jahren gesamtdeutscher Rennsteiglauf hat nun jeder die Chance, in die große Schar der Traditionsläufer einzutreten.

Ob ich die Chance habe? Das Fragezeichen ist berechtigt. Auf den letzten Kilometern geriet ich immer wieder einmal aus dem Kurs. Es war kein Schwindel, es war kein Straucheln; dennoch mußte ich mich zwingen, geradeaus zu gehen. Schwächegefühle brachten mich aus der Vorwärtsbewegung. Die Stöcke halfen mir beim Kurshalten. Interessiert diese Mitteilung jemanden? Ich fürchte, ja. Wer läuft, will wissen, wie das ist mit dem Laufen – oder Gehen – im Alter.

  Ich blicke auf die Ergebnisliste des Supermarathons. Ganz hinten entdecke ich einen Namen „aus meiner Zeit“. Ich sehe, als ich in M 75 den Supermarathon lief, kann ich vergleichsweise nicht gar so schlecht gewesen sein, obwohl es mir damals so vorkam. Das gibt mir Hoffnung: Vielleicht bin ich auch jetzt nicht gar so schlecht, wiewohl es mir zumindest an den Steigungen so vorkommt. Im nächsten Jahr noch einmal die Wanderung versuchen?

Vom Autobus aus kann man verschiedentlich auf Streckenabschnitte blicken. Die einsamen Läufer sind noch unterwegs. Ich möchte ihnen sagen, daß ich ihr Gefühl kenne. Auch ich habe mich ans Ziel geschleppt. Es war richtig, nicht aufzugeben. Die Erinnerung daran, es geschafft zu haben, ist kostbar.

Photos: Sonntag

Eintragung vom 5. Mai 15

Nach fünf Wochen dasselbe Thema? Ich befürchte, diese Wiederholung wird nicht die einzige bleiben. Zwar gebe ich in der Hauptsache nur wieder, was ich bei German Road Races (GRR) und in einer Aussendung von Dr. Hans-Georg Kremer, dem Initiator und PR-Mitarbeiter des Rennsteiglaufes, gelesen habe (die zitierte Pressemitteilung ist bereits im LaufReport zu lesen). Aber ich muß das mitgeteilte Ereignis auch im Tagebuch festhalten und kommentieren. Der Anlaß hat es in sich.

Die offizielle Mitteilung: „Der Bundesausschuß Laufen (BA) hat in seiner Sitzung am Dienstag (Anmerkung: 28. April 2015) mehrheitlich beschlossen, einen Antrag an den Verbandsrat des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) zu stellen, die beiden BA-Mitglieder Horst Milde (Vorsitzender der Vereinigung German Road Races) und Wilfried Raatz (DLV-Berater Berglauf) mit sofortiger Wirkung aus dem Bundesausschuß Laufen abzuberufen, da eine vertrauensvolle Zusammenarbeit nicht mehr möglich ist.“ Zu Beginn der Sitzung hatte der DLV-Volkslaufwart, Wolfgang Timm, in einem Eilantrag zur Tagesordnung den Ausschluß der beiden Mitglieder wegen „verbandsschädigenden Verhaltens“ gefordert. Nach einer Diskussion, so heißt es in der Presse-Information Nr. 50 der GRR, wurden beide Mitglieder von einer weiteren Arbeit in diesem Fachgremium entbunden.

Wolfgang Timm, 67 Jahre, beteiligt am Hamburg-Marathon, ist Sprecher der LV-Straßen- und Volkslaufwarte. Den Vorsitz des Bundesausschusses Laufen hat Harald Rösch, Köln. Er begründete den beantragten Ausschluß damit, Milde würde zum „Schaden der Leichtathletik“ arbeiten und „Brandstiftertum“ betreiben. Dem Ausschuß, einem der neun DLV-Ausschüsse, gehören weiter an: Wolfgang Hohl (Berater Cross), Dr. Norbert Madry (Berater Ultramarathon), Pierre Ayadi (Vertreter des BA Leistungssport oder der Olympischen Leichtathletik), Frank Lebert (Vertreter der Vermarktungsgesellschaft des DLV), Herwig Renkwitz (Vertreter des BA Wettkampforganisation für Straßen-, Cross- und Berglaufwettbewerbe), Rita Girschikofsky (Vertreterin der DLV-Präsidenten) und Jörg Erdmann (Geschäftsführer der DLV-Geschäftsstelle).

