Kurzgeschichten von Günter Krehl |
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Onkel Johannes Kurzgeschichte aus Kindertagen | |
Herta Robinson Teil 1: Kurzgeschichte aus den Anfängen des Frauenlangstreckenlaufes | |
Herta Robinson und Schesaplana Teil 2: Aus dem Herbst eines Läuferlebens | |
An diesem Sonntag Kurzgeschichte aus den letzten Tagendes Fünfundzwanzigers | |
Onkel Walter Kurzgeschichte aus dem Ursprung eines Läuferlebens | |
Der graue Vogel Kurzgeschichte aus den Anfangstagen des Volkslaufes |
Onkel JohannesEine Kurzgeschichte aus Kindertagen
Onkel Johannes... eine Kurzgeschichte von Günter KrehlEr war von Anfang an da wie Vater, Mutter, Schwester, Bruder, Schafe, Ziegen , Hühner, Hunde, Katzen und Ratten. Onkel Johannes hätte eigentlich besser Opa Johannes geheißen, er war steinalt, irgendwie zeitlos grau, zwischen fünfundfünfzig und unendlich. Freitag, der 27. März 1998: Wir waren auf dem Weg nach Berlin, genauer nach Potsdam. Wir, das sind Eddy, der im Laufe seines langen Läuferlebens mehr als 30 deutsche Seniorentitel und etwa ebenso viele Goldmedaillen mit seinem Team erlaufen wird. Günter, ein ehemaliger erfolgreicher Fußballspieler, der nach seiner ersten Karriere eine zweite wesentlich erfolgreichere als Leichtathlet starten sollte und zwei Jahre zuvor in Hamburg bei seinem ersten DM Start sensationell die Goldmedaille auf der Crossstrecke erkämpft hatte. Jürgen, ein vorbildlicher Teamplayer, der über Jahre hinweg auf Landes- und Bundesebene als dritter Mann unserem Team zu mancher Medaille verholfen hat. Meike, eine junge Athletin, deren Talent ich als Jugendtrainer über einen längeren Zeitraum fördern konnte. Und zuletzt ich, der wie fast immer am Steuer die Fahrt zum Wettkampf als eine mehr oder minder entspannende Vorbereitung betrachtete.
Ich war noch niemals in Berlin, dafür schon in New York gewesen. Am 2. August 1945 wurde in Potsdam das berühmte Abkommen der Siegermächte unterzeichnet. Günter kennt alle Einzelheiten. Dieses Mal kamen weder Stalin noch Truman, noch Churchill, dafür hatten sich Oberen, Nabein und Beckmann angesagt. Sie entschieden jedoch nicht, wie es mit Nachkriegsdeutschland weiter ging, sie entschieden, wer Deutscher Meister im Straßenlauf wurde. Sonja Oberen, die ehemalige Triathletin siegte in 1:11:57. Sie und der Juniorensieger Martin Beckmann (1:05:26)standen am Beginn einer jahrelangen auch international erfolgreichen Karriere. Sensationeller Männersieger wurde der aus unserer näheren Nachbarschaft Ludwigsburg stammende John Schondelmayer. Mit 1:04:42 und 6 Sekunden Vorsprung krönte er seine leider sehr kurze und unvollendete Sportlerkarriere. Die Samstagabende verbrachte der alte Barthel irgendwo. Am Nachmittag marschierte er das kleine Landsträßchen hoch und wurde nicht mehr gesehen. Meist spät am Abend, öfters auch tief in der Nacht, hielt ein Taxi im Hof. Da war er wieder. Oft schwankte er nur ein wenig, meistens torkelte er die Steintreppe zum Haus hoch und nicht selten brach er mehrmals auf seinem Weg nach oben zusammen. Am anderen Morgen war sein Gesicht verschwollen, die Nase blutig oder seine runde Nickelbrille zerbrochen. Dann war da ein fremder Mann, ohne Brille war er nicht mehr Onkel Johannes. Anfangs fürchtete ich mich vor dem Unbekannten. Ich parkte meinen Wagen in der Potsdamer Straße in Potsdam. Unsere freundlichen Gastgeber zeigten uns unsere Zimmer und bedauerten, dass wir ihr Angebot zum üppigen Frühstücksbüfett am nächsten Morgen ausschlugen. Ein leichtes köstliches Abendessen beim Fernsehkoch im Gasthaus Katharinenholz ließen wir uns aber nicht entgehen. Nur an den Tagen mit den schweren Stürzen sang er sein Lied nicht. Sonst wartete ich nie vergebens auf die Melodie, die mir noch heute nicht aus dem Sinn geht. Und er sang sie nur in diesen Samstagnächten. Wenn er nüchtern war, schwieg er darüber und gab mir auch keine Auskunft auf meine bohrenden Fragen. Und so blieb ich allein mit meiner Sehnsucht nach der Lösung seines Geheimnisses. Am nächsten Morgen wies mich Günter auf den nahen Schlosspark von Sanssouci hin. Da fiel mir wieder eine Geschichte aus früherer Jugend ein. Ich fragte meinen Geschichtskundigen, ob es in unmittelbarer Nähe nicht auch eine alte Mühle gäbe. Da war er überfragt. Überhaupt stand jetzt der Wettkampf im Mittelpunkt. Nach einem spartanischen Frühstück begaben wir uns auf den Weg zum Startgelände. Die Woche über erschien es mir von Tag zu Tag unwahrscheinlicher, dass dieser alte Mann jene Verse gesungen hatte. Aber am nächsten Samstagabend hörte ich sie wieder: "In Sanssouci, da wo die alte Mühle steht, Wie konnte er von einem kleinen Mädchen verführt worden sein? Der alte Mann, der so wunderschön als alter Onkel diente. Sollte er etwa vor langer Zeit jung und hübsch gewesen sein? Ich kannte das "sorgenfreie" Lustschloss Friedrichs des Großen noch nicht. Irgendwer musste erwähnt haben, dass es bei Potsdam in der Nähe von Berlin stände. Von dort musste er also herkommen, der alte Barthel.
