Laufen, Schauen, Denken

Sonntags Tagebuch

Eintragung vom 24. September 13

Die Frage lautete: Mit dem Wahlsonntag beginnen oder mit 50 Jahren Volkslauf? Das Schicksal hat die aktuelle Antwort gegeben: Am 21. September ist Dr. med. Hans-Henning Borchers im Alter von 72 Jahren gestorben.

Vielleicht muß man einer jüngeren Läufergeneration vermitteln, wer Dr. Borchers gewesen ist: ein laufender Arzt schon zu einer Zeit, als noch nicht viele Ärzte liefen, ein Arzt also, der damit als Vorbild dienen konnte, ein Arzt, der sich nicht auf seine Praxis beschränkte, sondern ein Stück Laufgeschichte mitgeschrieben hat, ein Arzt mit beträchtlichem Engagement, wenn es um eine humanitäre Aufgabe wie die Anprangerung von Menschenrechtsverletzungen in Tibet, um die politisch-historische Dokumentation der deutschen Teilung, um die Erhaltung von Denkmalen oder um soziale Aufgaben im Sport ging.

Hans-Henning Borchers ist am 25. Juli 1941 in Göttingen geboren worden, studierte in Marburg – ein Semester lang auch in Wien – Medizin, erhielt 1970 die Approbation und war in Offenbach, Hanau, Schwabmünchen und Augsburg tätig. 1976 ließ er sich in Augsburg als Facharzt für innere Krankheiten und Sportmedizin nieder. Seine Frau betrieb im selben Gebäude eine röntgenologische Praxis. In den letzten Jahren arbeitete er in der Praxis seiner Tochter Stefanie.

Ein Leben lang hat Hans-Henning Borchers Sport betrieben, in der Jugend als Leistungsturner; im Alter von 31 Jahren fand er zum Ausdauersport – mit einer ganzen Palette von Disziplinen: Laufen, Gehen, Radfahren, Ski alpin und Skilanglauf, Triathlon. Bereits 1974 lief er den Marathon auf der antiken Strecke (in jenen Jahren lag die Organisation in den Händen eines deutschen Vereins; diese Epoche ist in der Zählung der später von den Griechen veranstalteten Marathone nicht enthalten). 1977 legte er die 100 Kilometer in Illertissen, später auch in Biel zurück. Er kannte als Aktiver die großen Laufveranstaltungen in Boston, New York, London, den Supermarathon des GutsMuths-Rennsteiglauf und eine Anzahl deutscher Marathonläufe. Er nahm unter anderem am Wasa Loppet teil, dem 90 Kilometer langen Skilanglauf in Schweden, dem Canadian Skimarathon und der Ironman Triathlon Championship auf Hawaii. Obwohl gesundheitlich schon angeschlagen, bestritt er auch in M 70 noch Gehwettbewerbe.

 

Im Jahr 1981 beteiligte er sich an dem Deutschlandlauf, der Pilotstudie von Professor Jung. Dabei hatte ich Gelegenheit, Henner, wie er sich nennen ließ, zwanzig Tage lang als kooperativen, fairen und angenehmen Sportfreund kennen zu lernen. In Kontakt waren wir zuvor schon gekommen. Dr. Borchers hatte 1978 begonnen, den Deutschen Verband langlaufender Ärzte und Apotheker aufzubauen. Der Verband war die Idee von Dr. Ernst van Aaken, dem die amerikanische Vereinigung laufender Mediziner vor Augen gestanden war. Darüber berichtete er dem Präsidenten des Bayerischen Sportärzteverbandes, Eugen Goßner. Bei ihm war Borchers damals Assistenzarzt. Goßner schlug ihm vor, ob er nicht einen solchen Verband wie in den USA gründen wolle. So geschah es am 2. Dezember 1978 in München. Der Satz in der Zielsetzung des DVLÄ gilt nach wie vor: „Zukünftig wird es nicht mehr in erster Linie darauf ankommen, eine Krankheit zu heilen…, sondern vielmehr darauf, das Auftreten einer Erkrankung zu verhüten.“

Allerdings, eine solche Resonanz wie der Organisation in den USA war dem DVLÄ nicht beschieden. Die Aktivitäten des Verbandes bestanden in der Hauptsache aus den Aktivitäten des Vorsitzenden, die regelmäßige Veranstaltung von Fortbildungstagungen, deren Besuch auf die Bezeichnung „Sportmedizin“ angerechnet werden konnte, die Herausgabe einer Schriftenreihe „Ausdauersport“, die jährliche Verleihung eines Van-Aaken-Preises, die Organisation von Laufveranstaltungen für Ärzte, der Kontakt zu Sponsoren, die Ausdauersportwoche in Bad Arolsen. Die Sekretariatsarbeit vollzog sich hauptsächlich in der internistischen Praxis von Dr. Borchers. Wenn eine Geld-Ausgabe fällig war und es war kein Geld mehr in der Kasse, schoß Dr. Borchers aus privaten Mitteln zu. Um so überraschender war es daher, als nach meiner Erinnerung drei Mitglieder satzungsgemäß seine Enthebung vom Amt des Vorsitzenden beantragten, weil angeblich die Geschäftsfähigkeit des Verbandes in Gefahr war. Der Antrag wurde abgewehrt. Doch wenige Monate später war die Vorstandswahl fällig. Vor zehn Jahren schrieb ich: „Nach fünfzehn Jahren sehr einsamer Vorsitzenden-Arbeit wurde Dr. Borchers unter dubiosen Umständen abgewählt.“ Er hatte ohnehin die Zeit für einen Wechsel reif gesehen, stellte sich aber auf Zureden einiger Mitglieder, mich eingeschlossen, wieder zur Wahl. Doch wir waren auf jener Versammlung in der Minderzahl; die Abwahl war offenbar organisiert. Eine Geste der Wiedergutmachung wurde Dr. Borchers erst vor zehn Jahren zuteil, als er zum Ehrenvorsitzenden ernannt wurde.

Vom DVLÄ abgesehen, – eine detaillierte Auflistung der Funktionen von Dr. Borchers außerhalb der ärztlichen Praxis läßt sich wohl kaum vollständig aufstellen. 32 Jahre lang war er Lehrbeauftragter der Universität Augsburg für Sportmedizin. Er war Olympiaarzt bei den Olympischen Spielen 1972 in München, wissenschaftlicher Betreuer des Deutschen Seniorenlaufes in Bad Grönenbach, gründete die ersten Koronar-Sportgruppen in Augsburg und wirkte als Betreuer, war erst Kreissportarzt, dann Bezirkssportarzt des Bayerischen Landes-Sportverbandes, referierte bei der Übungsleiterausbildung, baute eine Sportmedizinische Untersuchungs- und Beratungsstelle auf, war Bezirkssportarzt des Diözesanverbandes Augsburg, einige Jahre Vorsitzender der Schwäbischen Sportärzte im Bayerischen Sportärzteverband, war Mitglied des Sportbeirates der Stadt Augsburg, Sportabzeichenprüfer und Trainer für ambulante Herzgruppen, einige Jahre Vorstandsmitglied im Kneipp-Bund, Landesverband Bayern, Nordic-Walking-Trainer für Diabetes-Gruppen, kardiovaskulärer Präventionsmediziner der Deutschen Gesellschaft für kardiologische Prävention und Rehabilitation von Herz-Kreislauf-Erkrankungen.  

Die Anerkennung für diese und andere Aktivitäten drückte sich in zahlreichen Auszeichnungen aus, darunter dem Bundesverdienstkreuz am Bande, der Ehrennadel des BLSV in Gold mit kleinem Kranz, der Goldenen Verdienstnadel der Stadt Augsburg, der zweimaligen Verleihung der Vesalius-Medaille für Verdienste um die ärztliche Ausbildung.

Im Jahr 1982 reiste Dr. Borchers mit Hermann Gmeiner, dem Begründer der SOS-Kinderdörfer, nach Tibet zur Eröffnung eines neuen Kinderdorfes. Das und der Kontakt zum Dalai Lama schlugen sich in Vorträgen über Menschenrechtsverletzungen in Tibet und in Photoausstellungen nieder. Nach der deutschen Wiedervereinigung, in einer Zeit, als es vielen mit der Beseitigung der Grenzanlagen nicht schnell genug gehen konnte, versuchte Dr. Borchers möglichst viele Hinterlassenschaften des DDR-Regimes, von Teilen einer Grenzbefestigung bis zum Trabant, zu sammeln; sie sind in einer Ausstellung zugänglich gemacht und einem der DDR-Museen übergeben worden.

Über die Jahre hinweg stand ich in sporadischem freundschaftlichem Kontakt zu Hans-Henning Borchers. Daher weiß ich, daß ihn die Umstände seiner Abwahl im DVLÄ und die folgende Kommunikationslosigkeit tief getroffen haben. Jahre später hat er dann wohl, nicht zuletzt dank seinen anderen Aktivitäten, seinen Frieden gefunden. Die Bilanz seines Lebens: Er hat sein persönliches Leistungsprofil als Ausdauersportler mit der Sportmedizin verbunden.

Es gehört zu den tragischen Momenten, daß ein Mensch wie er, der nie geraucht und keinen Alkohol getrunken hat, von einer tödlichen Krankheit ereilt worden ist. Die letzte Diagnose hat ihm die Begrenztheit seines Lebens deutlich gemacht. Wer ihn kannte, spürt nun eine Verarmung.

Photos: Sonntag

Eintragung vom 17. September 13

Laufen ist Alltagskultur (Schulke), hat Festcharakter (Lutz), ist Marktplatz (Lutz), ist eine Art, Leben zu bewältigen. Laufen ist als Therapie entdeckt. Es hat sich als Wirtschaftsgenerator entwickelt. Laufen ist eine Sportart – mit sehr vielen Variationsmöglichkeiten. Doch es ist, anders als andere Sportarten, weit mehr als Sport.

 

So betrachtet, wundert es nicht, daß so viele Läufer schreiben und professionelle Schreiber laufen. Schon daher liegt eine enge Verbindung des Laufens zur Literatur nahe. Der universelle Charakter des Laufens – siehe oben – paßt zum universellen Charakter der Literatur.

Diese Verbindung ist selten wohl ein rationaler Prozeß. Läufer wie der Gründer und langjährige Manager des Berlin-Marathons, Horst Milde, bemühen sich, den Läufern Bausteine der Universalität des Laufens an die Hand zu geben. Horst Milde fördert das Sportmuseum Berlin, das dank seiner Initiative den Rang eines AIMS-Museums erhalten hat. Er hat Werke der Bildenden Kunst zum Thema Laufmotive gesammelt, und er hat sich frühzeitig mit einem Experten, der aus Neigung zum Experten geworden ist, zusammengetan, nämlich Detlef Kuhlmann, der damals in Berlin beschäftigt war. Kuhlmann begann, zum Berlin-Marathon schreibende Läufer der Öffentlichkeit vorzustellen. Das war vor 25 Jahren.