Der beantragte Ausschluß ist also die Reaktion darauf, daß Horst Milde und Wilfried Raatz gegen den Verbandsbeschluß, für jeden Finisher einer dem DLV gemeldeten Laufveranstaltung vom Veranstalter 1 Euro zu erheben, öffentlich heftig protestieren und dazu beitragen, den verbreiteten Widerstand von Laufveranstaltern zu organisieren. Man kann’s vielleicht auch ganz simpel sagen: Wer den Maut-Aufkleber „Stop – 1 Euro ist zuviel“ an die Läufertasche oder ans Auto klebt, macht sich eines verbandsschädigenden Verhaltens schuldig. Man kann wahrscheinlich auch schlußfolgern: Wer zu laut einen Verbandsbeschluß kritisiert, wird zumindest als Funktionär nicht geduldet.

Die Laufszene weiß: Der angebliche Brandstifter Horst Milde und Wilfried Raatz sind nicht irgendwer. Horst Milde hat bald nach dem ersten Volkslauf das Laufen in Berlin entscheidend angeregt und die Szene geprägt. Seit 1964 hat er weit über 300 Läufe organisiert. Er hat den Berlin-Marathon gegründet und jahrelang geleitet. Für den DLV hat er als Volkslaufwart des Landesverbandes Berlin sechs Deutsche Meisterschaften organisiert. Er hat erreicht, daß das Sportmuseum im Olympiagelände zum AIMS-Museum geworden ist. Alle seine Aktivitäten würden als Lebenswerk für mehrere Menschenleben ausreichen. Wilfried Raatz hat sich journalistisch und organisatorisch verdient gemacht; er ist – nicht zuletzt dank seinen Veröffentlichungen wie dem jährlichen Berglauf-Journal – zum Spezialisten des Crosslaufs und des Berglaufs geworden. „Sein Problem ist“, äußerte Horst Milde, „daß er als Vorstandsmitglied von German Road Races natürlich die Beschlüsse zur DLV-Laufmaut mitträgt. Diese Nähe macht ihn ebenfalls verdächtig, es kommt meiner Auffassung nach einer Sippenhaft gleich.“ Diese beiden Experten also schickt der DLV, der jahrzehntelang die Laufszene nur von außen betrachtet hat, vor die Tür. Er hat damit wohl endgültig offenbart, daß er nicht dialogfähig ist.

Der Pressemitteilung von German Road Races entnehmen wir: „Im gleichen Zusammenhang ist auch die Amtsenthebung von Dr. Herbert Stromeyer zu sehen. Dieser arbeitete über 40 Jahre als Vorsitzender der Lauf-Cup-Kommission und anderer Gremien für den Landesverband Mecklenburg-Vorpommern. In den letzten Wochen hatte er sich stark gegen die Einführung der 1-€-DLV-Gebühr eingesetzt – mit Erfolg, denn beim M.-V.-Verbandstag hatten die Vereine gegen die Einführung der Laufmaut gestimmt.“

Nach meiner Meinung hat der DLV durch den beantragten und höchstwahrscheinlich eintretenden Ausschluß von Milde und Raatz einen Casus belli gegen die Laufbewegung gesetzt. Die Läufer, sofern ihre Funktionäre nicht dem DLV ergeben sind, müssen reagieren. Die einfachste Reaktion ist zunächst einmal, die Online-Petition gegen das Abkassieren durch den DLV zu unterzeichnen. Dazu braucht man nur den Link „Online-Petition“ auf der Website von German Road Races zu suchen und anzuklicken. Laufveranstalter, insbesondere wenn sie die Existenz ihrer Veranstaltung bedroht sehen, sollten sich beim DLV ausklinken. Das bedeutet, ihre Veranstaltung nicht mehr dem DLV zu melden. Wenn sie dann nicht mehr im Veranstaltungskalender des DLV erscheint, ist das zu verschmerzen. Kleine Veranstaltungen ziehen ohnehin keine Läufer aus weiter Entfernung an; die Läufer aus dem regionalen Bereich werden durch öffentliche Medien angesprochen. Außerdem gibt es den Laufkalender in Läuferzeitschriften.