Im Gegensatz zu dieser einzigartigen Landschaft stand das Aufkommen meiner Allergie, die sich mit pfeifendem Asthma bemerkbar machte. Wenige Jahre zuvor hatte sich meine Empfindlichkeit gegenüber blühenden Gräsern in eine genauso lästige Baumblütenallergie umgewandelt. Konnte ich mit ersterer eine starke Frühjahrssaison durchziehen, war dies nun nicht mehr möglich. Ich sah einen Jüngling durch blühende Gärten gehen, sich durch den Schlosspark schleichen und im Mondschein eine kleine Mühle erreichen. Nicht lange dauerte es, da kam sie über die Wiesen gehüpft, in einem weißen Kleid freudig winkend auf ihn zugerannt. Sie war höchstens zwölf Jahre, hatte noch keinen Busen, war aber wunderschön. Und hier endete die Geschichte immer, so sehr ich mir auch den Kopf zermarterte, mehr gab sein Lied nicht her. In bisher 35 Wettkampfjahren hatte ich so manche chaotische Startprozedur erlebt. In Neuf Brisach wurden wir einst beim Marathonlauf 2 x durchs Stadion geleitet, weil sich immer wieder Wettkämpfer vor die Startlinie gestellt hatten und das Feld nicht zurückgedrängt werden konnte. Was sich aber in Potsdam ereignete habe ich vor- und nachher nie mehr so erlebt. Geschlagene 15 Minuten dauerte es, bis der Startschuss endlich fallen konnte. Wir standen in einem schmalen Schlauch mit Eisengittern eingepfercht und konnten uns keinen Zentimeter nach hinten bewegen. Hilflose Ordner brüllten unentwegt auf uns ein. Mir klingt noch im Ohr: "Wollt ihr laufen oder ich? Wir brechen die Veranstaltung ab, wenn ihr nicht hinter die Startlinie geht!" Irgendwann gab es dann doch den Startschuss und einen ersten Kilometer unter äußerst schwierigen Bedingungen. Manchmal konnte er mich zur Weißglut bringen. Wenn er genüsslich die Züge beim Brettspiel ausführte und sich weidete an meiner Ohnmacht. In jenen Tagen war ich ein schlechter Verlierer, und Onkel Johannes ein viel miserabler Lehrer. Wohl setzte ich durch seine Hilfe die Mühlesteine bald so klug, dass er immer seltener in den Genuss kam, mich am Boden zu zerstören. Trotzdem lehrte er mich nicht, anständig zu verlieren, das musste ich mir erst im Laufe des Lebens aneignen. Vielleicht hatte er damals auch verloren, in Sanssouci, und ein anderer hatte ihn ausgelacht und ihm das Mädel weggenommen. Jedenfalls brannte die Niederlage bis ins hohe Alter in seinem Herzen. Das Rennen selbst verlief für mich äußerst anstrengend. Meine Teamkameraden warteten mit großem Bangen auf meine Ankunft. Nach 1:19:44 lief ich als 18. der M50 am Cecilienhof über den Zielstrich. Eddy war etwas geknickt, hatte ihm der relativ unbekannte Hans Joachim Groß trotz guten 1:13:25 um 15 Sekunden die Goldmedaille weggeschnappt. Günter war als 6. in 1:16:27 zufrieden, beim Cross im Dezember auf Usedom lief er dann allen Altersgenossen davon. Sonst war er aber wie ein richtiger Onkel. Nicht selten brachte er Süßigkeiten oder sogar Spielzeug mit, Kleinigkeiten zwar, aber Schätze in jener Zeit. Zwei oder dreimal im Jahr war Jubeltag. Er lud meine Schwester und mich zum Wannenbaden in die Stadt ein. Danach spendierte er uns in einem vornehmen Café die größten und besten Eisbecher der Welt. Obwohl ich im späteren Leben nie mehr so viel Eis in einer Schale sah, hatte ich nie Probleme, die Portion zu vertilgen. Zu allem Überfluss durfte ich mir auch noch ein Comic Mickey Mouse für fünfundsiebzig Pfennige leisten. Dieses Heftchen war wertvoller als Mountainbike, Computerspiele oder Smartphone für die heutige Generation. Onkel Johannes war an diesen Tagen auch besonders glücklich, so wie damals im Park bei der Mühle vielleicht. Mitten in mein minutenlanges Nachhusten kam die erlösende Nachricht. Wir hatten den Mannschaftstitel M50/55 mit 2:26 Minuten Vorsprung vor dem LC Aichach und neun weiteren Vereinen errungen.
An diesen Samstagen hatte er nie so viel getrunken. Ich lag still im Bett und lauschte auf das Taxi. Deutlicher und fröhlicher klang sein Lied, dafür knarrte und quietschte die Treppe weniger.
Der alte Barthel baute die Umgehungsstraße. Nicht als Ingenieur oder Vorarbeiter. Ich glaube, er war nur Hilfsarbeiter. Er sprach viel über die Straße, aber nichts über seinen Job. Vielleicht hatte er damals seine Ausbildung abgebrochen, ist mit der Kleinen durchgebrannt. Womöglich hatte sie ihm nur den Kopf verdreht, und ihn dann lächelnd abblitzen lassen. Oder die Eltern waren gegen die Verbindung gewesen? Jürgen war über unser Gesamtergebnis so froh gewesen, dass er uns als Geburtstagskind am Abend zum Fernsehkoch einlud. Damals konnte ich nicht verstehen, dass er als bescheidenes Ziel formulierte, er wolle in Zukunft immer mit einem Viererschnitt im Halbmarathon zufrieden sein. Mehr als zwanzig Jahre später sehe ich den damals "lächerlich langsamen Viererschnitt" mit anderen Augen. Ich glaube fest, das Mädchen von Sanssouci ist gestorben. Mit ihm ein Teil seiner Seele und seine Jugend. Sie musste ihn geliebt haben. Durch ihren Tod wurde er alt. Dort konnte er nicht bleiben, und hierher wollte er sie nicht mitnehmen. Nur an den Samstagabenden machte er sich heimlich aus dem Staube, löste sich in Luft auf und ging zu ihr. Wenn er getrunken hatte, lockerte sich die Zunge ein bisschen, aber selbst da verriet er keinem, was aus ihr geworden ist.
Am nächsten Morgen genossen wir dann das ausgedehnte Frühstück umso intensiver. Wir waren davon so begeistert, dass wir bei unserer Anreise zur Cross DM im Dezember bei unseren wunderbaren Gastgebern erneut Zwischenstation machten. Am 29. März 1998 führten sie uns bei Sonnenschein durch den Park von Sanssousi. Das war mit wettkampfmüden Beinen und 4 Medaillen im Gepäck ein besonderer Hochgenuss. Als Onkel Johannes die Straße gebaut hatte, wurde er arbeitslos oder pensioniert. Er war ja steinalt genug dafür. Nicht lange danach ging er in ein Altersheim drüben auf der anderen Seite des Rheins. Ich hatte immer geglaubt, später würde er wieder zurückgehen nach Berlin. Einige Jahre danach starb er weit entfernt von Sanssouci.
Text und Fotos: Günter Krehl |
Herta RobinsonEine Kurzgeschichte aus den Anfängen des Frauenlangstreckenlaufes
Herta Robinson eine Kurzgeschichte von Günter KrehlZum ersten Mal in meinem Leben sehe ich den Bodensee. Die Gärten von D. faszinieren mich. Die Nacht auf der Hütte ist kurz und melancholisch. Der nächste Tag wird warm. Trotzdem purzeln wir oben über den tiefen Altschnee, vergessen in der Schlucht unsere qualvollen Ängste und stürmen glücklich die schneefreien Südhänge empor. Der Abend gehört nach Gesellschaftsspielen den allgemeinen Eifersüchteleien. Nach Leistungsbereitschaft und friedlichem Sporttreiben sieht es überhaupt nicht aus. - Als die Sonne am Morgen den Nebel vertreibt, treffen wir die österreichischen Sportler. Die Schnitzel unserer Gastgeber sind so groß, dass sich die meisten meiner Mannschaft das Fleisch so kurz vor dem Wettkampf einpacken. Nur ich lasse mir das vorzügliche Mahl munden. Er war irgendwie anders als die anderen, er fiel mir sofort auf. Zwar durfte er am Jugendvergleichskampf nicht teilnehmen, weil er mit 19 ein Jahr zu alt war, aber eigentlich lief er mit allen Fasern seines Körpers mit. Er war beim Einlaufen dabei, gab Tipps und Zwischenzeiten, feuerte an - und - was so seltsam war - vor allem mich. Ich gewann die 600 Meter in 1:51 Minuten klar vor seinen Mädchen Verena und Dagmar. Ich ließ ihn von meiner Brezel beißen, gab ihm einen Apfel, dann teilten wir ein Diezano (Anmerkung: Limonaden eines heimischen Getränkeherstellers, der derzeit auf eine 80jährige Tradition zurückblicken kann) und tauschten unsere Adressen.
Ein Telegramm ruft mich in den Schwarzwald. Am Samstag oder Sonntag sei sie in L. Ich kann nicht kommen, es ist weit und mein Fahrrad ist alt. Wieder läuft sie auf dem Platz in D., jetzt 800 Meter in 2:38 Minuten. Ich bin nicht dabei. Sie fehlt mir.