Der vierzigste Berlin-Marathon – zumindest beim Laufen wird ja die vierzig gefeiert, weil es von fünfundzwanzig bis fünfzig so weit ist – bringt also ein weiteres Jubiläum, 25 Jahre Berliner Literatur-Marathon. Zum 25. Mal finden sich vor dem Berlin-Marathon Lauf-Autoren ein, um aus ihren Aufzeichnungen zu lesen.

Wie immer man „Literatur“ in engerem Sinne, nämlich als schöngeistiges Schrifttum, definiert, – es hat nicht alles literarische Qualität gehabt, was in Berlin vorgetragen worden ist. In dieser Hinsicht hat sich in Berlin eine Entwicklung vollzogen. In den ersten Jahren konnte als Autor jeder lesen, der sich als Lauf-Autor verstand. Lauf-Autoren sind im Grunde alle, die ihre Reflexionen über Lauferlebnisse zu Papier gebracht haben. Die Zuhörer bekamen also auch das vorgesetzt, was sie in ihrer Laufzeitschrift als Erlebnisbericht hätten lesen können. Später sind die Lesungen auf namhafte, professionelle Autoren, zu deren Professionalität auch eigenes oder geliehenes Marketing gehörte, beschränkt worden.

Auch der Charakter der Darbietungen hat sich gewandelt. Wir haben Lesungen erlebt, die im engen Einzugsbereich der Marathon-Messe stattfanden. Das hatte den Vorteil der kontinuierlichen Zugänglichkeit; jeder halbwegs Neugierige konnte dazustoßen und sich ebenso freizügig auch wieder entfernen. Der akustische Hintergrund allerdings erwies sich als überaus störend. Wir haben Lokalitäten erlebt, die man im Messegelände suchen mußte – Literatur für Kenner im räumlichen Sinne des Wortes. Auch eine Bühnendarstellung wie im Theater gab es, abgehoben vom Anmelde-Betrieb der Messe. Der neue Stand ist die Darbietung in der „Kunstfabrik Schlot“, einem Industriedenkmal in der Invalidenstraße, Nähe Friedrichstraße. Der Schlot war ursprünglich als Jazz-Keller hergerichtet; „Runner’s World“ hatte hier auch seine jährliche PR-Veranstaltung ausgerichtet. Inzwischen hat sich der Schlot jedoch auch Kleinkunst-Veranstaltungen geöffnet. Anfangs hatte man den Zugang suchen müssen; inzwischen ist er wohl im lokalen Bewußtsein.

Die Lesung findet eine Woche vor dem Marathon statt, die nächste also am Wahlsonntag, dem 22. September. Da die wenigsten Marathon-Teilnehmer eine Woche vorher nach Berlin anreisen, schränkt das die potentiellen Besucher auf die in oder bei Berlin Wohnenden ein.

Lange Jahre stand die Beteiligung am Literatur-Marathon jedem offen, der mit seinem Griffel Lesbares zustande brachte – er mußte sich nur melden. Das bedeutete, daß die Literatur des Literatur-Marathons hauptsächlich dem entsprach, was man auch in Laufzeitschriften, die, versteht sich, keinen literarischen Ehrgeiz haben, finden kann. Dann ist das Ruder herumgeworfen worden; man mußte schon einen sehr bekannten Namen haben, um in Berlin lesen zu können. Damit ist der Autoren-Kreis drastisch minimiert worden. Sollte es einen bisher verborgenen Lauflyriker geben, – er hätte, zumindest wenn er nicht schon in Laufzeitschriften publizieren würde, keine Chance, in Berlin aufzutreten.

Das Programm der Jubiläumslesung jedoch bricht mit beiden Konzepten. Hier wird das von Detlef Kuhlmann herausgegebene Buch „Lit. Berlin-Marathon. Texte von der Strecke“ vorgestellt; Konzept des Bandes ist, daß in ihm bereits in Büchern publizierte Texte aus vierzig Jahren versammelt sind. Da vierzig Jahre zumindest in der Laufszene eine lange Zeit sind, wirken die Texte durchaus originär. Die Frage der Qualität läßt sich abhaken. Es ist anzunehmen, daß der Band näher am Lesebedürfnis der Läufer steht als vor bald zwanzig Jahren das „LaufLESEbuch“. Autoren des neuen Bandes, die in Berlin wohnen oder solche, die eine Reise nach Berlin nicht scheuen, werden den Jubiläums-Literaturmarathon bestreiten – ein Konzept, das sich freilich nicht so bald wiederholen läßt.

Zum 25. Mal wird Detlef Kuhlmann, der seit einigen Jahren Professor in Hannover ist, die Veranstaltung moderieren. Das Veranstaltungsjubiläum ist damit auch sein persönliches Jubiläum. Der Dank der bisher beteiligten Autoren – Silitoe hat uns leider verlassen müssen – ist ihm, meine ich, sicher. Er hat es immer verstanden, das Läuferpublikum zu interessieren und die Lesung freundlich-objektiv zu moderieren. Da die Veranstaltung das Budget des Berlin-Marathons nicht belastet, ist zu hoffen, daß der Brückenschlag vom Laufen zur Literatur – nach welchem Konzept auch immer – fortgesetzt wird.

Photo: Sonntag

Eintragung vom 10. September 13

LaufReport hat, wenn ich mich an reichlich zehn Jahre zurück erinnere, noch nie Notiz davon genommen. Wahrscheinlich, weil der Stoff viel zu unseriös für ein seriöses Laufmagazin ist. Schluß jetzt mit der Vornehmheit! Hier ist doch eine Entwicklung zu beobachten!

Ich erinnere mich, daß Stefan Schlett, dessen Läuferleben eine Geschichte menschlicher Herausforderungen vereint, einmal über eine solche Veranstaltung berichtet hat. Es war der Prutmarathon in Schermerhorn in Westfriesland, zwischen Ijsselmeer und Nordsee. Keine Rede von Marathon! Damals jedenfalls war es eine 1,2 Kilometer lange Runde, die dreimal zurückgelegt werden mußte. Der Prutmarathon ist ein Lauf durch Poldersümpfe; morastige Wiesen wechseln mit sumpfigen Kanälen. Schlett beschreibt das so: „Meine Füße steckten bis zu den Knöcheln im Schlamm, der ganze Körper ist mit matschigen Erdklumpen verklebt, im Mund habe ich den Geschmack von fauligem Brackwasser. Aber davon spüre ich kaum etwas, auch nicht den Dreck, der Mund, Nase und Augen verklebt. Ich höre nur die grölenden Zuschauer…“ („Fit for Life“ 10/97).

 

Dieser Schlammlauf wird seit 1978 veranstaltet. Weitere Schlammläufe in Nordholland folgten. Längst muß jedoch, wen es zu fauligem Brackwasser zieht, nicht mehr in die Niederlande fahren. Es hat sich auch in Deutschland eine ganze Szene gebildet; nur eben – die Veranstaltungen sind fast immer allein von Lokalblättern wahrgenommen worden. Die Sieger gehen wohl kaum in die Annalen der Leichtathletik ein. Es ist eine eigentümliche Mischung von Sport und Spektakel. Selbst die Definition ist, zumindest auf Deutsch, nicht eindeutig. Gewöhnlich werden die Veranstaltungen als Hindernisläufe bezeichnet. Doch darunter versteht man auch eine offizielle Sportdisziplin der Leichtathletik, mit ganz präzisen Normen.

Bei den „wilden“ Hindernisläufen gibt es keine Normen. Man findet sie auch nicht im Volkslaufkalender. Offenbar besteht auch keine zentrale Organisation. Der einzige Weg, Informationen zu sammeln, führt über das Internet. Über youtube kann man verschiedene Video-Filme über einschlägige Veranstaltungen sehen. Auf diese Weise bin ich zum „Motorman Run“ in Neuenstadt am Kocher gestoßen, der am 7. September zum drittenmal stattgefunden hat. Die Idee hatte ein Event-Manager, organisiert wird die Veranstaltung von dem 28jährigen Sportmanagement-Studenten Stefan Rüdele. Die Teilnehmerzahl hat sich von etwa 500 auf über 1600 vergrößert. Welcher Volkslauf könnte sich einer mehr als Verdreifachung der Teilnehmerzahl in nur drei Jahren rühmen? Der Kurs führt über 7 Kilometer und etwa 30 Hindernisse; die Teilnehmer haben die Wahl zwischen 7 und 14 Kilometern. Versteht sich, daß der Parcours als der härteste in Baden-Württemberg bezeichnet wird. Barrikaden sind zu erklettern, Strohrollen zu überwinden, Betonröhren zu durchkriechen und immer wieder durch Lehmbrühe – dies im Land der Kehrwoche. Doch die Zuschauer wollen ja gezeichnete Teilnehmer sehen. Vorbild war der Tough Guy in Wolverhampton bei Birmingham. Er empfiehlt sich mit den Worten: „Schmerz, Ohnmacht und Erschöpfung sind beim Tough Guy Race Euere ständigen Begleiter.“ Na ja, mit der Ohnmacht, das ist wohl nicht so wörtlich zu nehmen. Der Lauf, der im Januar stattfindet, wird seit 1986 veranstaltet.

Große Worte werden überall geführt, aber geradezu verschwenderisch gehen die Organisatoren von BraveheartBattle (am 8. März 2014) mit ihnen um. Versteht sich, daß „man durch die Hölle geht“. Wo ist die Hölle? In Münnerstadt. In der Hölle betet man – hier das Braveheart-Gebet: „Auf den Knien lege ich mein Schwert in eure Hände, auf das meine ganze Kraft nur eurem Willen zur Verfügung steht. Ich werde nicht eher aufhören, bis Ihr mich aus diesem Verhältnis entlasst oder ich im Kampf gegen die 26km zu Boden gehen werde. All meine Kraft werde ich aufbringen, auf das man noch Jahre später von diesem Lauf reden wird, und den Helden, die ihn bestritten.“ Ich hätte das im Wortlaut zitierte Gebet auch als Beispiel für die verderblichen Wirkungen des Doppel-S beim rückbezüglichen „dass“ nehmen können – immer weniger Menschen unterscheiden noch korrekt zwischen dem Artikel das und dem rückbezüglichen dass (deshalb beharre ich bei letztgenanntem auf der Schreibweise mit ß!). Wer dann also nicht zu Boden gegangen ist – „Nur ca. 10 % Asphaltstrecke“ -, kann auf dem Kilometerschild 26 lesen: „Ja, sie mögen uns das Leben nehmen, aber niemals nehmen sie uns unsere Freiheit!!!“ Ein Lauf für Masochisten? Die Warteliste ist voll – bereits jetzt ist die Veranstaltung ausverkauft. Das Limit sind 3000 Läufer.

