Running forever

Wie Frauen zu lebenslangen Läuferinnen werden

Neu: Im LaufReport werden 3 der 24 Beiträge vorgestellt. Den Auftakt machte Dr. Erdmute Nieke, Jg. 1970, aus Berlin, die bekennt, was sie am Laufen unter anderem so liebt: Da "kann ich Elefanten in Mücken verwandeln." Der zweite stammt von Dr. Andrea Löw, Jg. 1973, aus München, die zu laufen begann, "nachdem ich mit 30 Jahren zunächst die niederschmetternde Diagnose bekam, ich müsse an beiden Hüften operiert werden, und zwar sofort." Heute ist sie erfolgreiche Ultraläuferin. Zu den Stories HIER

Ein Laufbuch mit demselben Haupttitel (Running forever), jedoch mit dem Untertitel "Das Geheimnis lebenslangen Laufens", war 2017 erschienen. Die hier vorliegende aktuelle Anthologie ist jedoch keine bloße Fortsetzung oder Ergänzung zum damaligen Konzept, es ist vielmehr eine Präzisierung und Konzentration auf ein Defizit in der Laufliteratur. Im und für den Laufsport engagierte Frauen sprechen von ihren langjährigen Lauferfahrungen. Das zugrunde liegende Konzept der Herausgeber aus dem vorangegangenen Buch in Form einer Art Gliederungsvorgabe der Beiträge ähnelt allerdings, es hatte sich bewährt. Dazu gehörte auch, dass die einzelnen Beiträge vier bis sechs Seiten möglichst nicht überschreiten sollten.

 

Das Buch "Running forever. Wie Frauen zu lebenslangen Läuferinnen werden" liegt vor mir. Die Beschriftung auf dem Cover ist groß und auffällig, darunter das Foto einer laufenden Frau. Noch habe ich das Buch nicht aufgeschlagen, ich überlege vielmehr, welchen Bezug das bunte Bild zum Buchinhalt haben könnte: Die junge Frau kommt mir auf einem sommerlichen Waldweg schnellen Schrittes entgegen. Sie hat einen freundlichen Gesichtsausdruck und fixiert mich mit den Augen in einer Weise, dass sie wahrscheinlich mit einem Gruß an mir vorbeilaufen wird. Ihr Laufstil gibt sie als geübte Läuferin zu erkennen, ihre Füße berühren nicht den Boden, sie schwebt sozusagen über den Dingen. Ich assoziiere: Sie wird schon länger unterwegs sein, sie ist warmgelaufen in Natur- und Waldatmosphäre, der Kopf ist frei, Körper und Seele sind im Einklang. Was wird sie mir bei der Begegnung gleich sagen? Ihre nonverbale Botschaft ist diese: "Ich könnte die ganze Welt umarmen, ich fühle mich herrlich!" Ja, so könnte es sein, sie ist entweder schon eine Lebensläuferin oder wird bestimmt eine werden. Ich beneide sie.

Ich öffne das Buch. Es ist in Aufmachung, Gestaltung und Qualität hoch professionell hergestellt, übersichtlich entworfen und gut zu lesen. Ich werde gleich zu Beginn von einem sehr persönlich gehaltenen engagierten Geleitwort der für den Frauenlaufsport zu einer Ikone gewordenen US-Amerikanerin Kathrine Switzer überrascht (die erste Frau, die offiziell den Boston-Marathon gelaufen ist, 1967). Es ist in aller Kürze ein mitreißendes Resümee ihres inzwischen 60jährigen Lauflebens. "(Laufen) hat mir alles gegeben, meine Gesundheit, Karriere, Selbstvertrauen, Kreativität, Religion, Liebe, Freiheit und Furchtlosigkeit". Welche Frau kann in dieser Deutlichkeit Derartiges bekennen und eine so wunderbare Persönlichkeitsbeschreibung unmittelbar dem Laufsport zuschreiben? Es macht neugierig auf die folgenden Erfahrungsberichte der insgesamt 23 Autorinnen des Buches.

 
Kathrine Switzer - Foto © Switzer

Im Inhaltsverzeichnis entdecke ich Namen prominenter Frauen aus Laufsport, Politik und Kultur, unter ihnen die >Grandes Dames< des Marathonlaufs Christa Vahlensieck und Katrin Dörre-Heinig, die geburtsblinde Spitzenläuferin Regina Vollbrecht, Ministerin a. D. Martina Münch und Bestsellerautorin Hera Lind. Zur schnellen Information finden sich zu allen Autorinnen am Ende des Buches Kurzportraits.