Ich schwanke zwischen Angst vor einem Wiedersehen und einer unbändigen Sehnsucht. Was ist ein winziger Augenblick voller Seligkeit in dem riesigen Meer der Tage? Wen hat sich Herta Robinson auf ihrer Insel als Traummann zusammengedacht? Ich liebe dieses fremde Mädchen nicht, und doch glaube ich, es lieben zu können. - Lange höre ich nichts mehr von ihr. Vielleicht vergesse ich selbst das Schreiben. Ein wildes Urlaubsfeuer hat eine heiße Glut in mir entfacht. Die Insel von Herta Robinson liegt in fernem Dunst. Auf dem Truppenübungsplatz in H. Anfang Oktober passiert der Unfall. Der rechte Knöchel ist ein Ballon. Bei der Rückkehr erreicht mich ihre Flaschenpost.
Den Rest der Nacht verbringe ich nach einer kurzen Zugfahrt im Hauptbahnhof von S. Vor acht bin ich im Stadion. Der Bus kommt fast pünktlich. Als erste kommt fröhlich ein hübsches Mädchen über den Rasen gelaufen. Den Lurchi auf ihrer Trainingsjacke habe ich gekauft und ihr geschickt. Ich lächle sie an. Sie lächelt fremd zurück. Ich hatte ihn mir ganz ehrlich gesagt anders vorgestellt, ohne Bart und ohne Krücken. Ich war so fertig, ich konnte einfach nicht anders, mir tut heute noch das Herz weh, wenn ich daran denke. Petra S. muss Herta Robinson von ihrer Insel holen. Obwohl ich auch
Petra seit eineinhalb Jahren nicht mehr gesehen habe, muss sie mich vermitteln.
Wir reden belanglose Dinge, dass wir uns verändert hätten und
wie es uns ginge... Dann muss sie kurz weg. Nach eineinhalb Stunden humple
ich über die Aschenbahn, drücke ihr einen Gedichtband in die
Hand und verlasse Herta zum zweiten Mal in meinem Leben. Text und Fotos: Günter Krehl |
Herta Robinson und SchesaplanaEine Kurzgeschichte aus dem Herbst eines Läuferlebens
Herta Robinson und Schesaplana
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Das Stadion von D. ist der erste Ort, den ich aufsuche. Es herrscht reges Sporttreiben auf dem Rasen und ich trabe eine Runde auf der Bahn, die natürlich jetzt auch einen Kunststoffbelag aufweist. Der Ort kommt mir seltsam bekannt vor, die Gärten von D., von denen ich jahrzehntelang geschwärmt hatte, finde ich allerdings nicht mehr. |
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Das Stadion von D. ist der erste Ort, den ich aufsuche. Es herrscht reges Sporttreiben auf dem Rasen und ich trabe eine Runde auf der Bahn, die natürlich jetzt auch einen Kunststoffbelag aufweist |
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Der Muttersberglauf war sein 184. Rennen auf steilen Wegen. Nach dem Start in Bludenz gab es auf 7,5 Kilometer 840 Meter an Höhendifferenz zu bewältigen. Dem ersten kürzeren Teil auf Asphalt folgten herrliche Naturpfade mit einer Steilheit, die in seiner Rentnerklasse gehenderweise schneller zu bewältigen waren. Mehr als 20 Minuten hinter dem kenianischen Sieger beendete er als schnellster von 3 Teilnehmern der M65 den Lauf. |
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Der Muttersberglauf war sein 184. Rennen auf steilen Wegen. Glücklich macht noch immer, Berge laufenderweise zu besteigen |
Den körperlichen Leistungseinbruch zu akzeptieren fällt mir immer noch schwer, ein Altersklassensieg bei einer ausgedünnten Seniorenkonkurrenz sorgt nur bedingt für Zufriedenheit. Glücklich macht aber noch immer, Berge laufenderweise zu besteigen und oben auf ein herrliches Land zu blicken, dieses Mal besonders, da weit unten die Insel von Herta Robinson liegt.
Tatsächlich hatte er das Haus gefunden, geklingelt und nach einer Ewigkeit schaute eine ältere Frau aus dem oberen Fenster. Was wollte er eigentlich dort? Vielleicht eine Antwort auf die Frage, die ihn mit jahrelangen Abständen immer mal wieder beschäftigt hatte.
Hat es ihr leidgetan, dass sie mich damals so einfach im Stadion stehen gelassen hat? Sie war jung gewesen und als reife Frau hat sie ihr Fehlverhalten später sicher bereut. Sicher hatte sie große Gewissenbisse gehabt und sich nicht getraut, mir später einmal zu schreiben. Ich hatte ihr schon lange verziehen aber eine Entschuldigung hätte meiner Seele gut getan.
Die beiden Frauen baten ihn tatsächlich in ihr Wohnzimmer. Sie staunten nicht schlecht über den Unbekannten, der vor ihnen saß. Herta lebte. Die Schwester tätigte einen Anruf.
Mir sagt der Name nichts, den der Fremde am Telefon nennt. Ja, da war wohl mal was mit einem Sportverein in Deutschland. Lange ist es her, in meinem ersten Leben, da bin ich noch gelaufen. Was will der von mir? Mich treffen, ich habe eigentlich keine Lust dazu.
Kann es sein, dass sie nicht nur ihre Jugendsünde sondern auch meinen Namen aus dem Gedächtnis gestrichen hat? Sie hätte so viel zu tun und im Moment einfach keine Zeit für ein Treffen. Ich bleibe hartnäckig und überrede sie schließlich, bei einem weiteren Anruf, einen Besuchstermin zu vereinbaren.
Hoffentlich ruft er nicht mehr an. Was soll das bringen. Ja, schön war die Zeit gewesen, als ich noch voller Schwung durchs Leben gelaufen bin. Ich war im Auswahlteam und besonders beim Crosslauf sehr erfolgreich. Nach der Handelsschule war es nicht immer einfach, Zeit für das Training zu finden, aber ich habe das Laufen geliebt.
Einen Tag nach dem Muttersberglauf stand für ihn endlich die Schesaplana nach 45 langen Jahren des Wartens auf dem Programm. Einsam wirkte der Parkplatz an der Lühnerseebahn, Anfang Juni hatten die Hütten noch nicht geöffnet und der Massentourismus war noch nicht angelaufen. |
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Einsam wirkte der Parkplatz an der Lühnerseebahn, Anfang Juni hatten die Hütten noch nicht geöffnet und der Massentourismus war noch nicht angelaufen |
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Auf läppischen sechseinhalb Kilometern waren etwa 1.400 Höhenmeter zu bewältigen, eigentlich ein kleiner Spaziergang selbst für einen älteren Bergläufer. Mit Laufen hatte die Besteigung allerdings wenig zu tun. Vielleicht einen guten Kilometer legte er im Joggingstil in seinen schweren Bergschuhen zurück. |
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Mit Laufen hatte die Besteigung der Schesaplana wenig zu tun. Vielleicht einen guten Kilometer legte er im Joggingstil am flachen Seeufer in seinen schweren Bergschuhen zurück |
Wie oft ist Herta wohl den "BösenTritt" hoch zum Lünersee gelaufen? Mein Tempo ist bescheiden, mehr als eine halbe Stunde bin ich für die gut anderthalb Kilometer unterwegs. Dafür genieße ich den menschenleeren See umso mehr. Der Weg zur Totalphütte ist länger aber nicht so steil, an der Unterkunft werde ich auf dem Rückweg eine Kaffeepause einlegen.
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Ab der Totalphütte lag der Weg größtenteils schon unter Schnee. Bald konnte er die Markierungen nicht mehr sehen und nur die "Richtung Aufwärts" bestimmte die Routenwahl |
Ab der Hütte lag der Weg größtenteils schon unter Schnee. Bald konnte er die Markierungen nicht mehr sehen und nur die "Richtung Aufwärts" bestimmte die Routenwahl. Manches Couloir erwies sich als Sackgasse und musste wieder umgangen werden.