Beim Men’s-Health-Urbanathlon, einem „City-Fun-Race“ über 1000 Treppenstufen und 200 Höhenmeter in Hamburg, sind es etwa 4500 Teilnehmer. In der Ausschreibung wird auch verraten, wie man Urbanathlon spricht, nämlich so: „Ör Bä nett lonn“.

Weiter im Internet: Der Airborne-Fit-Run, von eben demselben Verein veranstaltet, ist ein Benefizlauf. Der dritte hat, wie der Motorman, auch erst am 7. September stattgefunden – immer diese Überschneidungen! Allerdings liegen die beiden Runden von je 10 Kilometern am Standortübungsplatz in Oldenburg-Bümmerstede, Ecke Sandkruger Straße – Sprungweg. Auch das gibt es: einen Cross de Luxe, einen Hindernislauf im ehemaligen Tagebau bei Leipzig. „Spüre die Kraft, erlebe Laufen in einer neuen Dimension! Nichts kann dich aufhalten!“ Kein Wildschwein und kein Wolf! Der Harzer Keiler Run findet in Hörden am Harz statt, der Wolfsman Run hat sich in Zirndorf ereignet. Wen es nach Zirndorf ziehen sollte, darf den letzten Satz der Ausschreibung nicht überlesen: „Liebe Teilnehmer, leider müssen wir euch mitteilen, daß das Ordnungsamt den Wolfsman Run & Rock 2013 nicht genehmigt.“

Sic transit… Wie kommen wir denn darauf? Ach ja, über den Limes-Run in Bad Gögging. Der wirbt mit "Nil mortalibus ardui est – nichts ist den Sterblichen zu schwer!“ Wer die Ausschreibung gelesen hat, verläßt sie humanistisch hoch gebildet; er wird kein Finisher sein, aber ein Perfector. Für ihn wird es am Schluß heißen: Aquam foras, vinum intro! Raus mit dem Wasser, rein mit dem Wein!“

Photo: Wikipedia

Eintragung vom 3. September 13

Falls es Läufer gibt, die mir übel wollen, hätten sie es leicht; sie brauchten nur zu recherchieren. Vor einigen Jahren noch hätte der Klick auf die Website mit den Ergebnissen des Rom-Marathons 2003 genügt. Diesen Anblick wollte ich mir wieder verschaffen, aber die Seite finde ich nicht mehr. Es werden nur die Ergebnisse des Maratona di Roma in diesem Jahr angezeigt. Angeblich jedoch verliert das Netz nichts, und also ist es möglich, daß jemand auf diese Seite stößt. Sie ist insofern bemerkenswert, als sie nicht nur die Namen der Finisher und nach meiner Erinnerung wohl auch die der „Did-not-Finisher“ enthält, sondern auch die Namen der Disqualifizierten. Ja nun, was ist daran bemerkenswert? Da findet sich auch mein Name.

Pause. Ringsum Verlegenheit. Der Werner Sonntag disqualifiziert? Ich bestätige: Ja, disqualifiziert. Schreckliche Vorstellungen tauchen auf: Hat er einen Teil der Marathonstrecke mit der U-Bahn zurückgelegt? Hat er einem Läufer ein Bein gestellt? Hat er betrogen? Gar Trinkwasser vergiftet?

Es ist zehn Jahre her – ich kann es nochmals erzählen. Ich stehe auf der Disqualifizierten-Liste, weil ich gelaufen bin, wo ich nicht laufen durfte.

Jetzt mal von Anfang an. Ich hatte das ganze Marathon-Paket bei einem Laufreise-Veranstalter gebucht, der Reiseleiter ein Marathonläufer. Auch er wollte den Rom-Marathon laufen. Immer wenn ich eine Marathonreise unternahm und es mir zeitlich leisten konnte, habe ich mir am Tag vorher das Startgelände angesehen. In Rom war das nun nicht nötig, es gab ja einen Reiseleiter. Ich hätte nachdenklich werden sollen: Die Reiseunterlagen hatte ich 42 Stunden vor dem Abflug bekommen, die Startgebühr mußte ich wie andere auch bei der Abholung der Startnummer nochmals zahlen, obwohl wir sie mit dem Reisepreis an den Veranstalter überwiesen hatten.

Der Reiseleiter beabsichtigte, mit uns im Bus des öffentlichen Nahverkehrs zum Start am Kolosseum zu fahren; das Hotel lag in der Nähe des Vatikans. Abfahrt kurz vor 8.30 Uhr. Der Start war um 9.25 Uhr. Abfahrt mit einem öffentlichen Verkehrsmittel knapp eine Stunde vor dem Start? Ich hatte gelesen, man möge anderthalb Stunden vor dem Start im Startbereich sein. Ich war so frei, dies dem Reiseleiter coram publico zu sagen. Was ich denn so lange vor dem Start machen wolle? Zack, der Reiseleiter hatte mich verbal abgewatscht. Wenn ich doch bloß stur geblieben wäre und mir ein Taxi für den Morgen bestellt hätte!

Am Sonntagmorgen lungerten wir relativ lange in der Hotelhalle herum, denn wir waren alle pünktlich gewesen, und gingen dann zur Autobushaltestelle. Dort warteten wir, warteten wir. Außer uns wartete keiner. Statt des Busses kam nach ungefähr zehn Minuten ein Dienstfahrzeug der Verkehrsbetriebe, und der Fahrer informierte uns darüber, daß kein Bus mehr verkehre – nämlich wegen Marathon! Der Aufbruch vollzog sich in rasender Eile, die Gruppe war im Nu zersprengt, als hätte es nie einen Reiseleiter gegeben. Bis zum Startgelände waren, wie ich später eruierte, 3,2 Kilometer zurückzulegen. Etliche, die Geld dabei hatten, winkten Taxis, wie ich später hörte, und gewannen die entscheidenden Minuten. Bereits startfertig zu sein, also keine Kleidung abgeben zu müssen, bedeutete ebenfalls einen Vorteil. Alle versicherten später, unter solchem Streß seien sie noch nie gestartet. In der Ausschreibung des Reiseunternehmens hatte es geheißen: „Unsere Reiseleitung wird sie pünktlich zum Startbereich begleiten.“ Die Reiseleitung begleitete nicht, sondern stürmte voran. Ich hastete ihr etwa zehn Meter hinterher. Der Abstand vergrößerte sich, am Kolosseum verlor ich im Menschengewühl den Reiseleiter ganz aus den Augen.

Wo waren die Kleiderbusse? Ich mußte fragen. Mein Bus war zudem ganz hinten. Kaum daß ich meinen Rucksack abgegeben hatte, rollten die Busse auch schon von dannen. Doch da war ja die Riesenkolonne der Starter, sie bewegte sich der Startlinie zu. Durch eine Lücke der Absperrung drängte ich mich hinein. Nach zehn Minuten ging es los. Ebenso lange brauchte ich, bis die Erkenntnis reifte: Dies ist kein Marathon. Es war der Fun-Lauf, der nach dem Marathon gestartet worden war. Zurück konnte ich nicht mehr, zehntausend oder Zehntausende von Menschen sind stärker. Also lief ich die vier oder fünf Kilometer. Vor zehn Jahren schwankte meine Marathonzeit zwischen 5:08 (München) und 5:49 Stunden (Médoc). Beim Rom-Marathon hat man sieben Stunden Zeit. Das würde reichen. Zwar hatte ich ja nun schon etwa 8 Kilometer in den Beinen, aber für einen Ultraläufer ist so etwas kein Problem.

Doch man ließ mich nicht mehr an die Startlinie – „Closed!“ Zweimal noch erklärte ich anderen Absperrposten, daß ich am falschen Start gewesen sei – „Closed!“ Also außen an den Absperrgittern entlang, ohne über die Matte zu laufen, bis der Marathon-Kurs freien Zutritt gewährte. Einige Kilometer konnte ich laufen, dann wies mich ein sitzender Posten an, den Kurs zu verlassen. Meine Antwort bestand darin, daß ich das Tempo etwas anzog. Eines jedoch hatte ich nicht bedacht: Ich trug noch immer meine Startnummer. Nichts einfacher für den etwas übergewichtigen Posten, als die Startnummer zu notieren. Die Fehlhandlungen hörten nicht auf: Während ich floh, verpaßte ich eine Abbiegung, fand zwar die Strecke wieder, aber in der verkehrten Richtung. Ich bemerkte es, als mir Polizeimotorräder entgegenkamen, die den Ersten, einen Kenyaner, begleiteten. Da endlich gab ich auf, ich verdrückte mich hinter die Absperrung und war fortan Zuschauer, einer mit Startnummer.

Ich war der einzige aus unserer Gruppe, der die Startlinie nicht mehr rechtzeitig erreicht hatte. Die Sportfreunde konnten mich verstehen, daß ich es damit nicht bewenden lassen wollte. Ich bemühte einen Rechtsanwalt; ich wollte ein Urteil erreichen, wonach ein Marathonreiseveranstalter den Zweck einer Reise nicht erfüllt, wenn durch sein Verschulden ein Start nicht möglich ist. Selbst das erhoffte „Grundsatz-Urteil“ eines Amtsgerichts ging schief. Zwar bekam ich die verlangte Hälfte des Reisepreises, 600 Euro, aber es war ein „Versäumnis-Urteil“. Der Reiseveranstalter hatte weder auf die Forderung noch auf die Festsetzung eines Gerichtstermins reagiert. Da er oder sein Rechtsvertreter nicht vor Gericht erschienen, fällte das Gericht wie üblich ein Urteil für den Kläger, also mich.

Was also ist von dieser verpatzten Laufveranstaltung geblieben? Meine Disqualifikation beim Rom-Marathon im Jahr 2003. Offenbar hätte ich später dennoch wieder in Rom starten können. Die jetzige Ausschreibung enthält einen Passus, wonach nur zweimal Disqualifizierte nicht mehr in Rom starten dürfen.

Eintragung vom 27. August 13

So beiläufig es wirkt – das Thema ist dringend. Jedenfalls für mich. Doch dazu muß ich wohl sehr früh beginnen zu erzählen, im Jahr 1967 nämlich (sofern mich meine Erinnerung nicht täuscht). Da lernte ich Dr. med. Ernst van Aaken kennen. Er war für mich, der ich erst im Jahr zuvor mit dem Laufen begonnen hatte, der „Herr Doktor“, allenfalls daß ich mir die nach meiner Ansicht vertrauliche Anrede „Herr Doktor van Aaken“ erlaubte. Schließlich kannten wir einander ja kaum. Ein „Herr Doktor“ war damals immerhin eine hohe Respektsperson, gewissermaßen ein Gesundheitsvormund. Da ich keinem Sportverein angehört hatte, übertrug ich die Gepflogenheit der höflichen Anrede aus dem bürgerlichen Leben auf den Sport. Auch den Hafenarbeiter, wenn ich ihm denn begegnet wäre, hätte ich schon aus Höflichkeit gesiezt.

