34. Warschau-Marathon (30.9.12)

Paläste, Geraden und ein nagelneues Stadion

von Ralf Klink

Immer wenn bei einem Stadionumbau wieder einmal eine Laufbahn entfernt wird, damit man mit den Tribünen näher an das Fußballfeld in der Mitte heran rücken kann, beginnt das Zetern und Wehklagen unter Anhängern der traditionellen Leichtathletik. Davon, dass man dabei einen "unverzichtbaren Bestandteil des Stadions" heraus reiße, ist dann die Rede. Von "massiven Eingriffen in die Sportkultur" und von "mangelnder sportlicher Vielfalt".

Wenn man allerdings ein wenig über den eigenen Tellerrand hinausblickt, darf man sich aber vielleicht dennoch die Frage stellen, ob es denn wirklich sinnvoll ist, eine Arena, die zwar jede zweite Woche für ein Fußballspiel benutzt wird, sich aber vielleicht nur - wenn überhaupt - alle zehn bis zwanzig Jahre mit einem leichtathletischen Großereignis füllen lässt, unbedingt mit einem zehn Meter breiten Band aus Tartan zu umgeben.

Die im Zweiten Weltkrieg komplett in Schutt und Asche gelegte Warschauer Altstadt wurde inklusive Stadtmauer in einem jahrelangen Kraftakt so originalgetreu wie möglich rekonstruiert und steht deshalb schon seit mehr als drei Jahrzehnten auf der UNESCO-Welterbeliste

Selbst bei den längst in kleineren Stadien ausgetragenen nationalen Meisterschaften lassen sich die Ränge ja kaum noch füllen. Einst populäre Mannschafts-Wettbewerbe wie der Europacup - die Älteren werden sich diesbezüglich vielleicht tatsächlich noch an die sich über mehrere Tage hinziehenden Live-Übertragungen erinnern - oder Länderkämpfe sind längst in der Versenkung verschwunden.Auch an internationalen Sportfesten besteht - sieht man vielleicht einmal von Veranstaltunge

n in Hochburgen wie dem Züricher Letzigrund, dem Osloer Bislettstadion in Oslo oder dem Stockholmer Olympiastadion ab - von Zuschauerseite nur noch geringes Interesse. Eigentlich können nur noch Europa- und Weltmeisterschaften oder Olympische Spiele ausreichende Begeisterung erzeugen.

Da erscheint es durchaus legitim, wenn die Fußballklubs als Hauptnutzer der Stadien darauf drängen, bei Neu- oder Umbau auf die in ihren Augen störende Laufbahn zu verzichten. Es käme schließlich wohl auch niemand auf dem Gedanken, mit dem Argument der "sportlichen Vielfalt" bei jeder Sporthalle eine um das Spielfeld herum verlaufende Radrennbahn einzufordern.

Und selbst wenn eine solche Arena von der klassischen Leichtathletik der Sprinter, Springer und Werfer tatsächlich nicht mehr genutzt werden kann, ist es damit für die Sportart in etwas weiter gefasstem Sinne noch lange nicht völlig verloren. Es gibt schließlich noch den Bereich des Langstreckenlaufes, der selbst wenn längst die meisten Läufer mit DLV und IAAF nicht mehr das Geringste am Hut haben, eben offiziell trotzdem noch unter deren Obhut steht.

Zwischen bunten Häusern und engen Gassen der "Stare Miasto" fühlt man sich um Jahrhunderte in der Zeit zurück gesetzt

So enden, obwohl die Laufbahn aus den jeweiligen Sportarenen inzwischen verschwunden ist, sowohl der Marathon von Duisburg wie auch die Halbmarathons in Stuttgart und Frankfurt wieder mitten in den Stadien. Deren auf noch wesentlich größere Menschenmassen ausgelegte Logistik kann dabei fünf-, zehn- oder gar zwanzigtausend Teilnehmer in der Regel relativ problemlos verkraften.

Auch der Marathon in der polnischen Hauptstadt Warschau hat zur vierunddreißigsten Auflage seine neue Heimat in einem Stadion gefunden, das eigentlich einzig und alleine für die Jagd nach dem gefleckten Ball errichtet wurde. Nagelneu ist dieses Spielstätte, gerade einmal acht Monate vor der Laufveranstaltung wurde es eingeweiht.

Zu verdanken ist dies der im Sommer 2012 in Polen und der Ukraine ausgerichteten Fußball-Europameisterschaft, für die man eine neue repräsentative Arena brauchte. Der größtenteils noch aus den Fünfzigerjahren stammende Vorgängerbau - übrigens mit einer Laufbahn rund ums Feld - hätte diesen Ansprüchen selbst mit umfangreichen Renovierungsmaßnahmen nicht mehr gerecht werden können.

Nun erstrahlt das Nationalstadion - das ist tatsächlich der Name - in völlig neuem Glanz und den polnischen Landesfarben vom Stadtkern aus gesehen jenseits der Weichsel, dem mitten durch Warschau fließenden größten Strom Polens. Doch im Gegensatz zu vielen anderen Sportstädten, die weit außerhalb liegen, ist es eben dennoch kaum mehr als zwei bis drei Kilometer - also eine durchaus auch zu Fuß zurück zu legenden Distanz - von den touristischen Anlaufpunkten des Zentrums entfernt.

Vielleicht ist es sogar gerade die Tatsache, dass dieses sich nur auf dem linken Weichselufer erstreckt und die Stadt sich insgesamt eher von Fluss ab- als zu ihm hinwendet, die Warschau weniger häufig zum Ziel eines Städtetrips werden lässt als zum Beispiel Prag, das sich ja bekanntlich auf beiden Seiten der Moldau ausdehnt. Auch das von der Donau durchflossene Budapest genießt - selbst wenn es vielleicht nicht ganz mit der tschechischen Hauptstadt mithalten kann - diesbezüglich wohl ein höheres Ansehen.

Neben auffälligen Gebäuden wie der Barbakane, eine der Stadtmauer vorgelagerte Turmanlage (links) und der Sankt-Martin-Kirche mit ihrer barocken Fassade (rechts) finden sich in der Altstadt auch viel stille und verträumte Ecken

Die eher geringe Popularität Warschaus als Reiseziel lässt sich schon daran ablesen, dass es relativ schwer ist, passende Literatur zu entdecken, während gerade zu Prag praktisch jeder Verlag einen oder mehrere Reiseführer im Angebot hat. Doch tut man der polnischen Metropole damit eigentlich ziemlich Unrecht. Denn die Stadt hat ebenfalls viel Attraktives zu bieten und ist jederzeit einen Besuch wert.

Mit rund zwei Millionen Einwohnern ist sie eindeutiges Zentrum des Landes. Die bis ins Mittelalter zurück reichende Geschichte und die Tatsache, dass Warschau seit mehreren hundert Jahren als Hauptstadt Polens dient, haben für eine Vielzahl historischer Bauten aller möglicher Stilrichtungen gesorgt. Und seit dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems wachsen zudem immer mehr moderne Bürobauten aus dem Boden. So bietet Warschau dann auch eine ziemlich interessante Mischung, die sich allerdings noch nicht unbedingt herumgesprochen zu haben scheint.

Wirklich weiter entfernt als andere Städte, die von Touristen deutlich häufiger angesteuert werden, ist es jedoch nicht. Selbst wenn man mit dem Zug aufgrund fehlender auf Schnellfahrtrassen von Berlin aus noch weit über fünf Stunden unterwegs ist, dauert der Flug aus dem deutschsprachigen Raum nur wenig über eine Stunde. Und der nach dem französisch-polnischen Komponisten Frédéric Chopin benannte Flughafen wird von einer ganzen Reihe dortiger Städte zum Teil sogar mehrmals am Tag angesteuert.

Dank der ebenfalls zur Fußball-EM neu eröffneten direkten Anbindung mit der S-Bahn - die offizielle Bezeichnung dieses Verkehrsmittels wird man sich als Nicht-Polnischsprecher kaum merken können, lautet sie doch "Szybka Kolej Miejska w Warszawie" - ist man innerhalb von dreißig Minuten im Stadtzentrum. Und zwar für ziemlich wenig Geld, denn eine einfache Fahrt kostet umgerechnet weniger als einen Euro.

Rund um den Kulturpalast mit seinem "Zuckerbäckerstil" ragen immer mehr hochmoderne Büro- und Hoteltürme in den Himmel Und auch das Einkaufszentrum "Zlote Tarasy" - auf Deutsch "goldene Terrassen" - mit seiner auffällig gewellten Glaskuppel liegt in dessen direkter Nachbarschaft

Das ist keineswegs ungewöhnlich. Die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ist in Polen grundsätzlich deutlich günstiger als hierzulande. Für eine Drei-Tages-Karte mit beliebig vielen innerhalb Fahrten mit den Bussen und Bahnen des Warschauer Verkehrsverbundes steckt man ganze sechs Euro in den Automaten. Und während bei vielen Konsumartikeln wie Bekleidung oder Elektrogeräten ungefähr die von zu Hause gewohnten Preise verlangt werden, fallen zum Beispiel die Rechnungen in Restaurants oft ebenfalls deutlich niedriger aus.

Auch der Marathon von Warschau ist mit gerade einmal einhundert Zloty - korrekter wäre hier eigentlich die Pluralbezeichnung "Zlotych" - Startgebühr keineswegs am oberen Ende der Skala angesiedelt. Denn bei einem Kurs von etwa eins zu vier werden so für die Teilnahme gerade einmal fünfundzwanzig Euro fällig. Für den am gleichen Tag ausgetragenen Lauf von Berlin musste man am Ende dagegen den vierfachen Betrag zahlen. Und selbst die allerersten Anmeldungen wurden dort nur gegen stolze sechzig Euro entgegen genommen.

Während viele andere Veranstaltungen ihre Gesamteilnehmerzahlen mit zusätzlichen Wettbewerben anheben, es in Deutschland abgesehen vom stets ausgebuchten Rennen in Berlin inzwischen praktisch überhaupt keine "reinen" Marathonläufe mehr gibt und dabei das Rahmenprogramm im Zuspruch meist das vermeintliche Hauptereignis auch weit übertrifft, beschränkt man sich in der polnischen Hauptstadt tatsächlich einzig und allein auf die namensgebende Distanz.

Das ist durchaus erstaunlich, wenn man sich einmal die Entwicklung genauer betrachtet, die der "Maraton Warszawski" hinter sich hat. Denn nachdem man in den Achtzigern meist zwischen tausend und zweitausend Läufer am Start hatte, sackten die Zahlen in der Zeit nach der politischen Wende im östlichen Europa aufgrund der mit ihr verbundenen Umbrüche und vielleicht auch dank der neuen Reisemöglichkeiten in den dreistelligen Bereich ab.

Statt eintöniger sozialistischer Plattenbauten lassen sich nun etliche architektonisch interessante Glaspaläste in Warschau entdecken

Bis zur Jahrtausendwende war man bei nur noch etwas über fünfhundert gelandet. Den absoluten Tiefpunkt gab es 2002, als gerade einmal 307 Läufer im Ziel registriert wurden. Der Marathon in Prag, den man wieder als Vergleichsmaßstab heran ziehen könnte, war zu diesem Zeitpunkt rund zehnmal so stark. Und selbst die nationale Konkurrenz in der weiter westlich gelegenen Messe- und Universitätsstadt Posen - oder auf Polnisch "Poznan" - vermeldete knapp vierstellige Zahlen.