Im oberen Teil nahm nicht nur die Steilheit zu, auch der Schnee war nun hart gefroren und die Stufen nur schwer zu schlagen. Nach einer mittleren Marathonzeit - 2:38:45 - stand er oben am Gipfel. Nebelschwaden ließen das Gipfelkreuz in unregelmäßigen Intervallen verschwinden und wieder auftauchen. |
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Nach einer mittleren Marathonzeit - 2:38:45 - stand er oben am Gipfel. Nebelschwaden ließen das Gipfelkreuz in unregelmäßigen Intervallen verschwinden und wieder auftauchen |
Das also ist die Erfüllung eines langgehegten Traumes. Ich spüre eine große Zufriedenheit, mehr nicht. Wie viele Träume im Leben geben uns wunderbarste Glücksgefühle in der Vorfreude. Empfindungen, die wir bei der Erfüllung haben, bleiben meist nur ein Abklatsch davon. Einmal Olympiasieger im Marathonlauf zu werden, dafür würde so mancher sein Leben, vielleicht sogar seine Seele hergeben. An die Leere, die einem so großen Sieg oft folgt, denkt kaum einer. Ob Herta jemals an diesem Gipfelkreuz stand? Als Einheimische sicher nicht nur einmal.
Der Sturm nahm deutlich zu, hin und wieder erkannte er auch kleine Flocken im Grau der Wolken. Die Windjacke, er nannte sie seit eh und je seine Lebensversicherung, schützte vor der eisigen Kälte. Damals im Regen von Illertissen hatten sie aufgeben müssen. Sie waren in die Nacht gestartet bei wenigen Graden über dem Nullpunkt. Entgegen der Wettervorhersage hatte der Regen nicht aufgehört und sie hatten die "Lebensversicherung" nicht dabei gehabt. Körperlich topfit aber total ausgekühlt hatten sie den Hunderter aufgeben müssen.
Aufgeben im Gebirge ist keine Alternative, denn die lautet sterben. Ich muss nur in den Aufstiegsspuren bleiben. Aber wo sind sie? Zugeweht. Die Sicht wird von Minute zu Minute schlechter. Abwärts ist das Ziel, aber beim Hochgehen hatte ich gesehen, dass sich im Gipfelbereich überall senkrechte Felsabstürze befinden. Ich muss konzentriert bleiben und darf nicht hektisch werden. Regel eins beim Wanderführerlehrgang 1970: Gehe nie alleine auf Bergtour. Gut, dass niemand auf mich wartet, selbst wenn ich biwakieren muss. Am wenigsten wartet Herta.
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Regel eins beim Wanderführerlehrgang 1970: Gehe nie alleine auf Bergtour. Gut, dass niemand auf mich wartet, selbst wenn ich biwakieren muss. Am wenigsten wartet Herta | Immer wieder musste er sich nach oben zurückkämpfen, wenn er an steilen Felsen nicht tiefer absteigen konnte. Mit der Zeit wurde die Sicht etwas besser, der Schnee weicher |
Immer wieder musste er sich nach oben zurückkämpfen, wenn er an steilen Felsen nicht tiefer absteigen konnte. Mit der Zeit wurde die Sicht etwas besser, der Schnee weicher. Der Sturm ließ nach und endlich fand er auch seine Aufstiegsspur wieder. Ihr zu folgen war nicht einfach, da er sie in den schneefreien Passagen immer wieder kurzzeitig verlor. Manchmal war er sich nicht sicher, die Hütte wieder zu finden, tauchte sie doch erst im letzten Moment dicht vor ihm aus den Wolken auf.
In der Hütte ist Großputz, Mitte Juni soll sie geöffnet werden. Kaffee gibt es für mich keinen. Wer Marathon ohne zu trinken schafft, für den sind 13 oder mit Umwegen vielleicht 15 Kilometer Schesaplana ein Kinderspiel. Eine Diezano von Herta hätte ich aber jetzt doch gerne.
Die letzten gut 400 Höhenmeter konnte er seinen arthrotischen Knien ersparen. Die Lünerseebahn fuhr, obwohl nur ganz spärlich Wanderer auf der flachen Runde um das Gewässer unterwegs gewesen waren. Auf dem Parkplatz fiel die Anspannung von ihm ab und wich einer Zufriedenheit und dankbaren Gedanken. Wieder einmal spürte er die Kraft einer höheren Macht, die ihm geholfen hatte, wohlbehalten aus der Gefahr hervorgegangen zu sein. Mögen andere von der Schesaplana oder der Zugspitze mit Ski oder Mountainbike abfahren können, so war diese leichte "Winterbesteigung" für ihn die Erfüllung eines langgehegten Traumes. Verglichen etwa mit dem Zieleinlauf eines Marathonläufers, der die Vierstundenmarke jubelnd unterboten hatte, obwohl "andere" die Distanz auch unter zwei Stunden zurücklegen können.
Heute Abend habe ich sie angerufen. Ich habe mich nicht von ihr abwimmeln lassen. Sie heißt jetzt Maus, nicht mehr Robinson. In drei Tagen werde ich sie besuchen, abends für ein kurzes Stündchen.
Er hat mich tatsächlich angerufen. Auf der Schesaplana wäre er heute gewesen, bei diesem Wetter, da muss doch noch viel Schnee liegen. Und der Jüngste kann er doch wohl auch nicht mehr sein. Gut, dass mein Mann am Donnerstag zu Hause ist, man kann ja nie wissen.
Die nächsten drei Tage nutzte er zu gemütlichen Bergläufen und Talfahrten mit der Bahn. Im Winter nach dem Lehrgang auf der Lindauer hatte er sich mit Kameraden eine Hütte im Gauertal gemietet. Sie hatten ein Loch ins Eis geschlagen und sich am Bach im Schnee gewaschen. Die drei Kameraden hatten ihre Freundinnen dabei gehabt und für das Machogehabe und die Intoleranz der vier Jungs hatte er sich später in Gedanken tausendmal und persönlich mehrmals bei den drei Frauen entschuldigt. Damals war er fein raus, solo wie immer, konnte er seine Felle auf die Ski schnallen und hoch in Richtung Lindauer stapfen, während unten in der kleinen Unterkunft die Beziehungskisten am Dampfen waren.
Damals bin ich über die Schneehänge der Golm gewedelt, etwas übertrieben, ein guter Skifahrer war ich nie. Heute trabe ich voller Freude diesen Berg hoch, noch lebe ich. Ob Herta auch noch läuft?
Am nächsten Tag lief er auf das Hochjoch. Dort starb im selben Winter ein Skifahrer am Herzinfarkt in seinem Beisein. Der Mann lag auf dem Tisch im Gipfelrestaurant, einige kämpften um sein Leben und viele Gäste saßen an den Tischen beim Essen. Auch dieses grausame Sterben hatte er nie vergessen. Auch beim Berglauf könnte ihn ein Herzinfarkt ereilen, das wäre nicht der schlechteste Tod für einen Läufer, doch zu allen Zeiten ein zu früher.
Heute geht es über die Lindauer Hütte erneut zum Golm. Das Gauertal zieht sich flach in die Höhe. Zur Skihütte hatten wir damals unser Gepäck eine dreiviertel Stunde getragen, die Talfahrt auf den Brettern war schneller und angenehmer gewesen. Werde ich Hertas Wohnung auf Anhieb finden? Auf jeden Fall werde ich pünktlich sein.