Der Landarzt aus Waldniel fackelte jedoch nicht lange, er duzte wie selbstverständlich jeden Läufer, jede Läuferin. Die adäquate Antwort war, daß wohl jeder Läufer auch den Ernst duzte. Mit der zunehmenden Teilnahme an Wettkämpfen wuchs die Zahl der Du-Partner, bis das Du zur Regel wurde. Das „Sie“ blieb gegenüber denjenigen vorbehalten, die einer vermeintlich höheren sozialen Schichtung angehörten. Doch diese gebrauchten meistens von sich aus das Du. Wirkt ja auch blöd, wenn man nackt unter der Dusche steht, zu fragen: „Herr Professor, könnten Sie mir wohl etwas von Ihrem Shampoon abgeben?“

Dann strukturierte sich die Ultraläuferschaft. Da kamen wir im Vorstand der Deutschen Ultramarathon-Vereinigung überein, das Du als Umgangsform mindestens unter den Mitgliedern vorauszusetzen. Das ist nicht nur akzeptiert, sondern auch auf alle Ultraläufer ausgeweitet worden.

So – und jetzt zur Gegenwart. Beim Mauerweglauf in Berlin kam ich in zumindest flüchtigen Kontakt mit fast allen Teilnehmern. Eine ganze Anzahl sprach mich an, viele davon sagten „Sie“ zu mir, dem „Herrn Sonntag“. Ist das die Strafe dafür, daß ich nicht mehr an Wettbewerben teilnehmen kann? Offenbar nicht. Wenn es zu einem kurzen Gespräch kommt, stellt sich übereinstimmend heraus: Die Gesprächspartner gebrauchen die bürgerliche Anrede „aus Respekt“, wie sie sagen. Das ehrt mich, aber ich empfinde auch eine Distanzierung.

Die Anredeform „Sie“ gebrauche ich, wenn ich Bücher verkaufe und es zu einem e-mail-Wechsel kommt. Nicht selten werden Bücher von den Bestellern verschenkt. Wenn Läufergattinnen ein Buch bestellen, scheue ich mich davor, sie zu duzen. Ich weiß ja nicht, ob sie selbst laufen; außerdem fühle ich mich in der Rolle des höflichen Kaufmanns.

Anders ist es im Umgang in der Laufszene. Ich bin ein Ultraläufer, und ich hoffe, ein Ultraläufer geblieben zu sein, auch wenn ich nicht mehr Ultra laufe. Ich denke, das gilt für alle von uns, die „alten Knacker“. Die Differenzierung der Anredeform ist ja nichts weiter als eine gesellschaftliche Gepflogenheit; in vielen Ländern gibt es diese Differenzierung nicht. Und auch bei uns, im Gebiet Deutschlands, ist die Anrede in der dritten Person Plural erst wenig mehr als lächerliche 250 Jahre alt. Ich habe nachgelesen: Ursprünglich sagten alle Du zueinander. Doch als die höheren Standespersonen im Pluralis majestatis von sich sprachen, entstand im 9. Jahrhundert das Ihr. Ein Plural löste einen anderen Plural aus. Im Adel und im Bürgertum sprachen selbst Eheleute miteinander in der Ihr-Form. Im 16. Jahrhundert trat an die Stelle des Ihr die dritte Person Singular: Er. War das ein besonderer Ausdruck von Höflichkeit, den anderen gewissermaßen zu abstrahieren? Dann degenerierte das Er zur Anrede nur gegenüber Untergebenen und Abhängigen. Im 18. Jahrhundert bürgerte sich das Sie ein; seit etwa 1740 ist es allgemein gebräuchlich.

Regional haben sich frühere Anredeformen bis ins 20. Jahrhundert erhalten. Das als höflich oder distanzierend geltende Sie ist jedoch in unserer Zeit mehr und mehr aufgeweicht worden. Das Internet hat diesen Prozeß rapide beschleunigt. Im Sport ist das Du schon lange gebräuchlich. Die Bezeichnung „Damen“ und „Herren“ bei Klassenangaben steht in merkwürdigem historisierendem Gegensatz dazu.

Im Ultralauf waren wir so wenige, daß die meisten einander kannten. Das hat sich zwar geändert, aber dafür lernten wir unter der Dusche die anderen so kennen, wie man die Menschen sonst gewöhnlich nicht kennenlernt: nackt.

Was ich also sagen will, ist: Die Absicht, dem anderen, zum Beispiel dem Herrn Sonntag, mit Respekt zu begegnen und ihn daher zu siezen, ist zwar aller Ehren wert, schafft aber Distanz. Ich kenne keinen von uns Alten, der diese Distanz unter Sportfreunden liebt. Der Herr Sonntag wird also weiterhin sagen: Ich heiße Werner.

Eintragung vom 20. August 13

Im Ramada-Hotel Alexanderplatz hingen am Sonntag um 10 Uhr an etlichen Zimmertüren noch die Schilder „Bitte nicht stören!“ Teilnehmer des 100-Meilen-Laufs auf dem Berliner Mauerweg versuchten, noch etwas Schlaf zu bekommen. Für eine ganze Anzahl freilich reichte die Zeit nach dem Einlauf gerade noch zur Vorbereitung auf die Siegerehrung. 180 der 232 Einzelläufer haben den Lauf innerhalb von 30 Stunden beendet.

Der Mauerweglauf ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert, keineswegs nur für 100-km-Läufer, die eine weitergehende Herausforderung suchen, keineswegs nur für Ultraläufer. Doch zuvor die Informationen: 232 der 250 Angemeldeten, dazu die beiden ersten Läufer von zwei 2x80-km-Staffeln und 10 Läufer von 4x40-km-Staffeln standen am 17. August auf dem Sportplatz an der Lobeckstraße in Berlin-Kreuzberg am Start. Bedingung war das Vorliegen eines ärztlichen Attestes. Na ja, für den Staatsanwalt halt; man muß die Organisatoren verstehen, sie durchbrechen immerhin tradierte europäische Streckennormen.

  Seien wir also froh, daß der Marathon als Volkssport gilt und die 100 Kilometer als Norm des Ultralaufs angesehen werden. Wenn ich das richtig verstanden habe, waren in Berlin nicht nur erfahrene Ultraläufer am Start. Selbst ein Blinder hat es gepackt – 160,9 Kilometer ohne visuelle Orientierung zu bewältigen, bleibt eine herausragende Leistung. Bereits die erste Wiederholung des Mauerweglaufs vor zwei Jahren ist als international zu bezeichnen; Läufer aus nicht weniger als 18 Nationen machten sich auf die Route.

Über das Wetter konnten wir nicht klagen. Es war warm, doch die Route, diesmal in umgekehrter Richtung belaufen, hat zum großen Teil schattige Passagen; Wind milderte zudem die Hitze. Die Warnung vor Sonnenbrand und Hitzschlag blieb eine Vorsichtsmaßnahme. Ein kurzer dünner Schauer gegen 19 Uhr ist kaum wahrgenommen worden. Dagegen zeigten sich die Organisatoren betroffen über eine Anzahl Stürze, deren Folgen auch bei der Siegerehrung nicht zu übersehen waren. In einem Fall mußte eine Läuferin ins Krankenhaus zur Untersuchung gebracht werden; die ursprünglichen Befürchtungen blieben gegenstandslos, doch das Rennen war für sie gelaufen. Die Stürze ereigneten sich bereits bei Kilometer 32 und sind wahrscheinlich auf Asphaltverwerfungen durch Baumwurzeln zurückzuführen. Manche Aufbrüche waren markiert worden; doch unmöglich, alle Unebenheiten einer solchen Strecke zu kennzeichnen.

Auch Verlaufen ist vorgekommen. Den Streckenmarkierern ist wahrscheinlich keine Verantwortung zuzuschieben. Sie haben kleine Klebezettel mit Pfeilen, diesmal in gelber Farbe, und Markierungen auf dem Boden angebracht. Eine grobe Orientierung konnte immer auch die Beschilderung „Mauerweg“ geben. Zur Strategie eines solchen Ultralaufs wird immer auch die Mahnung gehören, der zwangsläufig nachlassenden Konzentration entgegenzuwirken.

Über 300 Helfer waren eingebunden. Die 27 Verpflegungsstationen waren wieder auch Stationen der Kommunikation und der freundlichen Zuwendung. Nimmt man dazu noch die Einbeziehung des Hotels Ramada, wo das Briefing und die Siegerehrung stattfanden, die Organisation von Sanitätsposten und den Ultra laufenden Rennarzt Carsten Bölke, die Bestellung von Shuttlebussen, den Druck eines Streckenplans und die Herausgabe von Roadbook-Seiten, die mobile Musikproduktion und die Übersetzung von Informationen in Englisch und Italienisch, so ist dieser Veranstaltung, vorsichtig ausgedrückt, ein hoher Grad an Perfektion zu bestätigen.

  Die 100 Meilen legte der Thüringer Peter Flock (M 40) von Lauffeuer Fröttstädt in 15:53:45 Stunden zurück; er unterbot damit deutlich die Leistung der beiden Sieger aus dem Jahr 2011. Der Zweite ist der Italiener Federico Borlenghi (M 35) von Marathon Cremona CR554 in 16:13:41 Stunden. Der Dritte ist die Erste gewesen, nämlich Annett Bahlcke (W 45) von LG Nord Berlin Ultrateam in 17:13:09 Stunden. Ihr folgte wieder ein Italiener, Giovanni Torelli (M 55) von Roma Road Runners Club in 17:43:34 Stunden.

Auch die Plätze 4 und 5 der Männer sind von Italienern, Vito Intini und Cincenzo Tarascio, belegt worden. Den zweiten und den dritten Platz der Frauen erliefen sich Kerstin Fenzlein (W 40) von Girl to Guerilla in 18:42:31 und Martina Schliep (W40) von LG Mauerweg Berlin in 19:06:43 Stunden. In der zweistündigen Siegerehrung sind alle 174 Finisher aufgerufen worden. Ein stattliches Ad-hoc-Komitee überreichte ihnen Urkunde und Medaille. Für eine besondere Leistung, nämlich eine Zeit bis 24 Stunden, gab es eine Gürtelschnalle. Teilnehmer, die den Lauf 2011 und 2013 in der Sollzeit beendet haben, erhielten eine zusätzliche Medaille.