In letzter Konsequenz sollte die Gründung eines Läuferverbandes und damit die Abspaltung der Laufbewegung vom DLV erörtert werden. Mich kann der DLV nicht ausschließen; ich habe meinen lokalen Turn- und Sportverein schon 1979 verlassen.

Eintragung vom 28. April 15

Eine Veranstaltung wie der am 26. April zum 35. Mal ausgetragene London-Marathon ist reich an Geschichten. Im Fernsehen – ich habe mir den größten Teil der Übertragung in Eurosport angesehen – ist wieder einmal nur die eine Geschichte behandelt worden: Wie die Spitzengruppen der Frauen und der Männer gelaufen sind. Wieder einmal gab es ein Duell, das sich bei den Männern erst auf dem letzten Kilometer anbahnte und mit einer Zeitdifferenz von ganzen 5 Sekunden entschieden wurde. Der Kenianer Eliud Kipchoge schlug seinen Landsmann Wilson Kipsang und kehrte damit das Placierungsergebnis des Berlin-Marathons 2013 um. Bei den Frauen – die Äthiopierin Tigist Tufa vor der Kenianerin Mary Keitany – betrug die Differenz 8 Sekunden. Der 35. London-Marathon war hervorragend besetzt. Das alles ist spannend, aber bei einem Lauf mit über 38.000 Teilnehmern ist das nur der für die Medien wichtigste Aspekt.

Die Schlange des Hauptfeldes kam zwar in der Übertragung vor, aber eher als vernachlässigenswerter Hintergrund; die Bilder wirkten wie von einer anderen Veranstaltung. Die „Charity“, das soziale Engagement, vieler Läufer wurde kurz erwähnt, aber nicht dargestellt. Auf die Kostümierung zahlreicher Teilnehmer, die mir schon bei meinem London-Marathon 1984 aufgefallen war, wies einer der beiden Moderatoren hin; Beispiele wurden den Fernsehzuschauern jedoch vorenthalten.

Eine tief bewegende Geschichte des 35. London-Marathons war der Abschiedslauf von Paula Radcliffe nach ihrer 25jährigen Karriere als Hochleistungssportlerin; ihr Weltrekord im Frauen-Marathon im Jahr 2003 mit 2:15:25 Stunden ist noch immer ungebrochen. Paula Radcliffes Auftritt am Sonntag in London (2:36:55 Stunden) kann man in dem Veranstaltungsbericht von LaufReport nachlesen. In der Fernsehübertragung kam der Abschiedslauf nur als Randbemerkung vor.

Der Start einer Gruppe von behinderten Athleten wurde, ebenso wie der Start der Rollstuhlfahrer, gezeigt und damit wohl abgehakt. Für den Kampf auf der Strecke und den Einlauf reichte es nicht. Dabei handelte es sich um Marathon World Championships des International Paralympic Committee (IPC).

Eine weitere, für deutsche Leser tief anrührende Geschichte: Im Startfeld des IPC-Wettbewerbs stand auch Regina Vollbrecht; die 38jährige Sportlerin ist von Geburt an blind. Ihr Schicksal, zurückzuführen auf Folgen einer Frühgeburt, hat sie hervorragend gemeistert. Noch zu DDR-Zeiten trat sie in die Polytechnische Oberschule für Blinde und dann in die Erweiterte Oberschule für Sehgeschädigte, beide in Königs Wusterhausen, ein. Ihr Studium im Fachbereich Sozialwesen an der Fachhochschule Potsdam schloß sie mit dem Diplom als Sozialarbeiterin und Sozialpädagogin ab. Seit Juli 2002 ist sie im Berliner Beratungsbüro des Förderzentrums für Blinde und Sehbehinderte tätig.

Sportlich ist sie hochaktiv. Im Jahr 1999 begann sie, ermutigt durch ihren späteren Ehemann, einen Tandem-Partner, mit dem Laufen. Ihren ersten Marathon hat sie im Jahr 2000 bestritten. Mehrfach hat sie den Weltrekord für blinde Läuferinnen aufgestellt; ihre beste Zeit erzielte sie beim Frankfurt-Marathon 2010 mit 3:15:49 Stunden. Sie fährt Radrennen, war mehrfach deutsche Meisterin im Behindertentriathlon, spielt Goalball (eine 1946 begründete Ballsportart für Sehbehinderte), ist 1500 Meter ebenso wie Ultramarathons gelaufen und unternimmt Bergbesteigungen und Wanderungen.