Es war ein seltsames Wiedersehen mit der Lehrgangshütte. Lange schaute er sie von außen an, diesmal verdiente der Wirt nichts an ihm, die Zeit der "Vierteltagesbergtouren" war lange vorbei. Nach gut 15 Kilometern stand er zum zweiten Mal an der Gipfelstation. Etwa die Höhe des Nebelhornberglaufes hatte er gemeistert, nur gab es auf der wunderbaren Route keine so brutale Steigung wie den Latschenhang am Oberstdorfer Hausberg.
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Es war ein seltsames Wiedersehen mit der Lindauer Hütte. Lange schaute er sie von außen an, diesmal verdiente der Wirt nichts an ihm, die Zeit der "Vierteltagesbergtouren" war lange vorbei | Nach gut 15 Kilometern stand er zum zweiten Mal an der Golmer Gipfelstation. Etwa die Höhe des Nebelhornberglaufes hatte er gemeistert, nur gab es auf der wunderbaren Route keine so brutale Steigung wie den Latschenhang am Oberstdorfer Hausberg |
Die Straße und das Haus waren leichter zu finden als gedacht. Ich werde freundlich begrüßt, ihr Mann ist sehr nett, das freut mich - besonders für sie. Ich sitze nicht sehr bequem und fühle mich irgendwie nicht wohl in meiner Haut.
Ich kann mich einfach nicht mehr an ihn erinnern. Da war mal ein Ausländer, der mich jahrelang besucht hatte und dessen Werben mir noch gut in Erinnerung geblieben ist. Aber diesen Läufer aus Deutschland? Ich soll ihm Briefe geschrieben haben und er hat tatsächlich noch zwei Bilder von mir.
Sie erzählte ihm, dass sie das Laufen aufgegeben hätte, weil sie beruflich einfach zu sehr eingespannt war. Ihre Ehe wäre glücklich gewesen, was er erfreut zur Kenntnis nahm. Dann wäre sie leider erkrankt und könnte heute nur noch bedingt arbeiten und an Sport sei nicht zu denken. Das machte ihn sehr traurig und er sah in Gedanken das junge Mädchen in D. über die Bahn schweben.
Ich hatte sie mir ganz ehrlich gesagt anders vorgestellt, schlank, sportlich und voller Lebenslust. Ich war so fertig, mir tut heute noch das Herz weh, wenn ich daran denke. Aber ich fotografierte die beiden, versprach mich wieder zu melden und wollte in Kontakt bleiben.
Ein Vesper richte ich ihm schon noch her. Schließlich sind aus der Stunde nun doch schon zwei geworden. Aber ich werde nicht antworten, mag er die Bilder schicken und zu Weihnachten ein frohes Fest wünschen. Ich habe genug mit mir zu tun und keine unnötige Kraft für diesen Fremden.
Wir reden belanglose Dinge, dass wir uns verändert hätten Auf der Schesaplana ist sie nie gewesen, was mich sehr traurig macht. Ich werde mich wie versprochen noch einmal melden, aber auch dieses Mal keine Antwort bekommen. Ihre Briefe bleiben weiterhin hinter meinen Urkunden und Ergebnislisten vergraben. Ich werde weiter laufen - auch für Herta - und verlasse sie zum dritten und letzten Mal in meinem Leben.
Text und Fotos: Günter Krehl
Onkel WalterEine Kurzgeschichte aus dem Ursprung eines Läuferlebens
Onkel WalterEine Kurzgeschichte von Günter KrehlSeine Familie hatte nie Urlaub gemacht, besser sein Vater war so lange er sich erinnern konnte, nur immer im Stall, auf den Weiden, Wiesen und Äckern gewesen. Frühmorgens hörte er im Bett das Gartentor, manchmal auch ein Räuspern oder Schnäuzen, dann ging sein großes Vorbild hinunter zu seinem Schafstall. Spät am Abend, die Familie hatte meist schon gegessen, kam er zurück von seinen Tieren und gönnte sich ein ruhiges Essen und einen kurzen Feierabend. Beim Mittagessen sah man ihn selten, Vesper und Most mit Wasser verdünnt und die Cannstatter Zeitung führte er in seinen alten Rucksack mit sich. Nur einmal im Jahr nahm er sich einen halben Tag frei, packte seine Familie aufs Motorrad und fuhr mit jeweils zwei Hin- und Rückfahrten zum Schäferlauf nach Markgröningen. Ich sitze vorne auf dem Tank und mir weht der Wind bei 70 km/h so ins Gesicht, dass ich zur Seite atmen muss. Das alte Rathaus der Schäferlaufstadt, der ungewohnte Duft von Zigarren und gebrannten Mandeln bleiben ihm ewig in Erinnerung. Der Festplatz mit den Reitern, den Wasserträgerinnen, die ihre Kübel elegant auf dem Kopf trugen, die Spielszene, bei der der treue Barthel seinen Grafen verprügelte, all das saugte er auf als seien es Blicke in eine ihm fremde unbekannte Welt. Die Krönung des Tages war jedoch der Lauf über das Stoppelfeld. Dass die spitzen Getreidehalme durch die Festbesucher größtenteils zertreten waren und die 300 Fuß ja nur einen kurzen Sprint bedeuteten, war ihm zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst gewesen. Wie gerne stände ich jetzt da unten bei den jungen Burschen und könnte mitrennen.
Mindestens einmal im Jahr schickte sein Vater seine Mutter und seine Geschwister zur "Erholung" in die Pfalz. Da gab es den großen Bauernhof des Onkels und nicht weit entfernt das Beamtenheim der Tante. Was soll ich denn hier? Es kümmert sich eh niemand um mich und Mutter arbeitet sich auf dem Bauernhof ihres Bruders buckelig. Schöne Urlaubstage! Meine großen Geschwister hängen mit den Cousins ab und mir bleibt nur die Langeweile. Er verachtete damals alles Pfälzische. Die Fußballspieler waren in seinen Augen schlechter, die Menschen dümmer und die Sprache albern.
Besuche in die andere Richtung waren ebenso selten. Der Bauernhofonkel tauchte hin und wieder zu Zeiten des Landwirtschaftlichen Hauptfestes auf dem Cannstatter Wasen bei ihnen für eine Nacht auf und versuchte nebenbei auch schwäbische Kunden für seinen Wein und den selbstgebrannten Schnaps zu gewinnen. Tante Lina und Onkel Walter besuchten seine Familie regelmäßig am zweiten Weihnachtsfeiertag. Da der Onkel ein hoher Bundesbahnbeamter war, hatten sie ein Bahnticket gratis. Manchmal sparten sie sich das Taxi und marschierten die 4 Kilometer vom Bahnhof zum Hof, auf dem seine Familie wohnte. Diese Besuche waren für ihn sehr zwiespältig. Er wurde gestriegelt und gebügelt für die feinen Herrschaften. Die kratzigsten Pullover wurden hervorgezaubert, der Ofen brannte auf Hochtouren und gutes Verhalten wurde eingebläut. Konnte man solchen Besuch lieben? Immerhin brachten die beiden allerhand aus der anderen Welt mit. Aber warum musste er sich dafür prostituieren? Nachdem der stundenlange Kampf Mutter gegen Sohn die letzten Nerven geraubt hatte, kam da ein Onkel an, der für seine Situation überhaupt kein Verständnis aufbringen konnte. Er nennt mich "Pienser", was aus dem Pfälzischen übersetzt etwa "Weiner", "Jammerlappen", "Kleinkind" heißt. Kann man einen solchen Onkel lieben? Ich hasse ihn und würde ihn am liebsten auf den Mond oder in sein verfluchtes Land jenseits der Rheins wünschen. Irgendwie änderte sich das Verhältnis der beiden zum Guten. Als Erstklässler erhielt er einen Band "Hauffs Märchen" von Onkel Walter. Beim Erzählkreis nach den Ferien prahlte er vor den Klassenkameraden mit den Geschichten vom Totenschiff oder der abgehauenen Hand. Gleichzeitig fürchtete er sich bei Nacht im Kerzenschein in ihrem einsamen Abort auf dem Flur, weil er die grausigen Eindrücke dorthin immer mitnehmen musste.