Zwar ging es anschließend mit dem Hauptstadtrennen wieder kontinuierlich aufwärts. Im Jahr 2007 überbot man die Marke von zweitausend Teilnehmern, zwei Jahre später waren bereits mehr als dreitausend Läufer dabei und erneut zwei Auflagen danach knackte man auch die Viertausendergrenze. Ständig gab es neue Rekorde. Doch wuchs Poznan eben in gleichem Maße mit und konnte stets - für den Beobachter aus der Ferne eigentlich recht überraschend - seine Führungsposition gegen die Metropole behaupten.

Diesmal dürfte man es im etwa auf halbem Weg zwischen Berlin und Warschau zu findenden Posen mit der Mitte Oktober stattfindenden Veranstaltung jedoch wirklich schwer haben, sich an der Spitze zu halten. Denn der Hauptstadtmarathon hat einen gewaltigen Sprung nach vorne gemacht und binnen eines einzigen Jahres seine Teilnehmerzahlen um über fünfzig Prozent gesteigert.

Mehr als siebentausend Anmeldungen sind eingegangen, womit man sich wirklich dem angesichts der Werte der Vergangenheit eigentlich eher unrealistisch wirkenden Limit von achttausend Startern genähert hat. Am Ende wird man dann 6796 Namen in die Ergebnisliste - polnisch "wyniki" - eintragen können und damit die auf 4061 stehende Bestmarke aus dem Vorjahr regelrecht pulverisieren. Übrigens übertrifft man damit erstmals auch Prag, wo zuletzt noch immer jährlich ein- bis zweitausend Sportler mehr über die zweiundvierzig Kilometer gingen.

Fast überall würden solche Gassen, wie man sie in der "Nowe Miasto" findet eindeutig unter der Rubrik "Altstadt" eingeordnet. Doch lässt sich der Name trotzdem mit "Neustadt" übersetzen. Denn trotz einer bis zum Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts zurück reichenden Geschichte ist sie eben deutlich jünger als die benachbarte Schwester

Das ist natürlich auch auf die größer werdende polnische Laufszene zurück zu führen. Schließlich können die Marathons in den Großstädten Krakau und Breslau ebenfalls mit ähnlichen Zuwachsraten glänzen und sind inzwischen in den Bereich von mehreren tausend Startern vorgestoßen. Und auch beim Traditionslauf von Debno und dem Rennen in Lódz - die drittgrößte Stadt des Landes und als Zentrum der heimischen Textilindustrie so etwas wie das polnische Manchester - konnte man 2012 erstmals die Vierstelligkeit erreichen.

Vielleicht hat das gestiegene Interesse ja aber tatsächlich auch mit der guten Werbung durch das Fußball-Großereignis zu tun, bei dem sich die Polen als ziemlich gute Gastgeber zeigen konnten. Und eventuell hat der Zieleinlauf im Stadion ebenfalls neue Läufer angelockt, manchmal durchaus aus größerer Entfernung. Denn während bei den meisten anderen Marathons des Landes die Polen doch noch weitgehend unter sich bleiben, ist in Warschau sehr wohl ein gewisser Anteil ausländischer Lauftouristen zu entdecken.

Die Internetseite ist natürlich längst zweisprachig gehalten und bietet neben einer polnischen auch eine englische Version. Das gleiche gilt auch für die anderen Unterlagen wie die per e-Mail verschickte Meldebestätigung oder die zusammen mit der Startnummer ausgegebene Rennbroschüre. Diese soll man im "Race Office" im Nationalstadion erhalten. Und irgendwie stellt sich nach der wörtlichen Übersetzung ins Deutsche beim Begriff "Rennbüro" die Vorstellung eines kleinen Raumes irgendwo im Außenbereich der Arena ein.

Die Anlage selbst ist nun wirklich leicht zu finden. Nicht nur dass sie weithin sichtbar ist, sobald man an die Weichsel vorstößt. Auch leiten eigens zur Europameisterschaft an praktisch allen größeren Kreuzungen der Innenstadt angebrachte Schilder Besucher in die richtige Richtung. Sogar die ungefähre Wegezeit ist dort vermerkt, selbst wenn diese sich eher auf ein lockeres Bummeln als auf zielgerichtetes Gehen bezieht.

Am Schlossplatz (links) beginnend verläuft der sogenannte Königstrakt vorbei an der Visitantinnen-Kirche (mitte) und klassizistischen Häuserfronten immer nach Süden

Das neue Stadion ist keineswegs ein düsterer, grober und grauer Betonklotz. Schon alleine die oben deutlich weiter nach außen strebende Konstruktion verleiht ihm eine gewisse Eleganz und Leichtigkeit, die durch mehreren Dutzend ebenfalls nach außen geneigten Stützen noch verstärkt wird. Auch die Verkleidung mit leicht abgewinkten Platten aus ähnlich wie die polnische Flagge gestrichenem Maschengewebe sorgt für optische Offenheit und zudem für einen weithin sichtbaren Farbeffekt. Es gibt jedenfalls definitiv wesentlich hässlichere Arenen.

Etwas schwieriger stellt es sich dann jedoch dar, das richtige Schlupfloch in das natürlich weiträumig von einem Zaun umgebene Gelände zu entdecken. Zumindest wenn man bereits freitags bei noch deutlich geringerem Andrang seine Unterlagen abholt und deswegen nicht einfach der Masse hinterher laufen kann. Ein wenig muss man dabei bis zum Eingang auch noch zusätzlich marschieren, befindet er sich doch auf der dem Fluss und der Stadt abgewandten Rückseite des Stadions.

Vorbei an mehreren Ständen von Sponsoren zeigen Tafeln mit der doppelten Aufschrift "Biuro Zawodów / Race Office" auf die große Freitreppe vor dem Stadion und dann diese auch hinauf. Doch hinter der Tür wartet keineswegs nur jenes kleine Hinterzimmer, auf das man sich schon eingestellt hatte. Vielmehr sperrt man erst einmal den Mund vor Erstaunen und Faszination auf. Mitten auf der Tribüne der imposanten neuen Arena ist man nämlich gelandet.

Denn Startnummernausgabe und auch eine kleine Marathonmesse befinden sich auf der in halber Höhe ums ganze Rund führenden Galerie. Das Ganze hat jedoch von Innen ebenfalls nur noch wenig mit dem gemein, was man sich im Normalfall unter einem "Stadion" vorstellt. Es gibt keinerlei Zäune, Stehplätze oder Wellenbrecher, wie man sie bei den klassischen Fußballplätzen alter Ausprägung erwarten würde.

Vielmehr ist die gesamte Tribüne mit ebenfalls in den polnischen Nationalfarben gehaltenen Klappsitzen bestückt, deren bunt gemischte Anordnung bei genauerer Betrachtung dann doch nur scheinbar zufällig ist. Zusammen mit dem an diesem Tag geschlossenen Dach - eine zwar lichtdurchlässige, aber durch in das Material integrierte Glasfasern dennoch ziemlich robuste Konstruktion - wirkt die Arena deshalb auch viel eher wie eine riesige, etwas überdimensionierte Sporthalle.

Das erst in diesem Jahr eingeweihte Nationalstadion ist das neue Zentrum des Warschauer Marathons

Das alles mag jenen Fußball-Anhängern, die lieber in Fanblöcken stehend ihre oft wenig intelligenten "Schlachtgesänge" - ein angesichts eines doch eigentlich völlig unwichtigen Ballspieles wirklich furchtbares Wort, das leider auch in der Berichterstattung immer wieder auftaucht - anstimmen, nicht unbedingt gefallen. Doch wer "nur" bei einem Sportereignis dabei sein und dabei auf einen gewissen Komfort nicht verzichten möchte, wird im Warschauer Nationalstadion auf jeden Fall ziemlich gut bedient.

Zeit genug sich die neue Arena anzuschauen, hat man schon alleine deswegen, weil bis zu den Schaltern mit den Startnummern fast eine halbe Runde zu drehen ist. Nur gegen die unterschriebene und abzugebende Meldebestätigung bekommt man die Unterlagen von den meist noch recht jungen, aber vermutlich gerade aus diesem Grund alle mit ziemlich guten Fremdsprachenkenntnissen ausgestatteten Helfern ausgehändigt.

Neben einem ganzen Sortiment unterschiedlicher Probepäckchen des als Sponsor auftretenden Bonbonproduzenten und den üblichen Werbezetteln weiterer Geldgeber findet sich auch ein im Startgeld enthaltenes T-Shirt im Beutel. Über das Preis-Leistungs-Verhältnis kann man sich beim Warschauer Marathon nun wahrlich nicht beschweren. Da ist man aus der Heimat, wo man meist deutlich mehr Geld auf den Tisch legen muss und dennoch oft weniger dafür bekommt, schließlich ganz anderes gewohnt.

Unten auf dem Spielfeld, das an diesem Wochenende allerdings keineswegs mit grünem Rasen bedeckt ist sondern als blanke Betonfläche daher kommt, wird währenddessen bereits an den Zielaufbauten für den zwei Tage später stattfindenden Lauf gewerkelt. Und schon beim Blick von oben wirken diese letzten Meter des Marathons ziemlich beeindruckend und wecken eine gewisse Vorfreude auf den kommenden Einlauf mitten hinein in dieses Schmuckstück von einem Stadion.

Auch das Wetter spielt Organisatoren und Teilnehmern keinen Streich. Über das ganze Wochenende soll es nämlich trocken bleiben. Dazu sind von den Meteorologen Temperaturen im Bereich von fünfzehn bis maximal zwanzig Grad angekündigt. Dass sich diese nach Meinung der Wetterkundler ausgerechnet am Renntag eher an der unteren Grenze des Intervalls orientieren werden, ist ebenfalls nicht unbedingt ein Nachteil. Für die Läufer nicht zu warm, für Helfer und Zuschauer nicht zu kalt, besser kann man es sich vielleicht wirklich kaum wünschen.

Der Morgen des Marathonsonntages ist dann aber doch eher frisch. Allerdings liegt dies weniger an den objektiven Temperaturen, die bereits beim - aufgrund der deutlich östlicheren Lage Warschaus um halb sieben für Ende September überraschend frühen - Sonnenaufgang zweistellig sind. Doch pfeift ein frischer Westwind durch die Straßen der Stadt und lässt die Fahnen ziemlich heftig an ihren Masten flattern.

Startnummernausgabe (links), Zieleinlauf sowie Umkleide und Kleiderbeutelabgabe finden sich in der nagelneuen Arena

Für neun Uhr ist der Start angesetzt. Da das Stadion von den meisten Hotels der Innenstadt selbst zu Fuß in maximal einer halben Stunde zu erreichen ist, bleibt genug Zeit sich dort einzufinden. Wer auf den Spaziergang vor dem Start keine Lust hat oder seine Kräfte lieber für das anstehende Rennen schonen möchte, kann natürlich auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln anreisen. Nordöstlich des Stadions gibt es schließlich den gleichnamigen Haltepunkt, der vom Bahnhof Sródmiescie - auf Deutsch etwa "Stadtmitte" - in dichtem Takt angefahren wird.