Diese Aktivitäten seien nur denkbar, weil sie, so äußerte sie selbst, Begleiter gefunden habe. Auf ihrer Website schreibt sie: „In für mich wichtigen Wettkämpfen lasse ich mich gern von Begleitläufern führen, die ich gut kenne. Natürlich habe ich auch schon Guides eine Stunde vor dem Rennen kennen gelernt, und es hat während des Laufes alles gut geklappt. Mein Guide und ich sind mit einem Sportschnürsenkel verbunden, der an jedem Ende eine Schleife hat, die wir dann in die Hand nehmen. Bei internationalen Wettkämpfen oder einer Rekordanerkennung darf das Band nur 50 cm lang sein. Der Begleitläufer läuft immer an meiner linken Seite, und wir achten darauf, daß das Band leicht straff gehalten wird, denn nur so habe ich den optimalen Abstand zu meinem Laufpartner. Während eines harten Trainings oder wichtigen Wettkampfes ist es unbedingt erforderlich, daß der Guide schneller ist als ich. Der Guide braucht die volle Konzentration, um Unebenheiten, Kurven, Zeiten, die Länge einer Steigung oder eines Gefälles anzusagen. Er muß aber auch im Wettkampf auf die anderen Starter achten, damit es zu keinen Stürzen kommt. (…) Ich habe die tolle Erfahrung gesammelt, daß viele meiner Trainingspartner auch meine Freunde werden. Damit auch jeder meiner Guides für sich trainieren kann, versuche ich, mein Training auf mehrere Läufer zu verteilen.“

Die Besteigung des Großglockners mußte Regina Vollbrecht abbrechen, weil ihr auf einer Passage, wahrscheinlich der Oberen Glocknerscharte, ein weiterer Begleiter fehlte. Meinen Respekt vor dieser alpinen Leistung hat sie dennoch. Die Normalroute (Schwierigkeitsgrad II) gilt zwar als leicht, aber ich selbst – ich bin kein Alpinist – habe Mühe gehabt, die Erzherzog-Johann-Hütte (3454 m) zu erreichen, und als nachts Schnee fiel, habe ich mich beim Abstieg lieber ans Seil nehmen lassen. Für mich ist es unvorstellbar, daß eine blinde Läuferin jede Trittstufe erfühlen muß.

Unvorstellbar war es für mich auch, daß Blinde Marathon laufen. Bei einem meiner frühen Marathons, 1968 beim ersten Schwarzwald-Marathon, wurde ich von einem Paar überholt, das durch ein Band miteinander verbunden war. In meiner naiven Vorstellung diente es dazu, den schwächeren Läufer am Zurückbleiben zu hindern. Ich quittierte den scheinbaren Regelverstoß mit einem Murren. So verlief meine erste Begegnung mit einem blinden Läufer.

Regina Vollbrecht hat ihren Marathon in London in 3:26:18 Stunden beendet. Begleitet wurde sie von Dr. Ralf Milke, der wie die Vollbrechts in Berlin wohnt. Nach seiner Angabe waren die IPC Marathon World Championships ein historisches Ereignis. 31 Jahre nach der ersten Weltmeisterschaft der Läuferinnen war es die erste Weltmeisterschaft der blinden Läuferinnen, die gemeinsam mit stark Sehbhinderten gewertet wurden. Ralf Milke, der seine Marathon-Karriere im Alter von 12 Jahren begann, hat Regina unter anderem auch bei einem Training zu Ostern dieses Jahres auf Juist und Norderney begleitet.