Was ist das Besondere an dem Berliner 100-Meilen-Lauf? Es sind ja nicht nur die 100 Meilen, die in Deutschland neue Stufe zwischen 100 Kilometer und 24 Stunden. Der Lauf ist zugleich eine politische Veranstaltung. Als Dr. Ronald Musil im Jahr 2009 mit Alexander von Uleniecki zum Marathon fuhr, äußerte er seine Idee: Man könnte, man müßte auf dem Mauerweg… Der Mauerweg wiederum ist die Idee des Grünen-Europa-Abgeordneten Michael Cramer. Man muß sich die Situation nach der Maueröffnung vorstellen: Die Errichtung einer Mauer mitten durch Berlin und rings um die Westsektoren von Berlin ist dermaßen als politische Schandtat gegen die Menschlichkeit empfunden worden, daß sie innerhalb von Monaten bis auf spärliche Reste zertrümmert worden ist. Wachstum und Investitionen sorgten dafür, daß die getrennten Stadtbezirke wieder zusammenwuchsen. Schon fragten sich Besucher, die Berlin nicht kannten: Wo stand sie denn, die Mauer? Vielfach, insbesondere in den Außenbezirken ist der Verlauf der Todeszone nicht im mindesten mehr erkennbar. Gegen politische Widerstände setzte Cramer die Realisierung eines Fuß- und Radweges auf den Spuren der Mauer durch, wobei allerdings auch Kompromisse eingegangen werden mußten. Auf diese Weise ist in den Jahren 2002 bis 2006 ein historischer Gedenkweg quer durch Berlin und entlang der westlichen Bezirke entstanden.

  Wenn man vor den Gedenkstelen, die an die Todesopfer der Mauer erinnern, immer wieder Menschen verharren sieht, besteht kein Zweifel: Dieser Weg ist angenommen worden. Er erfüllt außerdem die Funktion eines anregenden und beispielhaften Wanderweges. Die junge Laufgemeinschaft Mauerweg hat ihn sich als Laufstrecke zu eigen gemacht. Damit und dank dem 100-Meilen-Lauf ist der Weg der Gefahr entrissen, eine historische Abstraktion zu werden. Er lebt durch lebendige Nutzung.

Die Medaille des ersten 100-Meilen-Laufs enthielt das Bildnis des zuletzt erschossenen Chris Gueffroy; seine Mutter besuchte auch diesmal die Siegerehrung. Die Medaille der Veranstaltung im August 2013 trägt das Bild des ersten Todesopfers, Günter Liftin. Dessen Bruder Jürgen kümmert sich um eine Gedenkstätte, einen der fünf erhaltenen Wachttürme der Todeszone. Die politische Bedeutung der Laufveranstaltung ist vom Senat erkannt und anerkannt worden. Man wird weit suchen müssen, um einen Staatssekretär, hier Andreas Statzkowski, bei der Überreichung von Läuferurkunden und –medaillen zu erleben. Die kleine Gemeinschaft der LG Mauerweg hat in erstaunlich kurzer Zeit erreicht, daß ihre Veranstaltung öffentlich wahrgenommen wird; sportpolitisch ist sie ein neuer Ansatz.

Es ist da nur konsequent, daß der Lauf künftig jährlich ausgetragen wird. Dazu hat auch die Partnerschaft mit einem italienischen und einem britischen Club beigetragen. Mauerweglauf, Magredi Mountain Trail in den Dolomiten und Thames Path, ein Lauf entlang der Themse, bilden den European 100 Miles Club.

Für das nächste Jahr ist bereits die Anmeldeseite geöffnet. Am 16. und 17. August wird der dritte Mauerweglauf stattfinden. Start und Ziel werden im Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark im Bezirk Prenzlauer Berg sein; sie liegen damit nahe der ehemaligen Mauer. Gelaufen wird in Uhrzeigerrichtung. Ein weiterer großer Schritt: Die mögliche Teilnehmerzahl ist auf 500 erhöht worden. Zudem werden Zehner-Staffeln zugelassen. Die Schirmherrschaft wird wieder Rainer Eppelmann haben, der ehrenamtliche Vorstandsvorsitzende der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Photos: Sonntag

 Eintragung vom 13. August 13

Wenn man’s genau nimmt – ich bin bemüht, es genau zu nehmen -, ist dies hier die pure Reklame. Dennoch, ich habe mich darauf eingelassen. Wie Joey Kelly. Ihm wollte ich begegnen.

In der Vergangenheit hätte ich es einfacher gehabt. Wir standen wenigstens zweimal im selben Startfeld, so in Schwäbisch Gmünd und in Biel. Als ich seinerzeit von der Katharinenstraße – da waren damals Start und Ziel des Schwäbische-Alb-Marathons – zum Auto ging, begegneten mir Gruppen von heranwachsenden Mädchen, die Notizbücher und Kugelschreiber mit sich führten. Die Straße war erfüllt von Hysterie. Ich wunderte mich. Mir war zwar klar, daß sie dasselbe Ziel hatten, nämlich Autogramme zu erbitten; aber es paßte nichts zueinander: Heranwachsende Mädchen, die sich für einen anspruchsvollen Lauf oder einen erfolgreichen Läufer interessierten? Das gab es höchstens in der Vereinzelung.

Später erfuhr ich: Ein gewisser Joey Kelly war mitgelaufen. Er war das Ziel der aufgeregten Mädchen. Mir selbst sagte der Name nichts – ein Pop-Sänger, das ist nicht meine Welt. Möglicherweise ist es auch nicht mehr die Welt des Joey Kelly. Er hat sich, so habe ich jetzt erfahren, vom Pop-Sänger und Manager der singenden Kelly-Family zum Ausdauersportler entwickelt, zu einem, der sich sehr anspruchsvolle Aufgaben stellt. Das macht man nicht, wenn die Motive nicht echt sind.  

Da er denn schon einen Namen im Showgeschäft gehabt hat und seinen Ruf auf Ausdauerleistungen und soziales Engagement übertragen konnte, ergab es sich, daß er den Sport für die Erfüllung von Public relations nutzt. Zu seinen Kunden zählt seit einigen Jahren die Schuhmanufaktur Bär, die es beim 1. Transeuropalauf 2003 mit dem späteren Sieger, Robert Wimmer, als Werbeträger probiert hatte. Joey Kelly kommt zugute, daß er seit zwei Jahren die Entwicklung eines „Barfußschuhs“ begleiten kann, auch dies aus Überzeugung.

Die Firma Bär, deren Gründerehepaar den Betrieb nach dreißig Jahren an seine zwei Söhne übergeben hat, veranstaltet jährlich ein Sommerfest. In diesem Jahr war Joey Kelly zur Werbung für „Joe Nimble“ eingeladen. Wer wollte, konnte am 9. August mit ihm laufen. Die Firma Bär hat ihren Sitz in Bietigheim-Bissingen, nördlich von Stuttgart. Von ihrem Geschäftsgebäude sind es nur wenige Lauf-Minuten zum Bietigheimer Forst, einem schönen Laufgebiet mit vielen befestigten ebenen Wegen. Der Hauptwanderweg 10 des Schwäbische-Alb-Vereins führt hindurch. Schon dieses Laufgebiet wollte ich kennenlernen, auch wenn ich es mir nicht mehr erlaufen konnte. Ich erreichte im Gehschritt die Gruppe noch an ihrem Pausenplatz auf der 8-Kilometer-Runde und konnte zuhören, wie Joey von seinen jüngsten Lauferlebnissen und Sportabenteuern erzählte. Werbung für den Schuh des Joe Nimble fand, versteht sich, auch statt.

Ehe man mir vorwirft, ich würde auf Reklame hereinfallen: Ich war vorher schon mit der Absicht gekommen, mir ein Paar „Barfußschuhe“ zu kaufen. Denn die Tendenz ist eindeutig: Läufer sind im Hinblick auf ihre Fußbekleidung nachdenklich geworden. Man kann ihnen längst nicht mehr bloß mit Gags und Effekten kommen. Das aktuelle Diskussionsthema lautet: So wenig Schuh wie möglich. Auch wenn ich keinen Wettkampf mehr bestreiten kann, – mitreden möchte ich schon noch. Und um einen Schuh beurteilen zu können, muß man ihn tragen. Hier geht es gar um eine neue Denkrichtung – den Fuß nicht mehr panzern, sondern ihn ertüchtigen. Auch wenn ich den Joe Nimble nur zum Gehen benützen werde, hoffe ich, Erfahrungen zu gewinnen.

Was mir noch nicht gelungen ist, das ist herauszufinden, ob Joe Nimble wirklich ein Schuherfinder ist oder bloß eine Marke. Die Informationen bei Bär erwecken den Eindruck, Joe Nimble und einer der beiden Herren Bär seien zusammengetroffen. Aus der Begegnung habe sich die Entwicklung eines Schuhs ergeben. Doch über die Person von Joe Nimble wird man im Unklaren gelassen. Ich mutmaße, eine so große Rolle wird er, wenn es ihn denn gäbe, nicht gespielt haben. Schließlich ist das Laufen in „Barfußschuhen“ seit Jahren im Gespräch. Versteht sich, daß sich auch Joey Kelly damit beschäftigt hat.

Eintragung vom 6. August 13

Allzulange will ich mich nicht mit der Motivforschung aufhalten. Wenn ein Schweizer, lange Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg geboren, das Riesengebirge kennenlernen möchte, ist Heimweh-Tourismus bestimmt nicht im Spiel. Eher schon bei mir. Doch ich war nach dem Krieg ja zweimal schon hier, einmal mit meiner Mutter, weil sie den Kleinen Teich, einen der schönsten Plätze des Riesengebirges, gern noch einmal gesehen hätte, und einmal beruflich, weil ich über den Tourismus im polnischen Riesengebirge schreiben wollte. Mit Sicherheit habe ich Freund Markus nicht beeinflußt, ins Riesengebirge zu fahren.

Jetzt also schreibe ich über die Eindrücke unserer dreieinhalb Tage; dies tue ich jedoch aus Überzeugung. Was ist das Besondere am Riesengebirge? Es ist ein kleines Gebirge im Verlauf der Sudeten, an das sich ein noch kleineres anschließt, das Isergebirge. Das ist so klein, daß es fast immer nur mit dem Riesengebirge zusammen genannt wird. Geologisch wird das Riesengebirge als subalpin bezeichnet, unter der alpinen Höhenstufe liegend; jedoch unter den europäischen Mittelgebirgen ist es wohl das rauheste Gebirge. Früh schon hat sich hier die Touristik entwickelt: bereits 1880 ist der Riesengebirgsverein gegründet worden, der sich auch um das Wegenetz insbesondere im ehemals preußischen Teil verdient gemacht hat.

Markus und mich zog es dorthin, wohin es wohl die meisten Touristen zieht: auf die Schneekoppe (1602 m), den höchsten Berg der europäischen Mittelgebirge. Ausgangspunkt war Karpacz (Krummhübel). Früher war das eine ordentliche Tagestour.

 

Jetzt steigt man vom bewachten Parkplatz in eine Sesselbahn um, danach in eine weitere, und in einer Viertelstunde hat man 500 Höhenmeter überbrückt und ist bei der Kleinen Koppe auf dem Kammweg, das Ziel ständig vor Augen. Auf die Schneekoppe (polnisch Sniezka, tschechisch Snezka) führen zwei Wege. Doch wir hatten keine Wahl; der beliebte sogenannte Zickzack-Weg ist wegen Erneuerungsarbeiten gesperrt. Die Touristenmassen ergossen sich über den Jubiläumsweg nach oben.