Eigentlich gehe ich abends nicht mehr gerne aufs Klo. Im Dunkeln sehe ich immer den Nagel im Kopf des Toten. Aber irgendwie ist es auch schön, dass ich dieses grausame Bild ertragen kann. Und dann kam der entscheidende Tag. Es war bei der Konfirmation seiner Schwester. Enge im Miniaturwohnzimmer, stickige Luft, Essen zum Halsraushängen und Langeweile. Da räusperte sich Onkel Walter und kündigte an, eine Runde drehen zu wollen. Das ist meine Chance, nur raus hier, frische Luft und endlich etwas Bewegung - wie ich die brauche. Die Runde, besser der Dreieckskurs begann mit einen gewaltigen Anstieg in südöstlicher Richtung. Dieses Hofsträßle war gleichzeitig sein Schulweg seit vorletztem Frühjahr gewesen und verlor im Laufe der Jahrzehnte eines Läuferlebens seine Steilheit, die sich im kindlichen Gedächtnis so eingeprägt hatte. Ob sie dort schon hoch gejoggt waren, dieses Wort war zu diesem Zeitpunkt noch nicht geboren, kann er heute nicht mehr mit Bestimmtheit sagen.
Ich kenne den alten Mann nicht wieder, habe ihn vorher noch nie laufen gesehen und er motiviert mich, bis ans Ende der Welt mitzulaufen. Er wird mich nie wieder "Pienser" nennen und ich liebe ihn jetzt schon dafür. Ihr Herweg vom Hof sah in diesen Zeiten nur alle halbe Jahrhundert ein Kraftfahrzeug. Jetzt ging es auf der Hauptstraße fast kerzengerade in nordwestliche Richtung stetig leicht bergan. Jahre später wurde diese Straße, dann mit stark gestiegenem Verkehr, seine Wegstrecke zum Leichtathletiktraining in der Salamanderstadt.
Ich glaube, ich könnte unendlich so weiterlaufen, die Beine gehen beinahe wie von selbst. Jetzt geht es nur noch abwärts, am Schafstall vorbei zum Hof. In der Grundschule hatte es nur sporadisch Sportunterricht gegeben. Dieser bestand meistens aus einem Marsch durch die Bankreihen, wobei die Schüler sich akkurat der Größe nach aufzustellen hatten, immerhin schon geschlechtergemischt. Oder eher doch nicht? Seine ersten Turnschuhe aus Segeltuch, so nannte man damals Sportschuhe jeglicher Art, erhielt er erst Jahre später auf der Realschule. Die waren in der damaligen Mittelschule Pflicht, ebenso wie das blaue Leibchen, das sie in jeder Sportstunde tragen mussten. Die meisten, auch er, taten dies mit großem Stolz. Die Gymnasiasten nebenan hatten rote Hemden und man bewunderte diese kleinen Halbgötter wegen ihrer "großen Intelligenz". Spezialschuhe gab es nur für die Fußballer, "Böller" blieben für einige Jahre noch Traum für ihn. Später lief er in den schweren Fußballstiefeln sogar einmal bei den Ludwigsburger Kreiswaldlaufmeisterschaften im Bietigheimer Forst. Was werden meine Eltern sagen? Werden sie stolz auf mich sein? Auf jeden Fall ist Onkel Walter jetzt auf Lebenszeit mein Verbündeter.
Nach einer letzten weitläufigen Kurve erreichten die beiden den Hof und damit ihren Ausgangspunkt. Wo wir so lange geblieben wären haben sie gefragt? Warum ich so schwitzen würde? Eigentlich hätte ich erwartet, dass sie staunen und mich loben würden. Sie hatten die Strecke auf vier Kilometer geschätzt, in Wirklichkeit fehlten gut 400 Meter. Onkel Walter war schon lange in der Pfalz verschollen, in seinen Gedanken aber stets bei ihm. Die Nachmittage verbrachte er ohne Aufsicht in Stall und Garten, aber um so ganz weit weg zu laufen, da musste er doch allen Mut zusammennehmen. Heute ist die Gelegenheit günstig. Ich will die Strecke noch einmal alleine laufen, ganz ohne Gehpausen und ein wenig schneller als damals mit Onkel Walter. Dieses Mal hatte er kurze Hosen an und bequemere Schuhe. Er hatte bergauf einen guten Rhythmus gewählt und konnte mühelos beschleunigen. Da das Unternehmen an einem Werktag stattfand, waren viele Bauern auf dem Feld. Staunend unterbrachen sie ihre Arbeit, manche machten ihren Unmut lautstark bemerkbar. Zu dieser Zeit galt Sport als unnützer Müßiggang. Wer überschüssige Kräfte hatte, sollte diese bei der Arbeit auf dem Acker sinnvoll nutzen. Später gab es auch die eine oder andere empörte Meldung seiner Mutter gegenüber, der dies sehr peinlich gewesen war. Das ist mein Leben, laufen, frei sein, von niemandem gehalten werden und doch hier in der geliebten Heimat mich bewegen zu können. Die letzten Meter müssen die schnellsten sein - ich bin so glücklich. Jahre später, als Onkel Walter oft kopfschüttelnd sein läuferisches Tun verfolgte, versuchte er ihm immer wieder zu sagen, dass er es war, der den Funken in ihm zum Glühen gebracht hätte. Sein Onkel konnte oder wollte sich nicht daran erinnern. Inzwischen war er von einer Krankheit stark gezeichnet. Warum kann er sich nicht mehr an den wichtigsten Tag in meinem Leben erinnern, er muss das doch noch wissen. Wir beide allein gegen die Welt und wir haben gemeinsam gesiegt - und jetzt lässt er mich mit meinen Erinnerungen allein. Jetzt war diese Liebe aufgeblüht: Die zwei sich, die sich nicht leiden konnten, hatten Feuer gefangen und konnten nicht mehr voneinander lassen. Die Pfalz, in seiner frühen Kindheit verhasst, wurde zum Traumland und Ort jährlicher wunderbarer Sommerferien. Hier in den Wäldern kann ich frei laufen. Onkel und Tante sind zwar nicht begeistert, wenn ich stundenlang durch das Bergland streife, sie lassen mich aber gewähren. Er war fasziniert von der Landschaft und glücklich wie ein verliebter Knabe. Die Bäume waren so anders als im Schwarzwald, die sandigen Wege so vielfältig, sogar der Himmel hatte für ihn ein anderes Blau. Die Nacht roch besser und er genoss es, durch die dunklen Wälder zu laufen. Die Menschen waren freundlicher, der Bäcker viel billiger und die Mädchen natürlich viel schöner. Hier möchte ich später einmal leben und laufen. Sommerferien sind einfach zu kurz, sie sollten ewig dauern. Im Hause von Dr. W. B. war Kultur. Die ganze Verwandtschaft "betete" ihn an, sein Wort galt, er war klug, kultiviert, verbreitete kein schlechtes Gewissen.