Das Angenehme für die Leserin oder den Leser besteht nun darin, dass an jeder beliebigen Stelle des Buchs begonnen werden kann. Ich empfehle dieses Vorgehen sogar; man sollte nur ein Lesezeichen für den späteren Wiederbeginn nicht vergessen. Der Vorteil liegt darin, den von den Herausgeberinnen vorgegebenen Aufbau eines Beitrags zu erkennen, um dann beim Weiterlesen anderer Beiträge sich mehr auf das Geschriebene konzentrieren zu können, auch Vergleiche werden leichter möglich. Der Leser hat sich jedes Mal auf eine neue und andere Frauenpersönlichkeit einzustellen, mit einem neuen und anderen Lebenskontext und anderer Art sich mitzuteilen, d. h. anderer Diktion.

 

Läuferinnen, so wird deutlich, entsprechen keineswegs einem bestimmten Typus; es haben die introvertierteren und extrovertierteren Frauen geschrieben, die mehr strukturell denkenden "Kopffrauen" und die mehr auf Harmonie bedachten Frauen. Auch die über viele Jahre oder Jahrzehnte laufenden Frauen sind individuell unterschiedlich gekennzeichnet von ihrer vorgegebenen genetischen Disposition in Wechselwirkung mit ihrer Sozialisation, ihrer Erziehung und den jeweiligen Gegebenheiten. Von daher kann und darf man die einzelnen Beiträge nicht werten, nicht nach eigenen (subjektiven) Kriterien zu messen versuchen, sondern man sollte sich jeweils auf das Verfasste mit Verstehen und Empathie einlassen, es nachvollziehen, um die immer wieder faszinierenden Lebens- und damit auch Laufbiographien der Autorinnen zu genießen und zu bestaunen. In dieser gedrängten Form ist die vorliegende Sammlung eine einmalige und aufregende Zusammenstellung.

Autorin Christa Vahlensieck mit Buch "Running forever" - Foto © Vahlensieck

Die Rolle der Lebenspartner, Ehemänner und Familienväter ist im Buch mehrmals die des Förderers, des Unterstützers ihrer Frauen, aber auch des Laufbegleiters, sogar des Trainers. Damit nicht genug - bei häufigerer beruflicher Abwesenheit oder bei Reisen zu Laufveranstaltungen, die Zeiten der Trennung bedeuten, übernimmt der Partner sozusagen die "Mutterrolle". Familiengründung wird in einigen Beiträgen aber auch thematisiert als ein konkurrierendes Problem zu Training und Laufkarriere. Die Lebenszeit von Frauen zwischen ca. 20 und 30 Jahren ist auch die Zeit für beste Laufleistungen. Starke Frauen lösen diesen (vermeintlichen) Konflikt offensichtlich öfter mühelos, die Zahl der Kinder ist zum Teil hoch und die Zahl der Lauferfolge der Mütter ebenso.

Ein weiteres Kriterium wird in einigen Beiträgen öfter angesprochen, das erwartbar ebenso eine Rolle spielt, allerdings nachrangig: Fragen der Ästhetik, z. B. das richtige Outfit, die modischen Laufschuhe, die Insidermütze, die Sportsonnenbrille usw., dazu gehörig auch feminin-körperliche Attraktivität, das Achten auf Gewicht u. ä.: wie sehe ich aus, wie wirke ich? Auch das gehört zum Laufen von Frauen.

Im Vordergrund stehen jedoch die weitgehend bekannten Bereiche des Wohlfühlerlebens, des Stressabbaus und der Gesundheit (z. B. bei Ellen Wilde, Daniela Schädler, Hera Lind), dann der therapeutische Aspekt bei sich selbst (z. B. Dr. Erdmute Nieke) und das Erforschen seiner Effekte (Prof. Dr. Sabine Mertel), und nicht zuletzt Training und Steigerung der Laufkompetenz und -leistung für Wettkämpfe im Mittel-, vorrangig aber im Langstreckenbereich (z. B. Sylvia Schenk, Christa Vahlensieck, Katrin Dörre-Heinig). Dies schließt Ultraläufe über die klassischen 100 km (z. B. Birgit Schönherr-Hölscher, Jutta Philippin), mehrtägige Etappenrennen (Dr. Andrea Löw) sowie Trail- bzw. Bergläufe (Silke Pfenningschmidt-Gläsker) mit ein.