Dieser zur 25-Jahr-Feier des Riesengebirgsvereins angelegte Weg ist der bequemere Weg. Doch der Riesengebirgsverein hat ihn wie viele andere Wege mit Feldsteinen pflastern lassen. Vermutlich sollte damit auch die Befahrbarkeit der Anlieferungswege zu den zahlreichen Bauden, typischen einfachen Berggasthäusern, hergestellt werden. Selbst der Gipfel der Schneekoppe ist auf diese Weise mit einem Fahrzeug erreichbar. Wanderungen allerdings werden durch die unebene Oberfläche nicht einfacher.

Bereits im Alter von vier Jahren war ich auf eine Besteigung der Schneekoppe mitgenommen worden, und zwar von Schmiedeberg (Kowary) über Krummhübel auf den Kamm. Alles zu Fuß – ich erinnere mich, daß mir der Rückweg sehr schwer gefallen ist. Und jetzt? Ich habe den Eindruck, daß mir als Vierjährigem der Aufstieg leichter gelungen ist. Nun, 83 Jahre später, mußte ich selbst auf dem „bequemen“ Jubiläumsweg alle Naselang eine Pause machen. Bei Herzkranken spricht man, wenn sie in der Stadt immer wieder stehenbleiben müssen, angeblich um Schaufenster zu betrachten, von der „Schaufensterkrankheit“. Ob es auch den Begriff der „Montan-Krankheit“ gibt, nämlich stehenzubleiben, weil man die Aussicht genießen will, in Wirklichkeit jedoch keine Luft mehr bekommt? Auf der böhmischen Seite gibt es zwar einen Sessellift direkt auf die Schneekoppe; aber er verkehrt wegen einer Generalüberholung in diesem Jahr nicht.

Es waren heiße Tage im Riesengebirge. Eine unaufhörliche Prozession führte von der Lift-Bergstation über das Schlesierhaus hinauf zum Schneekoppengipfel und wieder zurück. Wir wählten für den Rückweg nach Krummhübel den Fußweg vorbei an der Liftstation, da hätte man die Wanderer zählen können. Viele grüßten uns freundlich: „‘ dobry“. 2,6 Kilometer zu Tal, das konnte ja nicht so schlimm sein. Es war schlimm, eine steil bergab führende Steinwüste… Meine Pausen waren so zahlreich, daß Markus von den längsten zweieinhalb Kilometern seines Lebens sprach. An der Talstation des Liftes wartete ein Taxi, das hatte uns der offenbar heute wohlgesonnene Berggeist Rübezahl zur Fahrt zum Parkplatz geschickt. Der Fahrer verständigte sich wie wohl die meisten Bewohner zumindest der Touristenorte auf Deutsch mit uns.

 

Anderntags besuchten wir das Wohnhaus Gerhart Hauptmanns in Agnetendorf, das seit einigen Jahren als Museum offensteht, und die kleine Stadt Schmiedeberg. Zwar ist der autofreie Marktplatz sehr anheimelnd gestaltet, aber die abgenutzten Häuser verraten, daß privat kaum investiert werden konnte. Die Straßen dagegen sind größtenteils, gemessen an Deutschland, in hervorragendem Zustand; sie sind zwar nicht ausgebaut, aber sie vermitteln damit einen nostalgischen Eindruck von der Landschaft. Pferdefuhrwerke habe ich nicht mehr gesehen, jedoch Fußgänger und Radfahrer, die erhöhte Aufmerksamkeit erfordern.

Gewohnt haben wir in Schloß Lomnitz, 6 Kilometer vom Hirschberger Stadtzentrum entfernt. Was sich nach der deutschen Wende hier ereignet hat, ist ein einzigartiger Glücksfall. Ein Nachkomme der einstigen Besitzerfamilie hatte erfahren, daß das Schloß, zu einer Ruine herabgekommen, zum Verkauf stand. Mit Hilfe eines polnischen Freundes erwarb er es und später auch gleich noch den benachbarten Witwensitz, obwohl er und seine spätere Frau als Jurastudenten mittellos waren. Mit der Neueindeckung des Daches und der Türme begann der Aufbau. Er ist noch längst nicht abgeschlossen, aber es ist ein funktionsfähiges restauriertes Ensemble entstanden.

 

Das Witwenschloß ist ein stilvolles Hotel mit einem gepflegten Restaurant, das Schloß ist Museum. Der Gutshof, das später erworbene Dominium, enthält außer Wirtschaftsräumen Geschäfte für Leinwaren, Keramik und Backerzeugnisse, ein Restaurant und einen Stall für die beiden Haflinger. Die jetzigen Besitzer haben kräftige Unterstützung erhalten, und sie selbst haben dazu beigetragen, aus ihrem Besitz ein kulturelles deutsch-polnisches Zentrum zu machen.

Gegenwärtig wird eines der wenigen protestantischen Bethäuser, das disloziert werden mußte, im Lomnitzer Schloßpark wiederaufgebaut. Schloß Lomnitz ist eine Geschichte, die für deutsch-polnische Zusammenarbeit symbolischen Charakter hat.

Photos: Sonntag

Eintragung vom 29. Juli 13

Immer wenn es heiß ist, denke ich an Otto Hosse. In diesem Jahr gibt es zwar noch einen anderen Anlaß, an ihn zu denken, nämlich das fünfzigjährige Bestehen der deutschen Volksläufe, die Hosse mit Sportfreunden am 13. Oktober1963 durch seinen Jedermannslauf in Bobingen ins Leben gerufen hat. Aber Hosse war auch der erste Bundesvolkslaufwart des Deutschen Leichtathletik-Verbandes. Seine Fürsorge galt unter anderem, erinnere ich mich, dem Schutz der Volkslaufteilnehmer vor Hitze. Er trat vehement für frühe Starttermine ein. Nach meinem Geschmack war das nicht, bin ich doch einer, der abends nicht ins Bett findet und daher mit dem Aufstehen Mühe hat. Doch ich sagte kein einziges Wort, hat er doch mit seiner Fürsorge im Hinblick auf Hitzestarts durchaus recht gehabt.

Nach langer Starterfahrung möchte ich jedoch differenzieren: So berechtigt es auch ist, Erstteilnehmer an Wettbewerben vor zusätzlichen und gar noch gefährlichen Problemen zu warnen, so sehr plädiere ich auch dafür, sich an Hitze anzupassen. Wodurch paßt man sich an? Durch Hitze.

Im Verlauf eines Läuferlebens sollte man durchaus auch lernen, bei Hitze zu laufen. Denn wahrscheinlich wird man eines Tages auch an einem anspruchsvollen Lauf teilnehmen wollen. Dabei wird es vorkommen, bei sengender Hitze zu laufen. Das kann selbst auf den 100 Kilometern von Biel passieren. Am letzten Wochenende hat sich ein Hitzelauf beim Swiss Alpine ereignet. An dem frühen Starttermin hätte selbst Otto Hosse nichts zu beanstanden gehabt. Am frühen Morgen des 27. Juli herrschten in Davos nur 10 Grad Celsius. Doch bis Mittag stieg das Thermometer auf plus 30 Grad. Wer wann auch immer das Ziel erreichte, - er mußte mit der Hitze fertig werden. Zur Vorbereitung auf den Start zum Spartathlon oder zum Badwater-Lauf gehört es, bei Hitze laufen zu können.

Es versteht sich, daß man gerade beim Hitzetraining in ganz kleinen Schritten vorgeht. Insbesondere im Frühjahr, wenn der Körper lange Zeit keiner Hitze mehr ausgesetzt war, ist Vorsicht angebracht. Im Laufe des Jahres werden sich bei fleißigen Läufern immer wieder Gelegenheiten ergeben, bei Hitze zu laufen.

Ich meine, es gibt einen grundsätzlichen Unterschied, ob man sich zum Bräunen in die pralle Sonne legt oder ob man läuft. Allerdings sollte man auch beim Laufen vorher an Sonnenschutz denken. Sonnenbrand muß unbedingt vermieden werden.

Ob man an Tagen mit Rekordhitze läuft, muß individuell entschieden werden. Veranstalter jedoch sehen sich in der Pflicht. In Berlin hat man sich kurzerhand entschlossen, den 10-Kilometer-Lauf am 27. Juli in einen 5-Kilometer-Lauf ohne Zeitnahme umzuwandeln.

Übers Knie brechen sollte man gerade Hitzeanpassung nicht. Ich bin am Samstag unterwegs gewesen. Ich war auf meiner Strecke der einzige Fußgänger, kein einziger Läufer oder Walker. Mehrfach habe ich meine Wanderung unterbrochen und an schattigen Plätzen bis zu eine halben Minute verharrt. Den Samstag hatte ich gewählt, weil es an den beiden Tagen zuvor wegen eines Gewitters nur zu knapp vier und zu zwei Kilometern gereicht hatte. Ich war, gestehe ich, unvernünftig. So unvernünftig, wie Läufer sind.

Eintragung vom 22. Juli 13

Eine tollkühne Behauptung: Am zurückliegenden Wochenende ist ein Markstein gesetzt worden – mit dem 1. Eiger Ultra Trail. Lange habe ich überlegt hinzufahren; aber für einen betagten Zuschauer wie mich schien der Aufwand, die Reise und zwei Nächte mit wenig Schlaf, zu groß zu sein. Mein Urteil entbehrt daher der Anschauung. Das bedeutet jedoch nicht, daß es falsch sein müßte.

 

Wie ich in der Vorschau (24. Dezember 2012) geschrieben habe, kenne ich den größten Teil der Strecke. Es war die Zeit, als ich achtmal den Jungfrau-Marathon gelaufen bin, das letzte Mal im Jahr 2002. Jedesmal habe ich mich eine Woche in Wengen aufgehalten oder vielmehr eben nicht aufgehalten, sondern nur genächtigt und tagsüber die Jungfrau-Region erwandert. Dabei waren auch Wanderungen auf den meisten Abschnitten des E 101, des 101 Kilometer langen Ultra-Trails von Grindelwald über das Faulhorn zur Schynige Platte, hinunter zur Schwarzen Lütschine und hinauf über Wengen zum Männlichen, weiter zur Kleinen Scheidegg und am Eiger entlang zurück nach Grindelwald. Niemals hatte ich mir vorgestellt, daß meine Wanderungen einmal Teil einer Ultrastrecke sein würden.

Alle meine Wanderstrecken auf dieser Route haben ihren Reiz gehabt. Deshalb war ich begeistert, als ich von dem Plan erfahren habe, Wanderrouten zu einem 101 Kilometer langen Ultra-Kurs zu verbinden, Wanderwege, die zu weiten Teilen oberhalb der Baumgrenze verlaufen und daher den Blick auf Eiger, Mönch und Jungfrau, auf der anderen Seite den Blick auf den Brienzer See gestatten.