Die Geschichte der blinden Läuferin Regina Vollbrecht – eine der über 38.000 Läufergeschichten des 35. London-Marathons…

Eintragung vom 21. April 15

Das Thema ist alt, uralt: Wie reden wir Läufer einander an? Eine meiner ganz frühen Lauferfahrungen war die erste Begegnung mit Dr. Ernst van Aaken. Selbst Sportärzte liefen damals nicht. Dieser aber, ein Landarzt aus Waldniel, lief nicht nur, sondern wußte anscheinend auch alles über das Laufen. Er war die zentrale Figur der winzigen Laufszene. Er war in bestem Sinne souverän. Ich war einer, der in der winzigen Szene zum „Mitläufer“ geworden war, ganz hinten. Da ich erst Lauf-Erfahrungen zu sammeln begann, übertrug ich, ohne zu reflektieren, Regeln des bürgerlichen Zusammenlebens auf diese neue Gemeinschaft, die der Läufer. Der sachverständige Läuferarzt Ernst van Aaken war für mich der „Herr Doktor“. Doch Ernst hielt sich mit Rollenspielen nicht im entferntesten auf. Er duzte uns alle, ohne irgend einen formellen Umweg zu machen. Da hielt ich es, wie andere wohl auch, ebenso. Der „Herr Doktor“ wurde zum Ernst.

Im Prinzip vollzieht sich der Umgang unter Läufern auch heute noch so. Doch eben nur im Prinzip. Ein Läufer-Arzt, der einen Läufer untersucht, wird wahrscheinlich das übliche „Sie“ im Verhältnis Arzt – Patient beibehalten. Und wenn einer, den man kennt, ein laufender Professor oder eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, ob Wirtschaftsmanager oder Schauspieler, im Marathon neben einem läuft, wird einem das „Du“ ohne eine verbale Hilfestellung durch den Angesprochenen vermutlich schwer über die Zunge kommen. Das „Sie“ gilt hier als Zeichen des Respekts und der Wertschätzung. In anderen Fällen jedoch stimmt das Gegenteil: Zum Zeichen der Wertschätzung wird das „Du“. Ich weiß, wovon ich rede beziehungsweise schreibe. Laufende Mediziner duzen mich, eine Anzahl Läufer siezt mich. Kommt man ins Gespräch, stellt sich heraus, das „Sie“ ist nicht als Zeichen der Distanz gemeint, sondern des Respekts. Die Frage, ob ich ihn mir durch das Laufen verdient habe, lasse ich offen.

Weshalb schreibe ich über ein altes, ein uraltes Thema? Weil es, meine ich, einen aktuellen Aspekt gibt. In den letzten Jahren bin ich mehr und mehr einem unechten Du begegnet. Unter einem echten Du verstehe ich, wenn ein Laufshop-Inhaber, wahrscheinlich ein Läufer, der aus seiner Leidenschaft einen Beruf gemacht hat, und seine Kunden die vertrauliche Anredeform benützen.

Für unecht dagegen halte ich, wenn uns Laufschuh-Hersteller mit Du ansprechen. Ein Laufshop-Inhaber mag seine Kunden kennen. Ein Laufschuh-Hersteller, der Millionen von Schuhen produziert, kennt sie persönlich nicht. Mag der Firmengründer noch ein persönliches Verhältnis zu seinen Produkten und zu seinen Kunden gehabt haben, – in der Warenwelt von heute ist das nicht mehr der Fall. Ein Management, das nicht nach der Lauf-, sondern nach der Marketingleistung angestellt worden ist, kann nur ein einziges Interesse haben: Den Schuhverkauf zu steigern. Der Kunde soll zufrieden sein, gewiß, aber eben in der Hauptsache doch deshalb, weil zufriedene Kunden andere Kunden anlocken.

Die Schuhwerbung spricht Emotionen an. Dem dient gebenenfalls auch die Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Im deutschen Sprachgebiet und in einigen anderen wie dem französischen läßt sich emotionale Nähe durch die Wahl der geeigneten Anredeform herstellen. Ich habe mir eine Anzahl deutschsprachiger Anzeigen angesehen. Wohl alle Laufschuh-Hersteller sprechen ihre potentiellen Kunden mit Du an. Das ist ein unechtes Du, meine ich. Unecht deshalb, weil es einem puren Zweck dient. Einbeziehen möchte ich die Läufer-Website des DLV „laufen.de“. Auch hier werden die Leser geduzt. Inzwischen wissen wohl die meisten, daß der DLV ziemlich wenig mit dem Laufen und seiner Szene zu tun hat. „laufen.de“ ist ein Marketing-Produkt des DLV, nichts sonst. Das verrät indirekt auch das Impressum.

Die Gegenprobe: Aufgefallen ist mir, daß in „Runner’s World“, deutsche Ausgabe, die Leser gesiezt werden. Ich finde, das ist ein echtes Sie. Es wirkt nicht im mindesten distanzierend, sondern ist als Höflichkeitsform anzusehen.