Ein wenig aufpassen sollte man dabei allerdings. Denn nur wenige Schritte vom unterirdischen "Warszawa Sródmiescie" gibt es leicht versetzt dazu auch noch den - abgesehen vom Empfangsgebäude ebenfalls komplett unter der Oberfläche liegenden - Hauptbahnhof "Warszawa Centralna", in dem neben allen Fernzügen eben auch einige S-Bahnen halten. Und obwohl diese praktisch direkt parallel zu den durch die Station "Stadtmitte" fahrenden Linien verkehren, halten sie eben nicht am Stadion.

Nicht nur die Namen sind unterschiedlich. Obwohl die beiden Bahnhöfe auch bei großzügigster Schätzung maximal wenige hundert Meter auseinander liegen, sind sie auch nicht unbedingt gut durch Fußgängerpassagen miteinander verknüpft. Umsteigen zwischen beiden ist also trotz geringer Entfernung eher mühsam. Noch verwirrender wird die Situation dadurch, dass die benachbarte Metro-Haltestelle mit "Centrum" ebenfalls wieder anders benannt, erneut leicht versetzt und nicht direkt angebunden ist.

Und für Auswärtige endgültig undurchschaubar ist dann die Tatsache, dass es nicht nur auf der östlichen, stadtnahen Seite des Hauptbahnhofes eine Station "Warszawa Sródmiescie" existiert sondern auch westlich von ihm. Diese trägt allerdings den Zusatz "WKD" und ist der Endpunkt einer in Langform "Warszawska Kolej Dojazdowa" heißenden und etwa mit "Warschauer Zubringerbahn" ins Deutsche zu übersetzenden Vorortstrecke.

Für den vielleicht wichtigsten Verkehrsknoten im Stadtzentrum sind also einige Punkte gelinde gesagt nicht vollkommen optimal gelöst. Es gibt jedenfalls in etlichen anderen Städten Hauptbahnhöfe, bei denen die Entfernungen zwischen den Haltepunkten der einzelnen Verkehrsmittel auch nicht unbedingt kleiner sind, die Wege beim Übergang aber trotzdem deutlich kürzer ausfallen.

Hauptsächlich ist dies auf die historische Entwicklung des Zugverkehrs in Warschau zurück zu führen, die sich aufgrund der beiden Weltkriege und der anschließenden sozialistischen Herrschaft lange nur von Provisorium zu Provisorium hangelte. Erst 1970 wurde schließlich mit den Planungen zum aktuellen Hauptbahnhof begonnen. Zwei Jahre später starteten dann die Arbeiten. Die eigentlich nur als Notlösung zur Abwicklung des Nahverkehrs gedachte Station Sródmiescie hatte sich zu diesem Zeitpunkt allerdings schon längst etabliert.

Da Warszawa Centralna aus propagandistischen Gründen unbedingt bis zum Besuch des sowjetischen Parteichefs Leonid Breschnew 1975 fertig werden sollte, legte man während der hastigen Bauphase jedoch nicht immer höchsten Wert auf Qualität. So wird seit fast vier Jahrzehnten immer wieder nachgebessert. Die Renovierung für die Fußball-Europameisterschaft soll nun jedoch die letzte gewesen sein. Denn die Planungen für einen neuen Hauptbahnhof - dann eventuell auch mit besserer Anbindung zu den Nachbarn - sind bereits angelaufen.

Gestartet wird das Rennen auf der direkt am Stadion vorbei führenden Hauptstraße

Um angesichts dieses Wirrwarrs auf Nummer sicher zu gehen, kann man für den Weg zum Marathonstart allerdings auch die Straßenbahn benutzen, deren Gleise auf der kilometerlang schnurgerade durch die Hauptstadt schneidende und genau aufs Stadion zuführende "Aleje Jerozolimskie" - die "Jerusalemer Alleen" - verlaufen. Die rot-gelben Tramzüge tragen in Warschau - für eine europäische Metropole diese Größenordnung durchaus ungewöhnlich - ohnehin noch immer die Hauptlast des innerstädtischen Schienenverkehrs.

Die Benutzung der Straßenbahn ist für Läufer am Marathontag übrigens genauso kostenlos wie die Fahrt in allen anderen Verkehrsmitteln. Obwohl sich eigentlich direkt vor der Arena eine Haltestelle befinden würde, kommt man mit der Tram aber am Ende auch nicht näher als bei Benutzung der S-Bahn ans Stadion heran. Das letzte Stück über die Weichselbrücke muss man dann doch wieder zu Fuß gehen. Diese ist nämlich die Startgerade und deshalb bereits seit dem frühen Morgen gesperrt.

Nicht nur der rückwärtige Haupteingang des "Stadion Narodowy" ist diesmal geöffnet, auch direkt von der Straße kann man das Gelände betreten. Doch ist dies vor dem Rennen nur durch Vorzeigen der Startnummer möglich. Schon in den Vortagen hatten einige - wohl von der Betreibergesellschaft beschäftigte - Ordner mit dem Aufdruck "Steward" auf ihren gelben Warnwesten in der weitläufigen Anlage nach dem Rechten gesehen und den Besucherstrom ein wenig gelenkt. Nun kontrollieren sie freundlich aber bestimmt den Zugang.

Befürchten, einige Stunden später in ein vollkommen leeres Stadion einzulaufen, muss man allerdings nicht. Ab zehn Uhr - also lange bevor die Ersten wieder von der Strecke zurück sein werden - werden die Tore auch für die Allgemeinheit geöffnet, so dass Freunde und Familienangehörige die letzten Meter "ihrer" Marathonis bequem von der Tribüne aus beobachten können.

Die Schilder rund ums Stadion leiten die Läufer nun nicht mehr zum "race office" sondern zu "bagage deposit" und "changing tents". Und ihnen folgend wandern die Ankommenden um das halbe Areal herum, bevor die lange Karawane im Untergeschoss der Arena verschwindet. Nicht nur als Zieleinlauf wird diese nämlich genutzt. Die gesamte Infrastruktur, die man vor und nach dem Rennen benötigt, ist im unter den Tribünen ums ganze Spielfeld herum verlaufenden Gang untergebracht.

Optimaler geht es kaum und viel kürzer als im Warschauer Nationalstadion können die Wege bei einer Laufveranstaltung eigentlich nicht mehr ausfallen. Nur wenige Schritte hinter der Ziellinie, die man durch die noch geschlossenen Tore zum Innenraum erkennen kann, wird man später wieder seinen Kleiderbeutel in der Hand halten dürfen. Das Ganze auch noch überdacht und damit geschützt vor Wind und Wetter. Selbst ohne Laufbahn ist diese Arena keineswegs völlig für die Leichtathletik verloren, sie wird ganz im Gegenteil durch den Marathon nahezu perfekt genutzt.

Die Vermutung, dass die Aufschrift "changing tents" - die polnische Variante "przebieralnie", was einfach "Umkleiden" bedeutet, ist da von vorne herein wesentlich neutraler - auf den Schildern von einer früheren Auflage übrig geblieben ist, stellt sich übrigens als Irrtum heraus. Selbst wenn sie schon alleine wegen der eher geringen Kapazität am Ende nur von wenigen benutzt werden, sind im Kellergang des Stadions tatsächlich einige Zelte aufgebaut.

Die gesamten Abläufe sind von den Organisatoren wohl durchdacht. Unter der Erde herrscht nämlich Einbahnstraßen-Verkehr. Der Weg zum Start führt nach einer Dreiviertelrunde um die Arena durch einen anderen Ausgang hinaus. Von dort ist es dann nicht mehr allzu weit zu den Aufstellungszonen. Die einzelnen Blöcke sind dabei zwar eigentlich durch verschieden eingefärbte Startnummern gekennzeichnet, doch wirklich kontrolliert wird der Zugang nicht.

Schilder mit den ungefähren Endzeiten am Straßenrand geben ein bisschen Orientierung. Und ansonsten stellt man sich eben dorthin, wo es am besten passt. Großes Gedrängel entsteht allerdings dennoch nicht. Auch in Polen wird inzwischen wie praktisch überall in Europa weit weniger leistungsorientiert gelaufen als früher.

Gleich nach dem Start führt die Strecke auf der Poniatowski-Brücke über die Weichsel

Die Zeiten einer Wanda Panfil, die neben dem Weltmeistertitel 1991 auch die Marathons von London, New York und Boston gewann, oder der mehrfachen Berlin-Siegerin Renata Kokowska sind längst vorbei. Und die polnischen Herren, die noch in den Neunzigern zum Beispiel durch Leszek Beblo, Jan Huruk oder Piotr Gladki das eine oder andere größer internationale Rennen für sich entscheiden konnten, sind gegen die ostafrikanische Übermacht inzwischen meist ohne jede Chance.

Doch während die Frauen zur Zeit hinter der - allerdings nicht ganz so dicht gedrängten - Weltspitze rund zehn Minuten hinterher hinken, hat man bei den Männern mit Henryk Szost immerhin einen Läufer, der nachdem er im Vorjahr in Frankfurt erstmals die 2:10 unterboten hatte seine Bestzeit nun sogar auf 2:07:39 nach unten drücken konnte. Eine Leistung, die ihm in einer nahezu ausschließlich von Kenianern und Äthiopiern dominierten Weltrangliste aktuell noch eine Platzierung unter den ersten Fünfzig einbringt.

Auch bei den Spielen in London war Szost als Neunter bestplatzierter Europäer. Zwar ist der neue polnische Langstreckenstar nur sieben Wochen nach dem Olympiamarathon natürlich in Warschau nicht am Start. Gerade aufgrund seiner letzten Ergebnisse hätte man vermutlich auch gar nicht das Budget, Szost überhaupt zu verpflichten. Er nimmt vor Ort jedoch Sponsorentermine wahr und soll dabei unter anderem auch das Aufwärmprogramm vor dem Rennen anleiten.

Wer des Polnischen nicht mächtig und deswegen die Sätze des Ansagers nicht versteht, bekommt gar nicht richtig mit, als das Rennen gestartet wird. Denn von einem Schuss oder irgendeinem anderen lauten und eindeutigen Startsignal ist mitten im großen Feld nichts zu hören. Und was im ersten Moment nur wie das langsame Aufrücken zur Verdichtung der Startaufstellung wirkt, endet völlig unerwartet mit dem Überlaufen der Chipmatte.

Etwa auf der Höhe der zwei auffälligen Türmchen, die den Beginn der Poniatowski-Brücke markieren, ist diese ausgelegt. Auch wenn die beiden "wieze" ein wenig an mittelalterliche Burgtürme erinnern, haben sie keinerlei Zweck außer gut auszusehen. Auf der anderen Seite des auf Polnisch "Wisla" genannten Flusses stehen dann auch zwei Gegenstücke. Da nur eine der beiden Fahrtrichtungen auf der "Most Poniatowskiego" für die Läufer reserviert ist, dauert es rund zehn Minuten bis auch der Schluss des großen Feldes die Linie überschritten hat.

Rund einen halben Kilometer lang ist der Weg über die Brücke, die nach einem in der Völkerschlacht von Leipzig getöteten polnischen General benannt ist. Dass er dabei in französischen Diensten, dabei aber trotzdem für die Unabhängigkeit seiner Heimat kämpfte, ist bezeichnend für die wechselvolle Geschichte Polens. Nur wenige Jahrzehnte zuvor hatten schließlich Preußen, Russland und Österreich das aufgrund innerer Konflikte geschwächte Königreich in mehreren Schritten so lange unter sich aufgeteilt, bis nichts mehr davon übrig war.