Die Attraktivität der Strecke ist auch anderen nicht verborgen geblieben. Oder war es der Reiz der Herausforderung? Es sind immerhin 6.690 Höhenmeter zu überwinden. Nur 14 Kilometer verlaufen auf Asphalt, alles andere sind Wanderwege und Fußpfade. Das Teilnehmer-Limit des E 101 ist bereits am 10. Juli erreicht worden. Für die „kurze“ Strecke von Grindelwald über die Schynige Platte und Burglauenen (51 Kilometer) waren schon seit dem 18. Juni keine Anmeldungen mehr möglich, und selbst für den „Schnupperkurs“ von 16 Kilometern konnten keine Meldungen mehr angenommen werden. Da die Veranstaltung größtenteils bei prächtigem Sommerwetter stattfand und daher den Teilnehmern einen einzigartigen Genuß gewährte, nehme ich an, daß die Nachfrage im nächsten Jahr noch stärker sein wird.

Das Sommerwetter dauerte jedoch, wie ich der „Jungfrau-Zeitung“ entnommen habe, nur bis zum Abend. Gegen 19 Uhr setzte ein unerwarteter Gewitterguß ein, der die Veranstalter veranlaßte, das Rennen für etwa 45 Minuten zu unterbrechen, die Läufer in die Berghäuser zu nehmen, diejenigen, die am Aufstieg zum Männlichen waren, mit der Gondel hinaufzubefördern und die Strecke um die Schlaufe zum Eigergletscher zu verkürzen. Nach der Angabe des OK-Präsidenten Ralph Näf waren knapp zwei Drittel der E101-Teilnehmer von der Änderung betroffen.

Um diese Zeit war der Schnellste bereits am Ziel; der Spanier Iker Karrera brauchte für die vollen 101 Kilometer 11:38:42 Stunden, eine Zeit, die auch von den fachkundigen Organisatoren nicht erwartet worden war. Der Zweitplacierte traf erst fünfzig Minuten später ein. Von den 32 klassierten Frauen brauchte die Italienerin Francesca Canepa 16:18:44 Stunden; auch hier hatte die Zweite einen Abstand von 48 Minuten. Das lokale Unwetter hat sicherlich eine Anzahl Läufer veranlaßt auszusteigen; nicht weniger als 30 Prozent der 101-Kilometer-Teilnehmer gaben auf. Der Zielschluß nach 28 Stunden hat durchaus die kräftigen Anstiege und mühsamen Pfade berücksichtigt; doch zwischen den letzten registrierten Einlaufzeiten und dem Zielschluß am Sonntag um 9 Uhr liegt noch ein Polster von über 6 Stunden. Unter den Aufgebenden war auch der 62jährige Peter Camenzind, der dreimalige Sieger der Bieler 100 Kilometer, der dort mit 6:37:59 Stunden den Streckenrekord gesetzt hat. Daran mag man die Anforderungen an das Leistungsvermögen der Teilnehmer erkennen; Stöcke mitzunehmen, ist nicht verkehrt gewesen. Andererseits ist es eine Strecke, die zwar eine Anzahl langer schwieriger Passagen hat und auch – im Gegensatz zu meinen Wanderungen – mehrere Schneefelder, aber nicht wirklich gefährlich ist.

Der Markstein, den ich im Eiger-Ultra-Trail sehe, ist, daß eine solche Strecke für jeden mit ausreichender alpiner Trail-Erfahrung und Kondition zugänglich ist. Da die Veranstalter, ermutigt durch die positiven Erfahrungen am Wochenende, den ersten Ultralauf im Berner Oberland auch weiterhin organisieren möchten, haben wir im Ultra-Programm eine echte Bereicherung bekommen. Auch wenn ich nicht alle Ultrastrecken in Europa kenne, vermute ich: Dies ist wohl der landschaftlich schönste Ultralauf in Europa.

Photo: Sonntag

Eintragung vom 15. Juli 13

Die Leser des Tagebuchs seien gewarnt: Ein geballter Stoff kommt auf sie zu („geballte Ladung“ ist mir zu militärisch). Die Ballung macht mir seit einiger Zeit Kopfschmerzen. Viele haben das Problem. Eine Anzahl hat es gelöst: durch Laufen. Aber ein Läufer, einer, der vor 47 Jahren mit dem Laufen begonnen hat?

All die Jahre war er ein physiologischer Begriff, nichts weiter, der Bauch, medizinisch als Abdomen bezeichnet. Ja, einmal sah ich einen älteren Läufer, den ich Jahre lang nicht mehr gesehen hatte, auf einem Photo. Kein Name, bitte! Er trug einen Bauch. Mein Hochmut ließ mich den Kopf schütteln. Was hat er nur falsch gemacht? Wahrscheinlich nicht genug gelaufen. Wahrscheinlich die falsche Ernährung.

Für mich war alles klar: Ich lief, und lebenslang war ich geschützt vor dem Fett am unrechten Platz. Ach, wenn alles so einfach wäre… Die Steigungen machten Mühe, also ging ich sie. Für den Marathon brauchte ich immer mehr Zeit. Beim Berlin-Marathon fiel es mir auf: Ich lief ihn nur zur Hälfte, die andere Hälfte legte ich im Gehschritt zurück. Im Jahr darauf ging ich ihn über die ganze Strecke. Die letzten Marathone waren auf dem Rennsteig und der C 42 beim Swiss Alpine, dazu die 100 Kilometer von Biel. Das war im Jahr 2010. Im Jahr darauf nur noch 76 Kilometer, der letzte Marathon scheiterte am Rennsteig im Regen. Noch lief ich im Training, doch die Gehstrecken wurden länger. Im vorigen Jahr war der Nullpunkt erreicht. Es blieb bei Trabversuchen über 50 Meter. Der letzte Versuch liegt nun so weit zurück, daß ich das Datum nicht mehr weiß. Ich bin zum Geher geworden, und zwar, zumal bei der Wärme, zum langsamen Geher.

Vor einigen Jahren merkte ich, daß ich Fett angesetzt hatte. Alle haben sie mir das ausgeredet, nicht aus Höflichkeit, sondern weil sie keinen Bauch erkennen konnten. Doch ich erkannte ihn. Ein Bauch, wenn er denn wächst, wächst unheimlich rasch. Die Änderungsschneiderin bekam zu tun. Die Skisachen waren im Schrank zu Kinderkleidung mutiert; ich brauchte sie ohnehin nicht mehr. Selbst einige Jacketts sind zu eng geworden.

 

Ein einziger Anzug paßte noch mit Ach und Krach; es ist mein Hochzeitsanzug, er ist 57 Jahre alt. Der Hosenschlitz ist zum Knöpfen. Damals wog ich etwa 65 Kilogramm, aber ich hatte keinen Bauch. In den aktivsten Jahren meiner Läuferkarriere blieb ich unter 60 Kilogramm, einmal sogar wog ich 56 Kilogramm. Es war die Zeit, als selbst Marianne mir sagte, ich sähe schlecht aus. Immer legte ich im Herbst etwas zu und nahm im Frühjahr ab. Offenbar ist es eine anthropologische Gesetzmäßigkeit. Im Winter gibt es weniger zu jagen und kaum etwas zu sammeln. Da sollte man eine Fettreserve haben. Im letzten Herbst legte ich wieder etwas zu, in diesem Frühjahr jedoch nahm ich nichts ab. Ich wog 65 Kilogramm – wie damals, aber ich habe einen Bauch. Auch Marianne muß es zugeben.

Ich ließ das Bier am Abend weg, ich esse weniger. Heute morgen waren es 63 Kilogramm. Dem Bauch sieht man die 2 Kilogramm weniger nicht im entferntesten an. Mein BMI (Body Mass Index) ist nicht besorgniserregend; aber der ist, weil er Fett nicht von Muskeln unterscheiden kann, ohnehin nicht mehr das Maß aller Dinge. Der Bauchumfang ist eher problematisch: 102 Zentimeter, bei einer Körperlänge von 1,65 Meter minus 1 Zentimeter Altersschwund. Ich habe mir eine Hose der Größe 58 gekauft, damit sie dem Bauchumfang gerecht wird. Die Änderungsschneiderin muß jetzt nur die Hosenbeine kürzen; damit gewinnt sie Stoff für Einsätze bei anderen gleichartigen Hosen.

Das Nachdenken hat begonnen. So sehr viel falsch gemacht habe ich nach meiner Überzeugung nicht. Mit 85 Jahren noch 76 Kilometer zurückzulegen, ist nicht gerade nur der Altersleistungsdurchschnitt. Wenn ich mir recht überlege, ist mein Training, zeitlich gemessen, nur wenig reduziert. Ich bin nach wie vor wöchentlich sieben bis zehn Stunden unterwegs, nur halt altersgemäß langsam. Ich bin seit 1981 Vegetarier und ernähre mich im Prinzip vollwertig; an meiner „Sünde“, Kaffee und Kuchen, kann es ja wohl nicht liegen.

Ich erinnere mich: Meine Mutter war wie ich klein und schlank. Doch in ihrem Todesjahr, im Alter von 86, hatte sie einen veritablen Bauch. Ohne Kaffee und Kuchen. Jener Läufer, dessen Sportdreß den mächtigen Bauch nachzeichnete, hatte womöglich nichts falsch gemacht. Er lief ja sogar noch mit dem Bauch. Sollte ich noch weniger essen? Etwas scheint’s zu bringen, zwei Kilogramm bitte. Aber der Bauch hat eher noch zugelegt. Wahrscheinlich hat irgend ein noch geheimes Sinnesorgan im Körper gesagt: O weh, es gibt wenig zu essen! Sofort Fettreserven für die Notzeit bilden! Da sind sie nun, die Fettreserven.

Komme mir jetzt keiner mit dem Vorschlag aus dem Fitness-Buch: Gymnastik! Wenn man nach elf Kilometern das Bedürfnis nach einem Ruhetag hat, weil sich die Gelenke erholen müssen, ist einem nicht mehr nach Leibesübungen, Bauchgymnastik und Purzelbäumen zumute. Trainer und Autoren von Fitness-Büchern mögen ja recht haben; aber ihre Wahrheit ist die eines jüngeren Lebensalters. Mit siebenundsiebzig habe ich mir auch noch keinen eigenen Bauch vorstellen können. Nun, zehn Jahre später, muß ich damit leben. Aber ich lebe noch.

Photo: Marianne Sonntag

Eintragung vom 8. Juli 13

Die Feste, die in Esslingen am Neckar gefeiert werden, kriege ich aus dem Gedächtnis nicht zusammen. Ich weiß nur, die Erdbeere wird gefeiert und die Zwiebel. Am 5. und 6. Juli hat das Bürgerfest stattgefunden. Es wurde 1973, also vor vierzig Jahren, zur Einweihung einer Neckarbrücke geschaffen. Die alte Brücke, über die einst sogar die Straßenbahn fuhr, dient nur noch Fußgängern und Radfahrern.