In den Jahren der Real- und Gymnasialzeit verbrachte er regelmäßig seine Ferien bei Onkel und Tante. Längst war ihm die Pfalz zur zweiten Heimat geworden. Er liebte den Dialekt zu sprechen, erntete voller Lust Mirabellen, obwohl sie ihm nur mäßig mundeten. Hofarbeiten im Beisein von jungem Pfälzer Blut lief ihm plötzlich wie geschmiert; trotzdem drückte er sich oft und erfolgreich, denn oben im Dorf war das richtige Leben. Mit den Fußballern trainieren, durch die nächtlichen Dorfstraßen rennen, am Brunnen quatschen, mit den Vettern im See baden, die Pfälzer Mädchen als die schönsten finden, die besondere Luft einatmen, die Geräusche der Nacht genießen, die Kirchturmuhr schlagen hören, Kriminalromane bis in den Morgen lesen und mit Stangen im Wald über Seile springen waren besondere Freuden für ihn. Aber alles war nichts gegen das Laufen. Er hatte sogar seine Spikes mit in den Urlaub genommen und die Tempoläufe auf Sandboden hatten besonderen Spaß gemacht. Sandig waren nicht nur die Wege, auch der Sportplatz hatte den Buntsandstein als immer bespielbaren Untergrund. Dann kam jener 25. August 1967. Vor ein paar Tagen habe ich 50 Runden auf dem Sportplatz gedreht, heute müssen es 100 werden.
Es lief phänomenal, ein Zweidrittelmarathon in knapp zweieinviertel Stunden, das war mein längster Lauf und wird es ganz gewiss nicht bleiben. Es gab sie dann wirklich in den folgenden Jahrzehnten, die Marathonläufe in Kandel, Maximiliansau, Herxheim und Rülzheim, die Straßen- und Volksläufe in Bad Bergzabern, Hördt, Schaidt, Bellheim, Hagenau, Dahn, Rheinzabern, Germersheim, Kapellen-Drusweiler, Haßloch, die Rennen des Pfälzer Berglaufpokals an der Rietburg, zur Burg Nanstein, durch den Dürkheimer Kastanienwald, auf Donnersberg, Potzberg und Kalmit. Immer waren die Veranstaltungen eine kurze Heimkehr in das Land seiner Träume, in das Reich seines "Entdeckers", dessen jüngster Sohn auch ein begeisterter Läufer geworden war. Für mich bleibt Kandel die schnellste Marathonstrecke der Welt, mögen Afrikaner in Berlin schneller am Ziel sein. Selber schuld, wenn sie nicht in der Pfalz starten. Jahrelang hatten sie noch miteinander Holz gesägt und wunderbare Gespräche geführt. Er liebte Onkel Walter bis zu dessen letztem Lebenstag. Weniger aus der Hochachtung vor seinem Geist, mehr weil er ein guter Mensch war und vielleicht am meisten, weil er an jenem Tag vor undenklichen Zeiten einen kleinen Jungen auf seine Tour mitgenommen hatte. Text und Fotos: Günter Krehl |
Der graue VogelEine Kurzgeschichte aus den Anfangstagen des Volkslaufes
Der graue Vogel... eine Kurzgeschichte von Günter Krehl
Eigentlich sollte der Graue Werner heißen, aber das Schicksal verhinderte dieses Unglück, weil die Eltern des Nachbargeheges auf den gleichen unsinnigen Gedanken gekommen waren.
So wuchs unser draller Freund heran und seine Lieblingshosen waren grau und eines Tages zerschlissen. Nur unter Tränen gab er seine Kleidung ab, versäumte es aber, bunte Federn zu bestellen. Diese hätte er ja sowieso nicht bekommen, er war ja ein Junge. Eines Tages merkte er, dass er nicht fliegen konnte. Das war aber so Tradition in der Familie, man flog nicht, das war eine unnütze Sache. Es gab genug zu Picken im Schilf und den angrenzenden Wiesen. Weil der Kleine trotzdem seine Stummelchen ausbreitete und abzuheben versuchte, wurde er bald gescholten und erfuhr, dass er zu den schlimmsten Kreaturen am Fluss gehören würde. Darauf war er schon ein bisschen stolz, denn er wollte besser als die andern sein. Alle Versuche, sich in die Lüfte zu erheben, endeten mit Schmerzen, Schlägen und Tränen. Vögel, die nicht fliegen können, müssen laufen. Dicke Vögel laufen schlecht. Ein dicker Vogel will schneller werden. Er bewegt sich und wird dünner, er wird ausdauernder und schneller. Aber er ist nur einer von vielen. Drüben am Ostufer war die Schule. Die, die nicht fliegen konnten, mussten hinüberschwimmen. Das dauerte lange, war langweilig und unbequem. Dort traf unser Einsiedler vom Schilf andere junge Vögel. Nur wenige waren grau, aber auffallend viele konnten auch nicht fliegen. Es schien ihnen aber nichts auszumachen, manche liefen unbekümmert umher, andere pickten nur oder lagen aufgeplustert in der Sonne. Einige hackten sich in die Augen oder rupften sich die Federn aus. Der kleine graue Vogel verstand das nicht, manchmal bekam auch er etwas ab, obwohl er nun nicht mehr dick war. Im Sportunterricht war eines Tages Dauerlauf angesagt. Keiner von der Schule konnte fliegen, diese anderen Vögel gingen aufs Gymnasium nebenan. Und da kämpfte der graue Kerl. Es ging erst den toten Fluss hinunter zum nächsten Steg, der über Treppen erreicht wurde. Hoch über den Fluten schwankte der Übergang vom Aufprall der Krallen. Der Geruch des fauligen Wassers strömte in die brennenden Lungen. Auf der anderen Seite ging es zurück, unmerklich aufwärts bis zum Eisensteg. Der war fester und schwankte nicht, auch waren die Tritte müder und das Ziel fast erreicht. Der kleine Vogel belegte den siebten Platz, einige von den Pickern und sogar ein Dauerschläfer waren vor ihm.
Inzwischen waren seine Eltern von kleinen Schilf in die großen Büsche am Fluss umgezogen. Im Schilf hatte es immer Ärger mit den Aasgeiern gegeben, die nach dem Kriege aus Ungarn eingeflogen waren. Es gab sogar einmal einen Kampf auf Leben und Tod, bei dem der gute Vater des Grauen arg zerzaust wurde. Von diesem Vorfall erholte er sich nie mehr und starb bald nach dem Umzug zum Fluss. Der graue Vogel bekam im Laufe der Jahre etwas Glanz aber keine Farbe. Er hatte Freunde und fühlte sich meistens sehr wohl. Fliegen konnte er noch immer nicht, er hatte es auch nie mehr probiert. Aber die Träume hörten nie auf und eine bleierne Niedergeschlagenheit lag auf den Tagen nach einem solchen Traum.
Seine Gegner waren aber nicht die zähesten und erfahrensten gewesen, es waren junge Hunde, die den plumpen Gegner zu spät ernst genommen hatten. Die nächsten Wettläufe waren wie die Sturzflüge von den Scheunenbalken. Immer war er der schnellste Vogel unter den wenigen, die an den Start gingen. Er blieb aber ein Mitläufer, ein Hinterherrenner, ein Nichts im großen Mittelfeld, ein Mittelmaß unter all den schnellen Hirschen vor ihm. Schon längst trainierte er systematisch, hart erbarmungslos. Das winzige Spatzenhirn konnte nicht verstehen, dass dies nur das Anrennen gegen eine Mauer war. Eines Tages pochte das kleine Herzchen wie wild, nicht einmal in den Nächten fand es Ruhe. Die Sterne leuchteten durch das Gebüsch am Fluss und unser Freund saß wach im Geäst. Lange Zeit blieben die Windhunde unter sich. Jahre später drohte der ausgewachsene graue Vogel wieder dick zu werden. Er lief noch immer, aber nur noch mit anderen Vögeln und nicht mehr gegen sie. Noch immer hatte er das Fliegen nicht gelernt und mit zunehmendem Gewicht gab es auch nicht mehr die geringste Chance. Da kam der Zufall zu Hilfe. Zugvögel hatten die Nachricht übermittelt, dass weit im Westen im Tal des größten deutschen Stromes ein reiner Vogellauf veranstaltet würde. Alte Erinnerungen wurden wach, endlich die Chance, ohne Gazellen, Rehe und andere Lauftiere wieder ganz vorne zu landen wie in jenem ersten Rennen. Dieser Comebackversuch geriet zur großen Enttäuschung. Voller Siegesfreude am Start, ein Häuflein Elend im Ziel. Es gab auch unter seinesgleichen austrainierte, schlanke Tiere, der Abstand zu den Siegern betrug Lichtjahre. Diesmal ergab sich der dickliche Graue in sein Schicksal. Er war in unregelmäßigen Abständen immer wieder dabei, recht erfolglos. Manchmal gab es kleine Fortschritte, oft wieder Rückschläge. Eines Tages schnappte er sich wieder einen lahmenden Hirsch, einen alten Windhund oder ein krankes Reh. Sein Training wurde sinnvoller, geduldiger und umfangreicher. Endlich durchstreifte er Landschaften, die nur wenige gesehen hatten, erlebte Eis im Gefieder und triefte im Gewitterregen genauso selig wie in der warmen Sonne oder im milchigen Nebel seiner Heimatgewässer.