Auch jenseits der Weichsel und hinter der eigentlichen Flussüberführung verläuft die Straße weiter erhöht über das etwas tiefer gelegene und an dieser Stelle relativ breite Ufergelände. Der ursprüngliche Stadtkern und das Zentrum Warschaus liegen dagegen auf einer Anhöhe etwa zwanzig Meter über dem Strom. Und selbst wenn man in der Anfangsphase des Rennens und auf der kerzengeraden, breiten Straße kaum etwas davon merkt, gilt es einige davon auch noch auf den Aleje Jerozolimskie zu überwinden.

Benannt ist dieser zentrale Straßenzug, der sich im Westen weit über den Stadtkern hinaus bis in die Vororte erstreckt, entgegen des ersten Anscheins nicht nach der Stadt in Israel. Vielmehr stammt der Namen von einer vor den Toren der damaligen Stadt gelegenen jüdischen Siedlung "Nowa Jerozolima", also "Neu Jerusalem", die durch die Allee ursprünglich mit Warschau verbunden war. Heute ist das Örtchen längst verschwunden und sein damalige Standort Bestandteil Warschaus - und das sogar am Rand des zentralen Bezirks Sródmiescie.

Auch jenseits der Weichsel verläuft die Straße noch rund einen Kilometer als mit Türmen und Pavillons verzierte Brücke über das tiefer gelegene Flussufer

Erst weit nachdem man die angesichts des Windes recht heftig an ihrer Befestigung ziehende Fahne passiert hat, die den ersten Kilometer anzeigt, enden die nun über Land führenden Brückenbögen an zwei weiteren der schon bekannten Türme. Dazwischen hatte man auch noch einige weitere Bauten am Straßenrand passiert, die von dieser erhöhten Position nur wie wahllos platzierte kleine Pavillonarkaden aussehen, sich bei Betrachtung von unten allerdings als mächtige Seitenportale der unter der Brücke hindurch führenden Straßen herausstellen.

Hinter dem dritten und letzten Turmpaar fallen die vier Gebäudeflügel des Nationalmuseums ins Auge. Von außen eher nüchtern und eventuell auch etwas klobig ausgefallen, präsentiert das "Muzeum Narodowe" innen unter anderem die größte Gemäldesammlung des Landes. Wie in einer Hauptstadt üblich ist neben Nationalmuseum und Nationalstadion in Warschau auch noch vieles andere "national". Da gibt es zum Beispiel eine Nationalbibliothek, eine Nationalphilharmonie, eine Nationaloper und ein Nationaltheater.

Dass dieses "national" dabei nicht nur hinter "Biblioteka", "Filharmonia", "Opera", "Teatr", "Muzeum" steht sondern manchmal "Narodowy", manchmal "Narodowa" und manchmal auch "Narodowe" heißt, hat mit den Besonderheiten des Polnischen zu tun. Wie bei nahezu allen slawischen Sprachen gibt es dort nämlich weder bestimmte noch unbestimmte Artikel. Alles wird über die Endungen ausgedrückt. In dieser Hinsicht ist das Polnische dem Latein ähnlicher als die aus diesem hervor gegangene romanische Sprachgruppe.

So kann ein Wort je nach Konstellation in vielen verschiedenen Varianten auftauchen. Nicht nur die oft ziemlich ungewohnten Konsonantenkombinationen machen Deutschsprachigen also die Wiedererkennung polnischer Begriffe schwer sondern auch die ständig neuen Abwandlungen, in denen man ihnen begegnet. Die Vielfalt wird auch dadurch noch gesteigert, dass es bei der polnischen Grammatik statt der aus dem Deutschen gewohnten vier gleich sieben unterschiedliche Fälle kennt.

Und selbst bei Eigennamen wird eine entsprechende Anpassung vorgenommen. Und zwar keineswegs nur bei heimischen. So kann man auf dem Weg durch die Stadt dann auch schon einmal auf die "Ulica George'a Harrisona", die hierzulande "George-Harrison-Straße" heißen würde, stoßen. Und der Verkehrskreisel, den man kurz hinter dem Nationalmuseum erreicht, trägt den Namen "Rondo Charles'a de Gaulle'a".

Damit soll allerdings nicht nur der spätere Staatsmann gewürdigt werden. Vielmehr hatte de Gaulle kurz nach dem Ersten Weltkrieg als Teil einer französischen Militärabordnung auch entscheidend zum Aufbau der Streitkräfte des nach einem Jahrhundert der Teilung gerade erst wieder unabhängig gewordenen polnischen Staates beigetragen und in seiner Zeit als Ausbilder nur einige Meter vom Kreisverkehr gewohnt.

Es hat durchaus etwas von Ironie der Geschichte, dass es sich bei einem der Eckhäuser des nach dem Franzosen benannten Platzes um den früheren Sitz der mehr als vier Jahrzehnte mit nahezu absoluter Macht über das Land herrschenden "Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei" handelt - insbesondere weil de Gaulle während des polnisch-sowjetischen Krieges im Jahr 1920 sogar selbst an Kämpfen mit der russischen Roten Armee beteiligt war, deren Vormarsch damals erst kurz vor Warschau gestoppt werden konnte.

Ein Vierteljahrhundert später waren die Truppen der UdSSR dann tatsächlich in Warschau - und in ihrem Schlepptau auch die polnischen Kommunisten, für die bald darauf das "Haus der Partei" gebaut wurde. Die direkt vor diesem "Dom Partii" - aus dem inzwischen als weitere Ironie ausgerechnet ein Bank- und Finanzzentrum geworden ist - positionierte Statue des französischen Präsidenten wurde allerdings erst vor einigen Jahren als originalgetreue Kopie eines Pariser Denkmals aufgestellt.

Mit dem modernen Gebäude des obersten Gerichtshofes… …dem Denkmal für den Warschauer Aufstand und der Kathedrale der polnischen Armee… …sowie dem barocken Krasinski-Palast bietet der gleichnamige Krasinski-Platz einen interessanten Stilmix

Inzwischen bekannteste Sehenswürdigkeit am Rondo Charles'a de Gaulle'a ist jedoch die ebenfalls erst im neuen Jahrtausend errichtete künstliche Palme in seiner Mitte. Sie ist auch die Wegmarke, an der die lange Startgerade des Warschauer Marathons ihr Ende findet. Der Kurs - auf Polnisch übrigens für Deutschsprachige sogar beinahe verständlich "Trasa" genannt - schwenkt hinter ihr nämlich nach rechts und biegt in eine Straße mit dem seltsamen Namen "Ulica Nowy Swiat", denn übersetzt bedeutet er "Neue-Welt-Straße".

Wirklich neu wirkt allerdings nichts von dem, was man da am Straßenrand sehen kann. Es ist vielmehr eine praktisch geschlossenen Bebauung aus dreigeschossigen, in verschiedenen Pastellfarben gestrichenen Häusern aus der Zeit des Klassizismus, also des Baustils am Übergang des achtzehnten ins neunzehnte Jahrhundert, als Polen erst durch drei Teilungen von der Landkarte verschwand und dann für kurze Zeit wieder als von Napoleon gebildeter Satellitenstaat "Herzogtum Warschau" auf ihr auftauchte.

Nur wenige Jahre später, nachdem der Franzosenkaiser endgültig zur Abdankung gezwungen worden war, wurde dessen Territorium beim Wiener Kongress allerdings gleich wieder zwischen den Nachbarn aufgeteilt. Der größte Teil wurde als sogenanntes Kongresspolen dem russischen Zaren zugeschlagen, der eigentlich nur in Personalunion als polnischer König über eine weitgehend selbstständige Nation herrschen sollte. Bald jedoch wurden alle Sonderegelungen zurück genommen und Polen am Ende wieder nach Russland einverleibt.

Selbst wenn sie eindeutig so aussehen, stammen die Häuserreihen entlang der "Neuen Welt" allerdings keineswegs aus dem beginnenden neunzehnten Jahrhundert. Sie haben vielmehr gerade einmal ein Viertel der Zeit auf dem Buckel. Nach dem Zweiten Weltkrieg, durch den mindestens die Hälfte der Stadt völlig in Schutt und Asche lag, wurde vieles in jahrelanger Kleinarbeit so originalgetreu wie möglich wieder aufgebaut. Fast nichts, was in Warschau alt wirkt, ist deshalb auch wirklich alt.

Selbstverständlich wäre es einfacher gewesen, wie in vielen zerbombten deutschen Städten die Trümmer beiseite zu räumen und auf den frei gewordenen Flächen komplett neu zu bauen. Doch man entschied sich dafür, in einem eigentlich nur noch als "Trotzreaktion" zu bezeichnenden Kraftakt anhand alter Fotos, Zeichnungen und Pläne ganze Straßenzüge, etliche Kirchen und Paläste so weit wie möglich zu rekonstruieren. Insbesondere die ursprünglich noch aus dem späten Mittelalter stammende Altstadt wird dabei besonders hervor gehoben.

Auf dem etwa fünfhundert auf fünfhundert Meter großen Areal der "Stare Miasto", das die Keimzelle der nun auf zwei Millionen Menschen angewachsenen Metropole bildet, waren praktisch sämtliche Gebäude bis auf die Grundmauern zerstört. Innerhalb von zehn Jahre wurden sie jedoch zumindest äußerlich - im Inneren griff man auf moderne Zuschnitte zurück - bis ins kleinste Detail wieder her gestellt. Selbst die vielfältigen Bemalungen und Stuckverzierungen der Fassaden versuchte man mit viel Erfolg zu kopieren.

Ein Aufwand, der sich - gerade verglichen mit etlichen hauptsächlich aus kalten Betonbauten bestehenden Innenstädten hierzulande - absolut gelohnt hat. Die Warschauer Altstadt ist nicht nur eine Touristenattraktion ersten Ranges. Sie wurde auch - obwohl nichts an ihr wirklich original ist - schon ziemlich früh vor mehr als drei Jahrzehnten in die UNESCO-Welterbeliste eingetragen. Und polnische Restauratoren haben noch immer den in jener Zeit erarbeiteten Ruf, zu den besten der Welt zu gehören.

Spötter nennen das Ganze allerdings durchaus auch einmal "eine der größten Fälschungen der Geschichte". Aber man kann sich natürlich immer darüber streiten, wann ein Gebäude aufhört Original zu sein und zur Nachbildung wird. Bei den großen romanischen und gotischen Kathedralen dürfte dank der unentwegt nötigen Renovierungsarbeiten schließlich auch kaum noch ein Stein wirklich aus dem Mittelalter stammen.

Am Rondo Charles'a de Gaulle'a mit der markanten künstlichen Palme … ... biegt der Marathonkurs auf den Königstrakt ab, der mit vielen historischen Bauten … ... wie der barocken Heilig-Kreuz-Kirche aufwarten kann

Ganz unrecht haben die Kritiker allerdings nicht. Denn gerade in der "Neuen Welt" hat man keineswegs den Vorkriegszustand wieder hergestellt. Die spätbarocke und klassizistische Häuserfront war zu diesem Zeitpunkt nämlich längst mit Gründerzeit- und Jugendstilbauten durchsetzt. Doch galten diese den regierenden Sozialisten als viel zu "großbürgerlich" und "kapitalistisch". Also verzichtete man auf sie und griff für den Neuaufbau lieber auf deren hundert Jahre ältere Vorgänger zurück.