Eröffnet wird das Fest mit der Schwörfeier, offenbar einer Anleihe am Schwörmontag in Ulm, der in Erinnerung an einen Vertrag im Jahr 1397 seit 1949 insbesondere mit einer Rede des Oberbürgermeisters begangen wird. In Esslingen wird dazu jeweils ein profilierter Gastredner eingeladen. Zu einer Vergangenheit als Freie Reichsstadt – wie in Ulm – paßt eine solche Schwörfeier recht gut. Während in Ulm am kommenden Schwör-Wochenende der Sport mit dem Fischerstechen in historischer Form eingebunden ist, findet in Esslingen am Bürgerfestsonntag der City-Lauf statt, der Eßlinger-Zeitung-Lauf (der Name der Zeitung ist im Gegensatz zur Stadt Esslingen in der historischen Schreibweise mit ß beibehalten worden). Nebenbei: Warum soll auch ich nicht meine Schreibweise, die der konservativen Orthographie, für die ich gute Gründe anführe, beibehalten?

Der 14. City-Lauf war, was die Zahl von 1590 Finishern betrifft, von hochsommerlichem Wetter begünstigt. An Start und Ziel und den malerischen Abschnitten des 2,5 Kilometer langen Kurses durch die Altstadt hatten sich dichte Publikumsspaliere gebildet. Hinzu kamen die Logenplätze der zahlreichen Straßencafés und Imbißbuden. Infolge dessen ging es zuweilen ziemlich eng zu. Aber der Lauf über 10 Kilometer vollzog sich in überaus lebhafter Atmosphäre – kein Vergleich mit den einsamen Landschaftsläufen.

Freilich, die schnellen Läufer haben es nicht einfach, auf dem spitzwinkligen Kurs ständig zu überholen. Die schnellste Läuferin, Katharina Becker – mit 38:28 Minuten – , meinte laut „Eßlinger Zeitung“, sie sei auf diese Weise bestimmt 10,5 Kilometer gelaufen. Die schnellste Zeit lief Robel Mesgena, ein eingebürgerter Farbiger, mit 34:42 Minuten. Auch im Hauptfeld liefen etliche Dunkelhäutige, hier also ohne irgend ein Antrittsstartgeld oder eine Prämie. Auch in dieser Hinsicht spiegelt der Lauf die Esslinger Einwohnerstruktur; in der 92.000 Einwohner zählenden Stadt haben nicht weniger als 36 Prozent einen Emigrationshintergrund, davon fast 20 Prozent eine ausländische Staatsbürgerschaft. In der Mittelstadt, wenn auch einer großen, leben Menschen mit nicht weniger als 132 ausländischen Staatsbürgerschaften. Man muß das nicht unbedingt erstrebenswert finden; aber ein weites Feld der Integration tut sich auf. Die Beteiligung am City-Lauf, die ja schon bei den Kinderläufen beginnt, kann ein Zeichen sein.

Manche Läufer sorgten für Unterhaltung. Zwei jonglierten die ganze Zeit mit Bällen, während sie liefen. Andere hatten sich verkleidet. Ich entdeckte, passend zum Wetter, zwei Scheiche sowie einen laufenden Affen, begleitet von einer laufenden Banane. Eine Kochschule hatte ihre Mannschaft mit Kochmützen ausgerüstet. Ein Minimalist hatte sich mit seiner Sportkleidung auf eine Badehose beschränkt. Ja, er lief auch barfuß.

Die Startnummer 1 trug der Esslinger Oberbürgermeister, Dr. Jürgen Zieger; auf dem nicht einfachen Kurs mit Kopfsteinpassagen und einer leichten, aber – wie ich aus eigener Erfahrung weiß – spürbaren Steigung zum Marktplatz lief er 45:10 Minuten. Und dies, obwohl er, wie die „Eßlinger Zeitung“ berichtet, seine Uhr verloren, umgedreht und sie wieder aufgeklaubt hatte. Er belegte immerhin den 6. Platz unter den 66 Teilnehmern der AK 55 und gewann wieder den heimlichen Wettbewerb mit dem gleich altersklassigen Sportamtsleiter Max Pickl (47:17 Minuten). Professor Martin Leschke vom Esslinger Klinikum brauchte 1:05:18.  

An den Namen, auch dem eines Fußballweltmeisters von 1990, der nach der dritten Runde ausstieg, erkennt man: Der Esslinger City-Lauf ist in der Gesellschaft und der Öffentlichkeit angekommen. Eben deshalb beschreibe ich, auch für die vielen, die all die Namen, Zeiten und Lokalitäten verständlicherweise nicht interessieren, diesen Lauf. Ein Schönheitsfehler ist, daß das Alter der Teilnehmer jetzt bereits in der AK 70 endet. Dabei: Die letzte gestoppte Zeit betrug 1:27:02. Ach, hätte ich Lust gehabt, hier mitzulaufen (und mitzugehen)! Doch nach anderthalb Stunden Umhergehens, Stehens und Photographierens leistete ich es mir erstmals, auf dem Rückweg über die alte Neckarbrücke statt der Treppe oder der schrägen Ebene den Aufzug zur Brücke zu benützen. Schande über mich!

Photos: Sonntag

Eintragung vom 1. Juli 13

Was ich im folgenden treibe, ist Archäologie, Lauf-Archäologie. Ich schreibe über eine Untersuchung, die über 30 Jahre alt ist. Sie versucht, ein Problem zu quantifizieren, das bis auf den heutigen Tag aktuell ist. Traurige Aktualität hat es wieder am 23. Juni beim Halbmarathonlauf in Stuttgart bekommen, als ein Vierundzwanzigjähriger beim Zieleinlauf tödlich zusammenbrach. Wie gefährlich ist das Laufen?

Das haben drei Mediziner Ende der siebziger Jahre, also noch vor den ersten deutschen Stadtmarathonen, statistisch zu beantworten versucht. Professor Klaus Jung, damals wohl noch in Münster i. W., W. Schäfer-Nolte und H. Bresch haben das Aktenmaterial des Gerling-Konzerns, des Versicherungspartners des Deutschen Sport-Bundes, für die Jahre 1973 bis 1977 in Nordrhein-Westfalen herangezogen. Damals sind in den fünf Jahren etwa 400 Menschen im Zusammenhang mit dem Sport ums Leben gekommen. Die Autoren haben die Todesfälle auf dem Weg zur oder von der Sportstätte beiseite gelassen. Auch der Motorsport wurde nicht berücksichtigt. Damit blieben 154 tödliche Unfälle, die sich während der fünf Jahre beim Sport ereignet haben. Nach Sportarten aufgegliedert:

Fußball  
66 Todesfälle
  = 43 % der tödlichen Sportunfälle
Reiten  
15 Todesfälle
  = 9,7 %
Turnen  
12 Todesfälle
  = 7,8 %
Handball  
10 Todesfälle
  = 6,5 %
Leichtathletik  
4 Todesfälle
  = 2,6 %
Lauftreff  
2 Todesfälle
  = 1,3 %

Die Autoren haben dann die Todesfälle in Beziehung zu der Zahl der Sporttreibenden in den einzelnen Sportarten gesetzt. Daraus ergibt sich diese

Reihenfolge (Anteil der Todesfälle je 1000 Mitglieder):
Sporttauchen   0,235 %
Kegeln   0,077 %
Versehrtensport   0,077 %
Reiten   0,028 %
Kanusport   0,026 %
Fußball   0,017 %
Handball   0,016 %
Tischtennis   0,012 %
Judo   0,008 %
Leichtathletik   0,005 %
Tennis   0,004 %

Das Laufen führen die Autoren deshalb nicht an, weil die Bezugsgröße, die Zahl der Lauftreffteilnehmer, nicht präzisierbar ist. Man wird sie jedoch (siebziger Jahre) um einiges höher ansetzen können als die Zahl der Leichtathletiktreibenden oder die der Tennisspieler. Dieses Größenverhältnis hat sich im Laufe der drei Jahrzehnte noch weit stärker profiliert.

Todesursache der Sportunfälle waren zu zwei Dritteln organpathologische Veränderungen ohne traumatische Einwirkung; betroffen waren am häufigsten Fußballspieler (50), Handballer (8) und Versehrtensportler (8). Die von traumatischen Ereignissen Betroffenen waren Reiter (15), Fußballer (11) und Sporttaucher (4). Schließlich stellten sich bei 6,5 % (10 Sportler, davon 5 Fußballer) nach einem traumatischen Ereignis organpathologische Veränderungen heraus. Von den 111 Fällen, in denen Organveränderungen die eigentliche Todesursache waren, entfallen 86 auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die sportliche Belastung war nur der auslösende Faktor. Daraus erklärt sich auch die relativ hohe Todesquote bei objektiv harmlosen Aktivitäten wie Kegeln und Versehrtensport; das Durchschnittsalter liegt hier am höchsten. Die Folgerung mag erlaubt sein: Menschen, die beim Kegeln tot zusammengebrochen sind, wären anderntags vielleicht beim Schneeschippen, beim Autoanschieben oder auch auf der Toilette – wegen der Gefahr der Preßatmung sehr gefährlichen Tätigkeiten – gestorben.

Ein Vergleich: Auf 3,1 Millionen Sporttreibende in Nordrhein-Westfalen sind 1976 und 1977 je 42 Todesopfer beim Sport entfallen = 0,014 Promille. Im selben Zeitraum sind etwa 0,5 Promille bei häuslichen oder Verkehrsunfällen ums Leben gekommen. Das heißt nichts anderes, als daß die Wahrscheinlichkeit, im Haus oder auf der Straße tödlich zu verunglücken, 35 Mal höher ist, als bei der Ausübung eines Sports zu sterben. Dennoch, einige Zeitungen – wohl nicht die seriösesten – warnten damals vor dem „Joggertod“.

In dieser Beziehung haben sich die Zeiten geändert. Zwar mag in Anbetracht der Verbreitung des Lauftrainings und der zahlreichen Laufwettbewerbe die Anzahl der Todesopfer gestiegen sein, aber die Berichterstattung über Unglücksfälle ist sachlich geworden. Das Hilfssystem bei Veranstaltungen ist ausgebaut. Die in Berlin erarbeitete Empfehlung an alle Veranstaltungsteilnehmer, an Hand eines Fragebogens zu prüfen, ob vor der Teilnahme eine fachärztliche Konsultation erforderlich ist, wird von anderen Veranstaltern übernommen. Was noch zu tun ist, wäre, eine verläßliche Statistik zu schaffen. Dazu müßte jeder Todesfall, der sich in Deutschland beim Laufen ereignet, zentral registriert und nach medizinischen Kriterien bewertet werden. Es ist jedoch zweifelhaft, ob dies erreicht werden könnte.

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