Und fast unbemerkt ging der große Traum doch noch in Erfüllung. Er hatte das Fliegen gelernt. Ohne Federn schwebte er über Vulkane und auf Schneeberge, über Wiesen, durch Wälder, über Sandstrände und Wattenmeere, auf Landstraßen und stillen Pfaden. Er fühlte kaum das Gewicht seines kleinen Körpers, das Herz schlug ruhig und gleichmäßig, es war wie ein Flugzeugmotor über dem Atlantik. Oft im Abendrot schimmerten die Federn rotgolden, dann war er nicht mehr der graue, kleine Vogel. Text und Fotos: Günter Krehl |
An diesem SonntagEine Kurzgeschichte aus den "letzten Tagen" des Fünfundzwanzigers
An diesem Sonntag
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Um zehn Uhr fällt der Startschuss zum Fünfundzwanzig-kilometerlauf. Die Sonne scheint, aber die Temperaturen sind noch angenehm, die Strecke ist leicht hügelig. Die schweren Maschinen haben die Goldstadt an der Pforte zum Nordschwarzwald längst hinter sich gelassen. Im Kurpark eines weltbekannten Heilbades genießen die Fahrer ihre Zigaretten und fühlen angenehme Strahlen auf ihrer ledernen Schutzkleidung. |
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Strecke Beuren 2014: Auf der anspruchsvollen Strecke rund um das Thermalbadgelände, die auch die Bergläufer hoch zum Hohenneuffen belaufen, wurde 1991einmalig auch eine Straßenlaufmeisterschaft ausgetragen |
In der Martinskirche sitzt ein glückliches Elternpaar und dankt Gott für seine gesunden Kinder. Oma steht in der Küche und bereitet das Mittagessen vor, der kleine Enkel schneidet Petersilie für sie.
Um halb zwölf ist die Entscheidung gefallen. Nach hartem Kampf haben sich die Gelbhemden im Schlussspurt klar durchgesetzt. Drei Jahre nach seinem Erfolg am Bodensee hat das Team sich erneut den Meistertitel erlaufen. Inzwischen haben die Zweiräder am Stausee geparkt. Hunderte von Surfern bevölkern das Wasser, drei Männer liegen im Gras und lassen sich ein kühles Bier schmecken. Omas Spätzle mit Gulasch dampfen auf dem Tisch. Himbeereis mit Vanillesoße lässt ein Kinderherz höher schlagen. |
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Nagoldseelauf Erzgrube 2009: Inzwischen haben die Zweiräder am Stausee geparkt. Hunderte von Surfern bevölkern das Wasser, drei Männer liegen im Gras und lassen sich ein kühles Bier schmecken |
Um vierzehn Uhr ist Siegerehrung. Stolz lassen sich drei Athleten die schwer erkämpften Goldmedaillen umhängen. Inzwischen ist es recht warm geworden. Ziemlich gerädert erwachen die Fahrer nach einem kurzen Schlaf in der prallen Sonne. Die Zweijährige hat ihren Mittagsschlaf ebenfalls beendet, ihr Vater fährt das Auto aus der Garage.
Um fünfzehn Uhr verlassen die glücklichen Sieger die Autobahn und steuern über Landstraßen ihrem Heimatort entgegen. Auf Deutschlands größtem Marktplatz parken drei schwere Motorräder, ihre Fahrer versorgen sich mit Camel, damit sie wieder meilenweit fahren können (Anmerkung: Langjähriger Werbespruch einer Zigarettenmarke: "Ich geh meilenweit für eine Camel Filter"). Inzwischen hat unsere Familie ihr Auto vier Kilometer entfernt an einem Waldparkplatz abgestellt, die Straße überquert und wandert auf einem asphaltierten Feldweg. Ein Junge schiebt sein kleines Schwesterchen im Sportwagen.
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Um zehn vor vier schleppt ein Läufer seine Taschen durch das Treppenhaus. An einer Araltankstelle am Fuße eines mächtigen Burgberges werden drei leere Tanks aufgefüllt. Ein Vater verstaut den roten Plastikball, mit dem er mit seinem Sohn auf einer Lichtung gespielt hatte. |
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Pflieger 29.32 DM-Nagold (Bild:
Kurt Kalmbach) 2012 An einer Araltankstelle am Fuße eines mächtigen Burgberges werden drei leere Tanks aufgefüllt. 21 Jahre später gewinnt dort Philipp Pflieger mit 29:32 die Deutsche Meisterschaft über 10 Kilometer |
Um siebzehn nach vier steht ein müder Sportler fröhlich singend unter der Dusche. Durch die mittelalterliche Schäferlaufstadt dröhnen zur gleichen Zeit starke Motoren. Eine Zweijährige hat Spaß daran, ihren Wagen auf dem leicht abschüssigen Weg zum Parkplatz selber zu schieben.
Um neunzehn nach vier schließt sich die Badezimmertüre. Die Gruppe verlässt das Nagoldtal und biegt rechts ab, den Höhen des Gäus zu. Da entschließt sich der Vater, vor der Heimfahrt noch kurz in die Büsche zu gehen.
Um zweiundzwanzig nach vier erreicht die Familie die Landstraße vor dem Parkplatz. In der Luft liegt Motorengeräusch. Müde Muskeln räkeln sich auf dem Sofa vor dem Fernsehapparat. Ein Radfahrer passiert die wartende Familie und wird in derselben Sekunde von einer Rakete auf zwei Rädern überholt.
Um dreiundzwanzig nach vier ist auch die zweite Maschine vorbeigeflogen. Der dritte Mann verliert die Gewalt über sein Fahrzeug, wie eine Bombe schlägt es in die Gruppe. Die Mutter und das Töchterchen sind auf der Stelle tot, dem Sohn fehlt ein Bein. Der Vater bleibt unverletzt mit seinem Schmerz allein zurück. |
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Unfallstelle: Ein Radfahrer hatte die wartende Familie passiert und war in derselben Sekunde von einer Rakete auf zwei Rädern überholt worden. - Um dreiundzwanzig nach vier ist auch die zweite Maschine vorbeigeflogen |
Ein Landesmeister entschließt sich, noch einen kleinen Lockerungsspaziergang zu unternehmen. Es ist doch ein zu schöner Sonntag.
Text und 3 Fotos: Günter Krehl
Textbeitrag und Fotos von Günter Krehl Zurück zur Rubrik Buch & Lesezirkel HIER Zu aktuellen Inhalten im LaufReport HIER |
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