Die Schilderungen der Autorinnen von der Bedeutung des Laufens in ihrem Leben sind durchweg jüngeren Datums, handeln bis zu der durch die aktuelle Pandemie erfolgten Zäsur und sind insofern eine Dokumentation aus einer noch heilen, nicht von Verboten und Regelungen bestimmten Zeit des unfreiwilligen Rückzugs. Schon jetzt können die Erzählungen für die Verfasserinnen und auch für die Leserinnen und Leser einen Eindruck von nostalgischer Erinnerung hinterlassen, wenn facettenreich von der Teilnahme an nationalen und internationalen Laufveranstaltungen die Rede ist. Wettkämpfe als Ziel, Maßstab und Gradmesser des Trainings sind für das Erleben von Erfolg oder Misserfolg bedeutungsvoll gewesen. Diese wichtigen Rückmeldungen im Aufbau und Fortbestand einer Läuferinnen-, aber auch Läuferkarriere fallen derzeit aus. Von der Entwicklung dieser psychologischen Abläufe und Prozesse wird im Buch durchgehend berichtet, sie ziehen sich wie ein roter Faden durch fast alle Erzählungen.

 
Autorin Katrin Dörre-Heinig mit Buch "Running forever"
Foto © Dörre-Heinig

Aktuelle Umfragen legen nahe, dass das Laufen in den Städten und auf dem Land, ob einzeln oder zu zweit, zugenommen hat. Und die Zahl derer, die zum Laufen gefunden haben, gestiegen ist. Das Virus, der verordnete Lockdown, das Homeoffice und andere Beschränkungen, d. h. mangelnde Bewegungsmöglichkeiten, waren Anlass für mehr Bewegung. Laufen kann insofern auch eine Art Befreiung sein, und gesundheitsfördernd ist es zudem, wenn es nicht übertrieben wird.

Laufen ist, so möchte ich schließen, - bei Frauen gleichermaßen wie bei Männern - das, was man daraus macht. Dieser Satz eint. Die diversen Möglichkeiten, Ziele, Chancen, Anwendungen usw. des Mediums Laufen sind zwischen den Geschlechtern ähnlich, der Umgang mit ihnen differiert nicht prinzipiell, eher graduell, hauptsächlich in seiner Ausprägung. Frauenlaufen, so scheint es mir, ist - in vorsichtiger Beschreibung - sanfter, unter- und miteinander freundlicher, sensibler, pragmatischer, spiritueller, zielgerichteter, realistischer, achtsamer, kommunikativer, neugieriger und eitler als bei Männern. Beschreibungen jedoch haben keinen gutachterlichen Charakter. Eine Häufung derartiger Adjektive weist dennoch in eine gemeinsam kennzeichnende Richtung, in der Frauen sich über die Jahrzehnte zunehmend emanzipiert haben, orientieren und wiederfinden können. Auf dieser Ebene ist der Anspruch und das Anliegen dieses äußerst interessanten, lehrreichen, vielfältigen und einmaligen Buchs konzipiert.

Die wunderbare und lebendige Welt des Laufens von Frauen ist einerseits ein Abbild des Lebens von Frauen in unserer Gesellschaft generell, innerhalb dessen aber gerade auch ein immer wieder wirksames Medium gegen dessen inhumane und negative Schattenseiten in Form von Kompensation, Heilung und ständiger Veränderung zum Besseren - Schritt für Schritt.

Gelesen und besprochen von Dr. Arwed Bonnemann

Beate Kommritz-Schüler, Bettina Richter, Raphael Richter & Wolfgang W. Schüler (Hrsg.): Running forever. Wie Frauen zu lebenslangen Läuferinnen werden. Paperback,
190 Seiten, 18,00 €. Arete Verlag, Hildesheim, Ersterscheinung März 2021,
ISBN: 978-3-96423-051-5

 

Der Rezensent

Dr. phil. Arwed Bonnemann, geb. 1938, Dipl.-Psychologe, ehem. Leiter des Zentrums für Hochschulforschung und Qualitätssicherung an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg; Läufer seit Ende der 1970er Jahre, über 100 (Ultra-) Marathonläufe; Lauftherapeut und Leiter gesundheitsorientierter Laufkurse; Autor und Mitherausgeber des Buches "Laufen und Lauftherapie" (2006).

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