Ich bin mir sicher, daß meine Reflexion über Du und Sie im Umgang mit Läufern auch Widerspruch hervorrufen wird. Mir ist auch klar, daß es auf diesem Gebiet keine verbindliche Norm gibt. Selbst beim Ultramarathon, wo wir seinerzeit verabredet hatten, grundsätzlich das Du zu gebrauchen, kommt es vor, daß wir unter Ultraläufern auch gesiezt werden.

Es gibt auf diesem Gebiet keine Regel, sondern allein eine pragmatische Handhabung der Anredeformen. Worum es mir mit dieser Tagebuch-Eintragung geht, ist, sensibel dafür zu machen, was echt und was unecht beim Gebrauch einer Anredeform ist. In diesem Sinne grüße ich euch, und zwar echt.

Eintragung vom 14. April 15

Als organisatorische Anforderungen bei Laufveranstaltungen werden gewöhnlich verstanden: Streckenwahl und -markierung, Zeitmessung und Wertung, Verpflegung, Erste Hilfe, Verkehrsregelung, Werbung und Public Relations. Fehlt da noch etwas? Doch, ja, die Logistik. Sie fehlt deshalb in der Aufzählung, weil sie nicht bei jeder Veranstaltung organisiert werden muß. Bei einigen wenigen Laufwettbewerben ist sie jedoch der Schlüssel- und Angelpunkt, nämlich bei Läufen, die nicht oder sehr schwer mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen sind, bei Streckenläufen und bei Veranstaltungen mit unterschiedlichen Startpunkten, vor allem aber bei Ultraläufen, sofern sie nicht auf kurzen Runden stattfinden. Die Laufveranstaltung in Deutschland, die wohl die aufwendigste Logistik verlangt, ist wahrscheinlich der GutsMuths-Rennsteiglauf.

Übertrieben gesagt, in diese Laufveranstaltung ist ja halb Thüringen einbezogen. Die Strecken des Rennsteiglaufs haben vier unterschiedliche Start- und zwei Zielorte. Bei der nächsten Veranstaltung am 9. Mai werden wohl wieder etwa 15.000 Läufer, Walker und Wanderer unterwegs sein; angemeldet sind bisher knapp 14.000. Auf den klassischen Läufen, dem Supermarathon, dem Marathon und dem Halbmarathon, sowie den Walking- und Wanderstrecken entfernen sich die Teilnehmer mit jedem Meter von ihren Autos oder ihren Quartieren (oder von beidem). Der zentrale Zielort, Schmiedefeld, der von ungefähr 15.000 Teilnehmern angelaufen wird – die meisten sind mit einem oder mehreren Familienangehörigen oder Freunden angereist –, bietet wenig mehr als 200 Betten in Hotels und Pensionen, dazu Ferienwohnungen und Bed & Breakfast. Die Parkierungsflächen sind in dem kleinen Erholungsort ziemlich beschränkt. Das bedeutet: Am Veranstaltungstag müssen Tausende von Menschen innerhalb relativ kurzer Zeit abtransportiert werden. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln allein ist das nicht entfernt zu schaffen.

Zu DDR-Zeiten haben Läufer – damals waren es noch mehr – und Organisatoren gelernt zu improvisieren. Die vielleicht häufigste Lautsprecherdurchsage auf dem Schmiedefelder Sportplatz lautete damals: „Gesucht wird eine Mitfahrgelegenheit nach…“ Wenn ich den größten Unterschied des Rennsteiglaufs zwischen DDR-Zeit und heute definieren sollte, dann ist es dieser: Das Zusammengehörigkeitsgefühl der Läufer war weit stärker als heute; das zeigte sich insbesondere in der Frage der Mitfahrgelegenheiten.