Die von kleinen Geschäften, Cafés und Restaurants gesäumte und breiten Bürgersteigen ausgestattete Flaniermeile - in Wahrheit beträgt die Länge vom Charles-de-Gaulle-Kreisel nicht einmal die Hälfte der britischen Längeneinheit - endet an einer größeren Kreuzung, hinter der nun zwar deutlich größere, aber für einen Moment nun auch ein wenig enger zusammen rückende Gebäude - der Staszic-Palast der Polnischen Akademie der Wissenschaften und der nun von der Warschauer Universität belegte Zamoyski-Palast - die Begleitung der Läufer übernehmen.

Eigentlich ist die Kreuzung zur Zeit allerdings nur eine Einmündung. Denn die Straße auf der in Laufrichtung linken Seite ist vollkommen gesperrt. Weder Fahrzeuge noch Fußgänger kommen am durchgehenden Bauzaun vorbei. Dahinter klafft ein tiefes Loch, schließlich wird dort gerade für eine neue U-Bahn-Linie gebuddelt. Auf weit über einem Kilometer ist die "Ulica Swietokrzyska" - die "Heilig-Kreuz-Straße" - aufgerissen und komplett unpassierbar.

Es ist gerade einmal die zweite Strecke der Warschauer Metro überhaupt, an der da gearbeitet wird. Und auf der ersten, inzwischen immerhin auf mehr als zwanzig Kilometer angewachsenen Untergrund-Verbindung begannen die Züge auch erst 1995 zu rollen. In kaum einer anderen europäischen Stadt dieser Größenordnung und Bedeutung begann der U-Bahn-Verkehr jedenfalls noch später als in der polnischen Hauptstadt.

Wie meist ist dafür eine ganze Reihe von Gründen verantwortlich, die in ihrer Kombination den Baubeginn immer weiter verzögerten. Geologische Probleme - der Boden in Warschau ist meist entweder sandig oder sumpfig - hatten dabei genauso ihren Anteil wie fehlende Gelder. Der Anspruch der sozialistischen Führung, bei derartigen Prestigeobjekten nicht zu kleckern sondern lieber gleich zu klotzen und sich darum an der prunkvoll ausgestalteten Moskauer Metro zu orientieren, trug ebenfalls keineswegs zur Finanzierbarkeit bei.

Nach mehreren jeweils nach kurzer Zeit wieder beendeten Anläufen, wurde das Projekt dann erst in den Achtzigern von Regierung und Stadtverwaltung wirklich ernsthaft voran getrieben. Doch bis zur Fertigstellung der ziemlich genau in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Linie war der Ostblock bereits zusammen gebrochen. Nun wird im rechten Winkel zu ihr eine zweite U-Bahn-Verbindung gebaut, die allerdings ebenfalls weder Hauptbahnhof noch Altstadt berühren wird und deshalb später eher für Pendler als für Touristen Bedeutung haben dürfte.

Immerhin wird sie aber einen Haltepunkt in der Ulica Nowy Swiat bekommen. Und die ist Bestandteil des sogenannten "Königsweges" oder auch "Königstraktes", der sich beginnend bei der Altstadt rund zehn Kilometer lang bis zum Wilanów-Palast - oft als "polnisches Versailles" bezeichnet - nach Süden zieht und in dessen Nähe nahezu alle wichtigen Sehenswürdigkeiten der Stadt zu finden sind.

Den nördlichsten rund einen Kilometer langen Abschnitt dieses "Trakt Królewski" nimmt die "Krakowskie Przedmiescie" ein, in die man nun hinein läuft und die der bisherigen Aufzählung eher ungewöhnlicher Straßenbezeichnungen noch einmal eine Steigerung hinzufügt, lässt sich der Name doch mit "Krakauer Vorstadt" übersetzen. Dennoch ist er eigentlich leicht nachvollziehbar, lag dieser Teil der Stadt als eine ihrer ersten Erweiterungen außerhalb des ursprünglichen Mauerringes vor dem heute nicht mehr existierenden Krakauer Tor.

Doch auch einige Abschnitte der Stadtmauer hat man im Norden und Westen der Stare Miasto mit aus dem im Mittelalter verwendeten roten Backstein wieder aufgebaut. Allerdings sieht man ihr diese Rekonstruktion im Gegensatz zu den kopfsteingepflasterten Altstadtgassen, in denen man sich um Jahrhunderte in der Zeit zurück gesetzt fühlt, durchaus an.

Auch das Warschauer Königsschloss wurde im Zweiten Weltkrieg völlig zerstört und später nach alten Plänen und Fotos wieder aufgebaut

Auffälligster Teil des Stadtwalls ist die "Barbakane" am nördlichen Tor. So nennt man im Festungsbau eine vor der eigentlichen Mauer und jenseits des Grabens vorgebaute Turmanlage. Selbst wenn sie erst im sechzehnten Jahrhundert erbaut wurde, um den immer häufiger eingesetzten Feuerwaffen etwas entgegen zu setzen, kommen beim Anblick der Verteidigungsanlage, die aufgrund der sprunghaften technischen Entwicklung schon bald nach ihrer Errichtung wieder veraltetet war, unwillkürlich Assoziationen an eine Ritterburg auf.

Dass man sich nach Durchschreiten des Tors allerdings in der "Nowe Miasto" - also der "Neustadt" - befinden soll, mag man nicht ganz glauben. Denn fast überall sonst würden solche Gassen eindeutig unter der Rubrik "Altstadt" eingeordnet. Und bis zum Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts reicht deren Geschichte auch zurück. Doch ist man eben trotzdem eindeutig jünger als die benachbarte "Stare Miasto" und war auch mehrere Jahrhunderte lang von der Schwester politisch unabhängig.

Erst spät wurde Nowe Miasto, die im Zweiten Weltkrieg ebenfalls völlig zerstört und später nach alten Plänen wieder aufgebaut wurde, wirklich nach Warschau eingemeindet. Da war die Hauptstadt, mit der man aufgrund der Nähe natürlich dennoch eng verflochten war, längst in andere Richtungen über die mittelalterliche Befestigung hinaus gewachsen. Und entlang der Krakauer Vorstadt standen viele der Kirchen, Paläste und Herrenhäuser, die man nun - wenn auch meist nur als Nachbildung - im Vorbeilaufen bewundern kann.

Die breite Fassade und die beiden hohen Türme der Heilig-Kreuz-Kirche ziehen dabei als erste die Blicke an, als die Straße sich bereits kurz nach ihrem eher schmalen Beginn in einem leichten Bogen zu einem kleinen Platz weitet. Der dort auf der anderen Seite vor der Hauptfront des Staszic-Palastes sitzende Nikolaus Kopernikus lässt sich da trotz Überlebensgröße dennoch beinahe übersehen.

Um die Nationalität des Astronomen, Mathematiker und Arzt streiten sich manche Sturköpfe manchmal noch immer. Schließlich wurde dieser in einer Stadt geboren, die auf Polnisch "Torun" und auf Deutsch "Thorn" genannt wird. Und diese liegt heute genauso in Polen wie "Frombork" oder "Frauenburg", in dem "Mikolaj Kopernik" die zweite Hälfte seines Lebens verbrachte und als Domherr wirkte. Andererseits gehörte Thorn - unter dem Schutz des polnischen Königs - damals dem Hansebund an und "Niklas Koppernigk" war wohl deutscher Muttersprache.

Allerdings lebte er eben in einer Zeit, in der das heute so selbstverständlich und logisch scheinende Denken in nationalen Kategorien als ähnlich absurd gegolten hat, wie das von ihm entwickelte heliozentrische Weltbild. Die Ausdehnung der Herrschaftsgebiete der vielen verschiedenen Fürsten orientierte sich damals nicht im Geringsten an sprachlichen oder kulturellen Abgrenzungen, so dass der heutige Streit bei nüchterner Betrachtung beinahe lächerlich wirkt. Wahrscheinlich hätte Kopernikus nicht einmal die Frage, ob er denn nun Deutscher oder Pole sei, verstanden.

Vorbei am markanten Haupteingangstor der Warschauer Universität führt die Laufstrecke über den nun ziemlich breiten, dank Verkehrsberuhigung allerdings selbst ohne Marathon in diesem Abschnitt hauptsächlich den Fußgängern vorbehaltenen Königsweg. Auch hinter dem Portal wartet die Hochschule mit einigen imposanten, fast palastartigen Bauten aus dem neunzehnten Jahrhundert auf. Jedoch ist die Universität mit ihren über fünfzigtausend Studenten natürlich längst aus diesem historischen Kernbereich hinaus gewachsen und über die halbe Stadt verteilt.

Direkt am Straßenzug des Königstraktes liegen auch der Präsidentenplast und die Warschauer Universität

An der ein ganzes Stück hinter der Häuserfront zurück gesetzten spätbarocken Visitantinnen-Kirche endet der Ausflug über den Königsweg fürs Erste. Das mit einem hinter ihr gelegenen Kloster verbundene Gotteshaus gehört insbesondere hinsichtlich der Innenausstattung zum prächtigsten, was Warschau in dieser Hinsicht zu bieten hat. Als eines von ganz wenigen Gebäuden des Stadtkerns überstand es den Krieg nämlich weitgehend unbeschadet.

Für den Wiederaufbau der zerstörten Kirchen hatte man bei aller Sorgfalt, die ansonsten während der Rekonstruktion des alten Warschau an den Tag gelegt wurde, die Messlatte nicht ganz so hoch gelegt. Wenig überraschend war die herrschende Kommunistische Partei gar nicht daran interessiert, diese in all ihrer Pracht wieder her zu richten und die verlorenen Kunstwerke zu ersetzen. Und so sind viele der historischen Gotteshäuser nun innen doch eher schlicht gehalten.

Vor dem "Dom Bez Kantów" biegt der Marathonkurs nach links. Die abgerundeten Ecken des ursprünglich für das Militär gebauten "Hauses ohne Kanten" gehen einer oft erzählten Legende nach auf eine missverständliche Formulierung von Marschall Józef Pilsudski zurück. Denn der polnische Ausdruck "Kanty" lässt sich umgangsprachlich auch als "Schwindelei" oder "Schummeln" interpretieren. Die so ausgedrückte Aufforderung, beim Bau korrekt und unbestechlich zu arbeiten, setzten die Architekten also angeblich im eigentlichen Wortsinne um.

Auf der Rückseite des eckenlosen Hauses steht ein Denkmal für den in Polen viel geehrten und manchmal auch etwas verklärten General und Politiker, an dem sich jedoch wie bei allen Menschen und gerade bei historischen Persönlichkeiten durchaus auch Schattenseiten entdecken lassen. Als erstes Staatsoberhaupt und Oberkommandierender der neu gebildeten Armee führte er Polen nach dem Ersten Weltkrieg in die Unabhängigkeit.

Andererseits entstand aus seiner Ambition, den neuen Staat möglichst auf die weit geschnittenen Grenzen des früheren polnisch-litauischen Königreiches vor dem Beginn der Teilungen auszudehnen und dabei die Wirren nach dem Zusammenbruch des Zarenreiches zu nutzen, der schon erwähnte polnisch-sowjetische Krieg, der nach anfänglichen Erfolgen fast wieder zu dessen Untergang geführt hätte.

Mit einer Gegenoffensive drang die Rote Armee weit über die ursprünglich als Grenze vorgeschlagene Curzon-Linie vor. Und als alle Welt bereits mit der Eroberung Warschaus rechnete, wendete erst das sogenannte "Wunder an der Weichsel", bei dem die russischen Truppen vor den Toren der Hauptstadt trotz großer zahlenmäßiger Überlegenheit eine schwere Niederlage erlitt, das Blatt wieder zugunsten der polnischen Streitkräfte.

Im abschließenden Friedensvertrag konnte Polen seine Grenze tatsächlich weit nach Osten verschieben. Dass dabei aber auch das Gebiet rund um die heutige litauische Hauptstadt Wilna unter polnische Kontrolle kam, vergiftete die Beziehungen zur ebenfalls nach dem Ersten Weltkrieg neu entstandenen Baltenrepublik erheblich. Das von Pilsudski ganz am Anfang einmal angedachte Konzept einer polnisch-litauisch-weißrussisch-ukrainischen Föderation als Bollwerk gegen russische Expansion - unter polnischer Führung wohlgemerkt - hatte sich damit endgültig erledigt.

Vor allem aber wurde Pilsudski, der sich eine Zeit lang aus der Politik zurück gezogen hatte, nach einem Staatsstreich seiner Anhänger im Jahr 1926 bis zu seinem Tod neun Jahre später zum de-facto-Diktator Polens. Obwohl er auf das ihm angetragene Präsidentenamt verzichtete und nur zeitweilig als Ministerpräsident sowie als Verteidigungsminister und Armeechef offizielle Positionen bekleidete, war er im Hintergrund der starke Mann eines autoritären - allerdings im Gegensatz zu seinen westliche und östlichen Nachbarn nicht totalitären - Regimes.

Noch zu seinen Lebzeiten wurde die große Freifläche, die man hinter dem Haus ohne Kanten erreicht, zum "Plac Marszalka Józefa Pilsudskiego". Die Sozialisten machten aus ihm später den "Siegesplatz", wohl auch um nicht ausgerechnet an Piludskis Kämpfe und Siege gegen die Rote Armee zu erinnern. Doch nach der politischen Wende in Osteuropa bekam das Areal seinen Vorkriegsnamen zurück.

In einem kurz von der geschichtsträchtigen Flaniermeile weg führenden Schlenker …. ... wird das Metropolitan-Bürogebäude des Stararchitekten Norman Foster gleich zweimal passiert

Wer nun darüber den Kopf schüttelt, sei nur an die unzähligen Straßen und Plätze erinnert, die zum Beispiel nach Otto von Bismarck benannt sind. Einen Politiker also, der heute unter "Erzreaktionär" einsortiert würde und der zur Umsetzung seiner Ziele gleich mehrere Kriege vom Zaun brach, in denen zigtausende Menschen ihr Leben verloren. Doch wenn man bei der Benennung einzig und allein Personen auswählen würde, bei denen sich keinerlei Kritikpunkte finden lassen, würde man wohl ohnehin kaum einen Namen finden.

Am weitläufigen Pilsudski-Platz präsentiert sich die Umgebung völlig anders als in der zuletzt durchlaufenen Krakauer Vorstadt. Die Bebauung ist mit einem bunten Mix aus alt und neu weitaus weniger harmonisch als in der Parallelstraße. Dafür schließt sich hinter der Freifläche ein noch größerer Park an, der Sächsische Garten. Beauftragt wurde die Errichtung des Parks von August dem Starkem, der nicht nur sächsischer Kurfürst sondern in Personalunion eben auch König von Polen war.

Da dieser Titel nicht vererbt sondern durch Wahl der polnischen Fürsten vergeben wurde, konnte sich August, der an unter anderem an einer Rangerhöhung vom Kurfürsten zum König interessiert und als Souverän über ein nicht dem Reich angehöriges Gebiet auch nicht mehr direkt dem Deutschen Kaiser untergeben war, um ihn bewerben. Und mit Bestechung und sanftem Druck gelang es ihm genug Stimmen auf sich zu vereinigen. Für die Wahl zum polnischen Herrscher konvertierte der Protestant auch zum katholischen Glauben.

Und nicht nur in Dresden, das sein berühmtes barockes Stadtbild zu großen Teilen August verdankt, sondern auch in Warschau - der zweiten Hauptstadt des in der deutschsprachigen Geschichtsschreibung oft als "Sachsen-Polen" bezeichneten Doppel-Staates - zeigte der Fürst, der wegen seiner großen Leibesfülle am Ende wohl besser den Beinamen "der Dicke" bekommen hätte, eine rege Bautätigkeit.

Vor und hinter dem "Park Saski" erstreckte sich die am damals noch "Plac Saski" heißenden Pilsudski-Platz beginnende "Sächsische Achse" mit einer ganzen Reihe von Bauten. Fast keines von ihnen ist jedoch erhalten oder wieder aufgebaut. Vom einstigen Schloss, dem "Sächsisches Palais" stehen einzig und allein noch drei Arkaden-Bögen des einst die beiden Flügel verbindenden doppelstöckigen Säulenganges. Unter ihnen, die auf dem riesigen Platz irgendwie etwas verloren wirken, befindet sich das Grabmal des unbekannten Soldaten.

Inzwischen wird auch bei diesem Palast wieder über eine Rekonstruktion nachgedacht. Jahrzehntelange Erfahrung hat man diesbezüglich in Warschau ja. Es gab sogar schon Zeitpläne. Allerdings scheitert eine baldige Realisierung nun wohl doch erst einmal an den zu hohen Kosten. Und irgendwie ist es vielleicht ohnehin durchaus passend, das den Gefallenen gewidmete Ehrenmal in den letzten Überresten eines einst prunkvollen, dann aber im Krieg zerstörten Palastes zu belassen.

Mit einem Rechtsschwenk beginnt die zumindest halbe Umrundung des Platzes. An dessen Nordseite steht das als "Metropolitan" bekannte Bürohaus des Stararchitekten Norman Foster auf einem dreieckigen Grundstück. Das hat mit seinen ebenfalls abgerundeten Ecken, geschwungenen Formen und einem kreisrunden, für die Allgemeinheit von drei Seiten zugänglichen Innenhof zwar einige architektonisch durchaus interessante Details und ein leicht futuristisches Aussehen zu bieten.

Doch angesichts der Lobeshymnen, die gelegentlich auf das Gebäude angestimmt werden, ist eine gewisse Enttäuschung vielleicht doch zulässig, wenn man es dann in Natura sieht. Denn vergleichbare Bürohäuser lassen sich auch anderswo finden, ohne dass um sie ein ähnlicher Wirbel gemacht würde. Da kann schon einmal die Vermutung aufkommen, dass sich einige Kritiker doch ein wenig vom Namen des Erbauers beeinflussen lassen haben könnten.

Der von August dem Starkem beauftragte Sächsischen Garten (links) existiert noch, vom ebenfalls durch den polnischen König und sächsischen Kurfürst erbauten Schloss direkt daneben sind allerdings nur noch drei Arkaden-Bögen erhalten, unter denen sich das Grabmal des unbekannten Soldaten befindet

Moderne Architektur gibt es in Warschau inzwischen eine ganze Menge. Hinter dem Park Saski strebt gleich mehr als ein halbes Dutzend Wolkenkratzer in den Himmel, von denen einige nicht nur wegen ihrer Höhe mindesten genauso spektakulär wie das Metropolitan sind. Gerade diese Büro- und Hoteltürme, in denen weltweit agierende Konzerne residieren, verdeutlichen anschaulich, welche Veränderungen Polen und seine Hauptstadt in den letzten beiden Jahrzehnten hinter sich gebracht haben.

Natürlich begegnet man auch in der Innenstadt noch vielen Plattenbauten aus der sozialistischen Ära. Doch gerade in ihrem westlichen Bereich wachsen immer weitere Hochhäuser empor. An mindestens zwei bis drei von ihnen wird stets gleichzeitig gearbeitet. Und in ihrer Nachbarschaft werden alte, baufällige oder zumindest stark renovierungsbedürftige Gebäude für weitere Neukonstruktionen abgerissen. Weit über ein Dutzend der Wolkenkratzer hat bereits die Hundert-Meter-Marke übertroffen.

Noch immer ist aber der Kulturpalast mit 237 Metern bis zur Antennenspitze das höchste Gebäude der Stadt und ganz Polens. Und dieser offiziell "Palac Kultury i Nauki" - die "Wissenschaft" hat man dabei der "Kultur" noch hinzugefügt - heißende Bau ist mit Abstand der älteste unter den Warschauer Türmen. Schließlich stammt er noch aus den Fünfzigern und ist ein "Geschenk" des sowjetischen Diktators Stalin. Und der meist spöttisch als "Zuckerbäckerstil" bezeichneten Architektur sieht man dies auch eindeutig an.

Natürlich war er als Symbol für den kommunistischen Herrschaftsanspruches gedacht und genauso wurde er auch von der polnischen Bevölkerung verstanden, war also entsprechend unbeliebt. Mit seinen Seitentrakten, in denen Theater, Kinos, Museen und ein Konferenzzentrum untergebracht sind, nimmt der neben Haupt- und Stadtmittebahnhof stehende kolossale Bau - im Volksmund unter anderem als "Stalinstachel" verspottet - die Fläche mehrerer Fußballfelder ein.

Zwar ist der Kulturpalast, der bei seiner Fertigstellung einige Zeit sogar das hinter dem Eifelturm zweithöchste Bauwerk Europas war, inzwischen zu einem der Wahrzeichen der Stadt geworden. Selbst in der Dunkelheit ist der farbig angestrahlte Kulturpalast weithin sichtbar, Doch darüber, dass er durch die um ihn herum wachsenden neuen Wolkenkratzer seine dominierende Stellung mehr und mehr verliert, ist angesichts seiner Entstehungsgeschichte kaum jemand böse.

Man muss vom Kulturpalast aus nur über die Straße gehen, um zu erkennen, dass Polen das sozialistische Regime endgültig abgeschüttelt hat. Nicht nur mehrere hochmoderne Büro- und Hoteltürme ragen dort empor. Auch das Einkaufszentrum "Zlote Tarasy" - auf Deutsch "goldene Terrassen", woraus sich in einer einfachen Schlussfolgerung die polnische Währung als "der Goldene" entschlüsseln lässt - liegt in dessen direkter Nachbarschaft.

Mit seiner auffällig gewellten Glaskuppel genügt dieser Konsumtempel wirklich höchsten Ansprüchen - und zwar keineswegs ausschließlich denen von Architekturfreunden. Die überdimensionierte, abends beleuchtete Gitarre vor dem in diesem Gebäude eingezogenen Hard-Rock-Café bietet gerade bei Dunkelheit in Kombination mit dem dahinter liegenden, im richtigen Blickwinkel ungefähr genauso großen Kulturpalast ein Fotomotiv, das den dramatischen Umbruch im Osten Europas eigentlich in einem einzigen Bild darstellen kann.

Nichts davon werden die Marathonis übrigens bei ihren Rennen aus der Nähe zu Gesicht bekommen. Während früherer Kurse durchaus regelmäßig am Kulturpalast vorbei führten, hat man ihn bei der neuen Streckenführung genauso ausgespart wie die übrigen Hochhaustürme der nicht nur im übertragenden Sinne nach oben strebenden Stadt.