Als dann nach der deutschen Wiedervereinigung die materiellen Möglichkeiten nahezu unbeschränkt – beschränkt nur durch die Geldmittel – zur Verfügung standen, ist ein breites logistisches Angebot entwickelt worden. Sicher, es war nicht immer fehlerfrei. Ich erinnere mich an lange Wartezeiten bis zur Abfahrt des nächsten Autobusses zum Startort. Es gab Veranstaltungstage, an denen klug handelte, wer in seinen zum Ziel transportierten Rucksack genügend Kälteschutz für die Wartezeit eingepackt hatte („eingepackt“ ist auch wörtlich zu nehmen, denn die Rucksäcke werden in Schmiedefeld auf einer Wiese gelagert, und wohl die meisten Läufertaschen und -rucksäcke erwiesen sich als nicht wasserdicht). Es gab auch vollbesetzte Autobusse, in denen ich für die Fahrt nach Eisenach nur noch einen Stehplatz erhielt.

Im Jahr 2010, als ich zum letztenmal den Marathon von Neuhaus beendet hatte, mußte ich lange auf den letzten Autobus nach Neuhaus warten. Vor mir trug ich in einem offenen Karton eine Torte, die der Veranstalter mir als ältestem Laufteilnehmer geschenkt hatte. Endlich kam der Bus, der seine Abfahrtszeit 19.30 Uhr um einiges überschritten hatte. Bevor wir einsteigen durften, mußte er in der Parkbucht rangieren. Doch der Motor ging aus. Der Fahrer ließ den Motor von neuem an, wieder versagte er bei Belastung. Das wiederholte sich mehrere Male. Der Fahrer mußte aufgeben. Glücklicherweise neigt sich die Autobusbucht, so daß er den 15 Jahre alten Bus ohne Motorkraft in eine Parkstellung in der Bucht bringen konnte. Wir warteten weiter; ein Ersatzbus war nicht abrufbar. Es wurde improvisiert. Wir konnten schließlich den Autobus nach Oberhof nehmen, der freilich erst seine Fahrgäste dorthin bringen mußte. Nach dem Umweg über das westlich, also in der Gegenrichtung gelegene Oberhof erreichten wir Neuhaus im Osten dann gegen 22 Uhr – weit nach Küchenschluß meines Hotels. Betrübliche Aussicht – mit einem knappen Frühstück und einer Banane im Magen… Doch das Hotel-Management war großzügig; es zauberte mir ein komplettes vegetarisches Menü.

Zu den Verbesserungen in Schmiedefeld gehört auch der Transfer. Ich habe den Eindruck, daß die Busse pünktlich gehen. An der Parkbucht ist jedem Transfer-Ziel ein Schild zugewiesen; man kann sich also vorher schon orientieren und sich korrekt am Einstieg nach Eisenach, Neuhaus oder Oberhof aufstellen. Die Taxi-Unternehmen der Gegend haben wohl nach Jahren ihre Chance begriffen; schräg gegenüber der Autobus-Parkbucht stehen am Veranstaltungstag Taxis bereit.

In diesem Jahr ist das Autobus-Angebot um drei Verbindungen erweitert worden. Damit soll erreicht werden, daß man nicht unbedingt am Startort seiner Strecke oder in Schmiedefeld übernachten muß. Der GutsMuths-Rennsteiglauf-Verein organisiert nun Autobusse auch von Hinternah, einem Erholungsortsteil von Nahetal-Waldau, nach Oberhof (etwa 7.000 Halbmarathon-Läufer!), vom Ringberghotel (600 Betten) nach Oberhof und von Suhl über Zella-Mehlis nach Oberhof. Damit ist die touristische Infrastruktur für Besucher des Rennsteiglaufs erheblich erweitert.

Die Ausweitung des Transfers mag auch ein Zeichen dafür sein, daß die Verantwortlichen im Rennsteiglauf-Verein um ständige Verbesserungen der anspruchsvollen Veranstaltung bemüht sind.