Der Turm des Kulturpalast nimmt mit seinen Seitentrakten, in denen Theater, Kinos, Museen und ein Konferenzzentrum untergebracht sind, die Fläche mehrerer Fußballfelder ein

Hinter dem Metropolitan schließt sich ein beinahe noch wuchtigerer Bau an, der ebenfalls einen kompletten Häuserblock einnimmt. Es ist das "Teatr Wielki", das "große Theater", in dem neben dem nationalen Schauspielhaus auch noch die Opera Narodowa, also die Nationaloper untergebracht ist. Eigentlich sollte der in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts errichtete klassizistische Bau auch unter "Nationaltheater" firmieren.

Doch wenige Jahre zuvor hatte es eine polnische Revolte gegen die mit immer härterer Hand agierende Herrschaft des Zaren gegeben, bei der im Herbst und Winter 1830 / 1831 erst der als Statthalter installierte Bruder des Herrschers aus Warschau vertrieben und dann der russische Kaiser als polnischer König offiziell abgesetzt worden war. In einem fast ein Jahr dauernden Krieg wurde der Aufstand von den Russen blutig niedergeschlagen. Zehntausende Polen wurden dabei getötet, ähnlich viele anschließend nach Sibirien deportiert.

Danach wurde die Knute nur noch stärker ausgepackt und versucht, die letzten Reste polnischer Eigenstaatlichkeit zu beseitigen. Die Idee eine "Nationaltheaters" hatte unter diesen Umständen natürlich keine Chance bei den alten und neuen Herren akzeptiert zu werden. Die Bezeichnung "großes Theater" war eine Kompromisslösung. Und trotz der längst wieder vorhandenen polnischen Unabhängigkeit und der Tatsache, dass die im Gebäude spielenden Bühnen inzwischen sehr wohl den Titel "national" tragen, hat sich dieser Name bis in die heutige Zeit hinein gehalten.

Der freie Blick von der Laufstrecke auf die lange Säulenfront des Teatr Wielki wird jedoch nicht nur dadurch gestört, dass der kleine Platz davor als Parkfläche für Autos und Busse dient. Auch ein Zelt verstellt den Blick. Und die klassischen Klänge, die den Marathonis ein wenig überraschend beim Einbiegen auf den Theaterplatz entgegen schallen, gelten in diesem Fall - an einigen anderen Stellen haben die Organisatoren sehr wohl für musikalische Untermalung gesorgt - keineswegs ihnen. Vielmehr findet an diesem Wochenende vor der Nationaloper ein Musikfestival statt.

Dafür ist auf der gegenüberliegenden Seite die im ersten Moment gar nicht als Gotteshaus zu erkennende Andreas-Kirche genauso unverdeckt wie der daneben stehende, schon alleine aufgrund seines Turmes auffallende Jablonowski-Palast, in dem einst das Rathaus untergebracht war. Doch auch dessen Neorenaissance-Fassade ist kein Original sondern wie fast alles in Warschau eine moderne "Fälschung".

Im Krieg völlig zerstört wurde die Ruine später abgetragen, so dass sich der "Plac Teatralny" auf dieser Seite zum dahinter liegenden Park öffnete. Dazwischen stand - im üblichen sozialistischen Stil der Nachkriegszeit deutlich überdimensioniert und ziemlich pathetisch - das Denkmal für die "Helden Warschaus", das eine am Boden liegende, aber dennoch weiter ihr Schwert hebende Siegesgöttin Nike zeigt.

Die Kolossalstatue wurde nach der politischen Wende an einen weniger zentralen Ort in der Nähe versetzt. Und auf dem freigewordenen Platz ein neuer Jablonowski-Palast gebaut. Dieser entspricht jedoch nur auf der dem Theater zugewandten Seite dem historischen Vorbild. In Wahrheit steht hinter der alten Vorderfront nämlich ein modernes Bürogebäude, in dem eine der größten polnischen Banken ihren Hauptsitz hat.

Nach dem Schlenker über den Plac Teatralny führt der Marathonkurs gleich wieder zum Metropolitan, das auf der Rückseite ein zweites Mal passiert wird, und von dort zurück zum Trakt Królewski, den man nach einem mehr als einen Kilometer langen Umweg nur gute einhundert Meter von der Stelle, an dem man ihn verlassen hat, erneut betritt. Das erste was man auf der geschichtsträchtigen Flaniermeile dabei zu Gesicht bekommt, ist das Hotel Bristol direkt gegenüber der Einmündung.

Auf der etwa einen Kilometer langen Schleife gibt es auch den Jablonowski-Palast … … und die auf den ersten Blick gar nicht als Gotteshaus zu erkennende Andreas-Kirche zu sehen

Die mit fünf Sternen bewertete Luxusherberge ist eines der wenigen Jugendstil-Gebäude, die man in Warschau - einst sogar ein echtes Zentrum dieser in Polen "Secesja" genannten Kunstrichtung - noch finden kann. Im Krieg wurde der Hotelbau im Gegensatz zum Rest der Innenstadt nämlich nur leicht beschädigt. Und selbst wenn der politischen Führung dessen "kapitalistischer" Baustil nicht unbedingt gefiel, ließ sich der Abriss eines der wenigen einigermaßen intakt gebliebenen Häuser nun wirklich kaum begründen.

Das direkt nebenan gelegene dreiflügelige Palais war ebenfalls nicht völlig zerstört und wurde deshalb als Sitz des Ministerrats bestimmt. Im Jahr 1955 wurde dort auch der Warschauer Pakt unterzeichnet. Inzwischen residiert der Präsident der Republik Polen in diesem Palast. Trotz des Zaunes vor dem Innenhof und einigen an ihm postierten Wachposten ist der "Palac Prezydencki" angesichts seiner Funktion allerdings überraschend gut zugänglich.

Das Reiterstandbild vor dem Palast scheint eine Persönlichkeit aus der Antike darzustellen. Doch selbst wenn es nicht nur zufällig der Statue des Kaisers Marcus Aurelius auf dem römischen Kapitolshügel erinnert sondern dieser in voller Absicht nachempfunden ist, soll sie eigentlich an jenen General Józef Poniatowski erinnern, nach dem auch die Brücke neben dem Stadion benannt ist.

Hinter dem Präsidentenpalais weitet sich die ohnehin nicht gerade schmale Krakowskie Przedmiescie zu einem lang gezogenen Platz, der bei großzügiger Auslegung eigentlich über volle fünfhundert Meter bis zur Altstadt reicht. Neben dem einer Grünanlage stehende Denkmal für den oft als "Nationaldichter" bezeichneten Adam Mickiewicz prägt die Karmeliterkirche an der Fassade das südliche Ende.

Mit ihren ungewöhnlichen, irgendwo zwischen Antike und Orient angesiedelten Verzierungen weicht sie von den bekannten Mustern, die man von Kirchen zu kennen glaubt, deutlich ab. Ihre Erbauer können sich definitiv nicht an der Front des berühmten Felsentempels von Petra orientiert haben, schließlich war die jordanische Stadt zu jener Zeit längst in Vergessenheit geraten und noch nicht wieder entdeckt. Doch würde man Fotos von beiden nebeneinander legen, könnte man dennoch glauben, etliche Analogien zu erkennen.

Die Fläche des Platzes war auf jeden Fall groß genug, um am Vortag Zehntausende aus ganz Polen mit dem Bus nach Warschau gekarrte Teilnehmer einer Demonstration der national-konservativen Opposition aufzunehmen. Angeführt vom früheren Premier Jaroslaw Kaczynski wurde dabei unter dem schon wegen der an die eigene unrühmliche Vergangenheit erinnernden Wortwahl hierzulande nicht gerade für Begeisterung sorgenden Motto "Polen, wach auf" ein buntes Sammelsurium an Forderungen gestellt worden.

Gewerkschaftler hatten dabei zum Beispiel gegen gerade beschlossenen Regelungen zu Verlängerung der Lebensarbeitszeiten und späteren Renteneintritt protestiert. Doch waren auch katholische Fundamentalisten mit Forderungen vertreten, dem ultrakonservative Radio- und Fernsehsender Radio Maryja, der wegen nationalistischer, fremdenfeindlicher und antisemitischer Aussagen sogar schon mit dem Vatikan in Konflikt geraten war, die bisher verweigerten Frequenzen für Digitalübertragung zuzuteilen.

Und manche propagierten auf ihren Plakaten auch die ziemlich gewagte und abstruse These, dass der Flugzeugabsturz von Smolensk, bei dem Kaczynskis Zwillingsbruder Lech, der damalige polnische Staatspräsident, zusammen mit vielen anderen wichtigen Politikern und Militärs ums Leben kam, eine Verschwörung gewesen wäre, in die nicht nur der russische Geheimdienst sondern auch die Partei des aktuellen Regierungschefs Tusk verwickelt sei.

Während am Folgetag der Marathon gerade dabei ist, sich zu einem wirklich internationalen Sportereignis zu entwickeln, wäre es vielen von denen, die da mit polnischen Nationalfahnen auf die Straße gegangen waren, wohl am liebsten, wenn die Beziehungen zum Ausland wieder auf ein Minimum reduziert werden und die Polen unter sich bleiben könnten. Ähnliche Ideen gibt es anderswo natürlich genauso - auch hierzulande, selbst wenn sie sich nicht in Großdemonstrationen äußern.

Der Kulturpalast - nach dem Zweiten Weltkrieg im Auftrag Stalins errichtet - ist bis heute das höchste Gebäude in Polen

Doch wie unrealistisch solche Ansätze in einer globalisierten Welt sind, lässt sich leicht erkennen, wenn man mit offenen Augen durch Warschau läuft. Da entdeckt man Herbergen amerikanische Hotelketten, französische oder deutsche Groß- und Supermärkte, skandinavische Möbel- und Bekleidungshäuser. Eigentlich müsste man stets das Wörtchen "ursprünglich" hinzufügen. Denn alle dies Firmen sind natürlich längst weit über alle Grenzen hinweg aktiv.

Selbst jener in Hamburg beheimatete Kaffeeröster, der inzwischen mit fast allem außer Kaffee handelt, ist mit mehreren Filialen und dem praktisch gleichen Angebot wie überall vertreten. In Warschau kann man in italienischen Restaurants Pizza und Pasta essen oder in britischen Pubs schaumloses Bier trinken. Warschau ist, ob es den - übrigens meist schon etwas älteren und aus ländlichen Regionen stammenden - Nationalkonservativen gefällt oder nicht, als Stadt im Umbruch längst auf dem besten Weg eine bunte internationale Metropole zu werden.

Bis zur etwa nach der halben Länge des Platzes aufragenden Sankt-Anna-Kirche - auf Polnisch "Kosciól sw. Anny" - kommen die Marathonis, bevor sie den Königstrakt endgültig verlassen müssen. Erneut werden sie nach links geleitet und können so den Blick, der sich hinter dem separat stehenden und nur durch eine Arkadenreihe mit dem Kirchenschiff verbundenen Glockenturm hinüber bis zum Stadion öffnet, nicht mehr genießen.