Photos: Sonntag

Eintragung vom 7. April 15

Manche meinen ja, ich würde zeigen, wie ein Läufer auch im fortgeschrittenen Alter noch seine Fitness trainiert. Gewiß, es gibt nicht allzu viele meines Alters, die sich jede Woche so viel bewegen wie ich. Aber, so habe ich bisher eingewendet, es gibt einige, die in meinem Alter weit leistungsstärker gewesen sind als ich. Meinen letzten Marathon bin ich im Jahr 2011 gelaufen, nein, doch wohl eher gegangen. Doch Josef Galia ist noch mit 91 Jahren Marathon gelaufen und hatte in M 85 den Weltrekord im Marathon (4:47:50) erzielt, Dr. Adolf Weidmann ist mit 91 Jahren die Bieler 100 Kilometer gegangen. Da vollbrachten in der Bundesrepublik Friedrich Tempel und Arthur Lambert Altershochleistungen im Marathon, erreichte der 90jährige Alfred Althaus für 10.000 Meter eine Zeit von 62:21:50 Minuten, erzielte Manfred Maschke aus meinem Wohnort einen Rekord in M 85 im 24-Stunden-Lauf. Alfred Schippels lief den Spartathlon im Alter von 75 Jahren, Horst Feiler legte in 24 Stunden 101,683 Kilometer zurück, und zwar in der Klasse M 90. Der neunfache Seniorenweltmeister Dr. Heinrich Gutbier ist, wie Steppenhahn berichtet, auch im Alter von 91 Jahren noch täglich walkend unterwegs.

Das also und die Leistungen anderer, besserer Altersläufer sind für jedermann zugänglich aufgezeichnet. Ich kann damit gut leben. Nun jedoch belastet mich ein fürchterliches Manko. Ich verrate es, wiewohl es meinen Ruf als noch immer fleißiger Altersläufer beschädigen dürfte: Ich bin seit zehn Tagen, ohne krank zu sein, nicht mehr auf meiner Strecke gewesen. Gerade viermal eine Ein-Kilometer-Runde mit Marianne habe ich zurückgelegt. Ich versuche, eine Erklärung zu geben, und hoffe, daß sie vielleicht dem einen oder anderen das möglicherweise schlechte Gewissen wegen eines Trainingsausfalls nimmt. Vielleicht ist es auch der Versuch, mich selbst zu beruhigen.

Die Erklärung ist ganz schlicht: Mir war das Wetter zu schlecht. Wir haben hier, in der sonst um diese Jahreszeit milden Gegend am Neckar, orkanartige Stürme erlebt. Es war schon ein Gebot der Vorsicht, an diesen Tagen Waldabschnitte zu meiden. Doch auch an den anderen Tagen war es nicht gerade windstill; selbst bei Sonnenschein herrschte ein eisiger Wind. Zudem gab es einige regnerische Tage. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, nahm ich mir jedesmal vor: Aber morgen gehst du auf deine Trainingsstrecke! Und da war wieder dieser eisige Wind, da regnete es, einmal wirbelten sogar Schneeflocken über die Blüten.

Ich registriere das, weil ich annehme, daß auch andere unter diesem Frühling leiden. Selbst in Freiburg i. B., so ziemlich dem wärmsten Platz in Deutschland, klagten am letzten März-Wochenende die Läufer auf den beiden Marathon-Runden. Anderswo dürfte es wohl nicht besser ausgesehen haben.

Ja, aber der Marathon und der Halbmarathon in Freiburg fanden statt. Gewiß doch, ich wäre da auch mitgelaufen. Doch in diesem klimatisch verzögerten Frühling ist mir der Unterschied zwischen Laufen und Gehen dramatisch klar geworden. Läufer konnten auch an den Regentagen für ihr Training vielfach eine Zeit abpassen, in der es nicht regnete. Ein Stündchen Laufen war noch möglich. Ein Stündchen… da legt man als Läufer etwa 10 Kilometer zurück, vielleicht auch nur 8; aber immerhin das Training ist gesichert. Wenn ich hingegen meine Runde von 8 Kilometern gehe, brauche ich einschließlich der Wartezeiten bei Straßenüberquerungen mittlerweile zweieinviertel Stunden. Und wie verbringt man als Geher diese Zeit? Regen gefährdet nur beim Wettbewerbsstart die Läufermoral. Bei stürmischem Wetter zu laufen, ist ein Kampf. Wer kämpft, spürt nicht gar so viel Unbill. Hilflos dem Wetter ausgesetzt sind wir Geher. Richtig warm werden wir nicht. Dem Wind setzen wir nichts entgegen als unsere Haut; wir kommen nicht voran, wir leiden unter der Kraft des Windes, ohne ihm unsere Kraft entgegensetzen zu können.

Schluß jetzt! Es klingt gar zu sehr nach Ausrede. Vielleicht ist es sogar eine. Mir bleibt nur die Ausflucht: Eine solche Pause soll nicht gleich wieder vorkommen. Es wird ohnehin wärmer.

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