Dort beginnt nämlich der Tunnel, mit dem eine der wichtigsten Ost-West-Achsen Warschaus den zum Fluss recht steil abfallenden Altstadthügel unterquert, so dass kein Gebäude die Sicht versperrt. Und selbst wenn die einzelnen Straßen, aus denen sie besteht, offiziell andere Namen tragen, wird diese im Allgemeinen auch als "Trasa Wschód-Zachód", was in der wörtlichen Übersetzung tatsächlich "Ost-West-Strecke" bedeutet, bezeichnet.

Ohne ihn wirklich klar abgrenzen zu können, beginnt dort der Schlossplatz, der Plac Zamkowy, der den Übergang zwischen Trakt Królewski und Stare Miasto darstellt und der von der in seiner Mitte aufragenden Sigismundssäule dominiert wird. Sie wurde zu Erinnerung an den polnischen König Zygmunt III errichtet, dem es zu verdanken ist, dass Warschau als Nachfolgerin von Krakau zur Hauptstadt wurde. Eine gewisse Rivalität zwischen beiden Städten gibt es jedenfalls noch immer.

Der Nachname des König "Vasa" lässt aufhorchen. Und tatsächlich stammt er aus dem schwedischen Königshaus, dessen wohl berühmtester Vertreter Zygmunts Vetter und Zeitgenosse Gustav Adolf war. Wie ein Jahrhundert später August der Starke kam der Schwede durch Wahl auf den polnischen Thron. Er war allerdings durch seine Mutter eng mit der Dynastie der Jagiellonen, die zuvor rund zweihundert Jahre die Könige von Polen waren, verwandt.

Einige Zeit danach erbte Sigismund von seinem Vater dazu noch die heimische Krone. Auch er war also wie der Sachse zum Spagat zwischen seinem protestantischen Stammland und dem katholischen Polen mit oft ziemlich unterschiedlichen Interessenlagen gezwungen. Und während er den polnischen Königstitel für seinen Sohn - der dann die Säule errichten ließ - sichern konnte, wurde er in Schweden durch seinen Onkel Karl abgesetzt. Immer wieder führten die noch kurz zuvor verbundenen Länder in der Folgezeit Krieg gegeneinander.

Zumindest der fünfeckige Grundriss des aus Blickrichtung der touristischen Haupteinfallstrecke Krakowskie Przedmiescie auf der rechten Seite des Platzes stehenden Königsschlosses und der zentrale Turm gehen auf Zygmunt zurück. Später wurde es von seinen Nachfolgern jedoch mehrfach umgebaut und erweitert, so dass sich eine ganze Reihe verschiedener Architekturstile im Komplex entdecken lassen.

Nach dem Abstecher zum einst als Rathaus dienenden Palais … … führt die Strecke zum "Königstrakt" zurück … … und am Präsidentenpalast vorbei

Schon im September 1939 zerstörten deutsche Bombenangriffe das Schloss weitgehend. Doch im Gegensatz zur Altstadt wurde das "Zamek Królewski" nach dem Krieg erst einmal nicht rekonstruiert. Die Entscheidung darüber wurde immer wieder vertagt. Es dauerte bis 1971 als der kurz zuvor zum Parteichef gewordene Edward Gierek eine Spendenaktion ins Leben rief, um Gelder für den Wiederaufbau zu sammeln. Dass ihm dabei damit durchaus auch um die Steigerung der eigenen Popularität ging, ist eine nicht gerade selten zu hörende Vermutung.

Noch bevor die Arbeiten abgeschlossen waren, bekam das Königsschloss dann gemeinsam der sich dahinter anschließenden Altstadt das Welterbe-Gütesiegel zuerkannt. Nun bildet seine hellrote Front gemeinsam mit der Säule in der Platzmitte und den bunten Häusern an dessen Nordseite wieder ein farbenfrohes und fotogenes Ensemble, das eine der markantesten Visitenkarten der Stadt darstellt.

Einige der Häuser beherbergen Restaurants. Und diese haben sich auch etwas auf den Schlossplatz hinaus ausgedehnt. Hölzerne Plattformen dienen als Untergrund für Tische und Bänke. Kleine und meist mit Blumen verzierte Zäune trennen sie ein wenig vom touristischen Durchgangsverkehr ab, Sonnenschirme und zum Teil auch Heizstrahler schützen vor den Unbilden der Witterung.

Den Rauchern ist es nur recht. Denn auch in Polen existieren inzwischen vielerorts Rauchverbote in geschlossenen Räumen. Allerdings fällt dem Besucher der - gerade im Vergleich zu weiter westlich und nördlich in Europa gelegenen Ländern - relativ hohe Anteil der Erwachsenen auf, die auf der Straße mit einer Zigarette in der Hand unterwegs sind.

Während sie am Plac Zamkowy allerdings nur einen kleinen Teil der Fläche besetzen, nehmen die Freiluftrestaurants auf dem Altstadt-Marktplatz eine ziemlich dominierende Position und ungefähr die Hälfte des Areals ein. Schnurgerade führt der Weg vom Schloss vorbei am backsteingotischen Dom und der benachbarten barocken Jesuitenkirche direkt zu diesem "Rynek Starego Miasta", der nicht nur geographisch den Mittelpunkt des ältesten Stadtviertels darstellt. Beim Bummel durch die Gassen wird man unweigerlich immer wieder auf ihm landen.

Die Saison für die Plattformen ist allerdings nach dem Marathon vorbei. Obwohl sie am Wochenende meist noch ziemlich gut besucht waren, wird man schon am nächsten Tag an vielen Stellen den bei Abbau und Verladen des Holzes entstehenden Lärm zu Ohren bekommen. Der erste Oktober scheint diesbezüglich tatsächlich so etwas wie ein Stichtag zu sein. Der Sommer ist dann endgültig zu Ende und der Herbst beginnt. Und passend dazu wird es nach einem noch einmal sonnigen und wirklich angenehmen Sonntag dann auch zu regnen beginnen.

Die Ulica Miodowa, in die man nun eingebogen ist und auf der man die Altstadt westlich umläuft, gehört nicht unbedingt zum touristischen Pflichtprogramm eines Kurzbesuches in Warschau. Doch auch auf ihr reiht sich ein beeindruckendes Palais ans andere. Oberhalb der Stelle, an der man aus dem Altstadttunnel wieder ans Tageslicht kommt, sitzt dazwischen die Kapuzinerkirche mit ihrer bunten Frontseite.

In einem ansonsten eher unscheinbaren Palast, der jedoch durch seine halbkreisförmig zurück gesetztes Einfahrtsportal sofort ins Auge sticht, ist das Gesundheitsministerium eingezogen. Und einige Schritte später schwebt gegenüber eine riesige Hand über dem Haupteingang der ebenfalls in einem Stadtpalais untergebrachten Warschauer Theaterakademie. Die "Honigstraße", die ihren Namen angeblich von den früher in ihr ansässigen Bäckereien und Konditoreien hat, endet am Krasinski-Platz mit seinem eher ungewöhnlichen, aber eben auch interessanten Stilmix.

Einige hundert Meter geht es durch die "Krakauer Vorstadt" dem mittelalterlichen Stadtkern entgegen, kurz bevor man die kopfsteingepflasterten Gassen erreicht biegt der Marathonkurs jedoch zum zweiten Mal von der Touristenmeile ab

Denn während die Westseite vom namensgebenden barocken "Palac Krasinskich", also dem "Krasinski-Palast", in dem ein Teil der Nationalbibliothek untergebracht ist, sowie einer ihn umgebenden Grünanlage eingenommen wird und im Süden die beiden ebenfalls barocken Türme der Kathedrale der polnischen Armee - der polnische Militärbischof hat seinen offiziellen Sitz in dieser Kirche - aufragen, wird die östliche und nördliche Front vom erst in den letzten Jahren des vergangenen Jahrtausends errichteten Gebäude des Obersten Gerichtshofes besetzt.

Mit seiner grünlichen Spiegelglasfassade und den ebenfalls grünen Säulenreihen, die den Bau rundherum umgeben, stellt er jedenfalls einen ziemlich modernen Kontrapunkt zur ansonsten noch weitgehend historischen Umgebung und insbesondere zur "Biblioteka Narodowa" direkt gegenüber dar. Dadurch dass beide Gebäude etwa gleich hoch sind, wirkt der Gegensatz allerdings eher spannend als unvereinbar.

Und noch ein wichtiges Objekt findet sich am "Plac Krasinskich", nämlich das Denkmal für den Warschauer Aufstand des Jahres 1944, jenen gescheiterten Versuch der Polen ihre Hauptstadt aus eigener Kraft von der Naziherrschaft zu befreien und nicht auf deren Vertreibung durch die nahende Rote Armee zu warten. Es waren hauptsächlich diese über zwei Monate andauernden Gefechte und die anschließend von deutschen Truppen durchgeführten systematischen Sprengungen der verbliebenen Häuser, die aus Warschau ein einziges Trümmerfeld machten.

Nach dem deutschen Überfall auf Polen und der schnellen militärischen Niederlage war es einer Reihe polnischer Politiker gelungen, ins Ausland zu entkommen. Dort bildeten sie dann eine Exilregierung, die von den mit Polen verbündeten Nationen als rechtmäßige Vertretung des Landes anerkannt wurde, anfangs in Frankreich und nach dessen Besetzung dann im Vereinigten Königreich residierte.

Mehrere zehntausend Soldaten konnten sich ebenfalls der Kriegsgefangenschaft entziehen und in den Westen flüchten. Auch ein Teil der Flotte konnten rechtzeitig nach Großbritannien in Sicherheit gebracht werden. Aus diesen Männern wurde - verstärkt durch eine große Zahl sich freiwillig meldender Auslandspolen - eine neue Armee aufgestellt. Und diese beteiligte sich an der Seite ihrer Alliierten weiter intensiv am Kriegsgeschehen.

Polnische Gebirgsjäger waren dabei, als 1940 nach dem deutschen Einmarsch in Norwegen um den Erzhafen Narvik gekämpft wurde. Mehrere polnische Divisionen versuchten gemeinsam mit Franzosen und Briten das deutsche Vordringen nach Frankreich zu stoppen. Auch in der Luftschlacht um England flogen polnische Jagdpiloten am britischen Himmel. Und in den Wüsten Nordafrikas dienten polnische Verbände unter dem Oberkommando von Field Marshal Montgomery.

Kurz nach dem D-Day landeten die ersten polnischen Einheiten in der Normandie, um in die auf die Invasion folgenden Gefechte einzugreifen. Einige Monate später - da tobten bereits die Kämpfe in Warschau - sprangen polnische Fallschirmjäger in der Nähe des niederländischen Arnheim aus ihren Flugzeugen, um ihre britischen Kameraden bei der Eroberung der wichtigen Rheinbrücke zu unterstützen. Innerhalb nur weniger Tage verlor die Brigade bei diesem Einsatz ein Viertel ihrer Männer.

Und auch bei den verlustreichen, wegen der vielen beteiligten Nationen - auf Seiten der Westalliierten waren neben Polen unter anderem auch noch Soldaten aus Großbritannien, den USA, Kanada, Neuseeland, Indien, Frankreich, Marokko und Algerien beteiligt - oft als "Vielvölkerschlacht des Zweiten Weltkrieges" bezeichneten Kämpfen rund um die Benediktinerabtei von Monte Cassino waren die "Polnische Streitkräfte im Westen" dabei.

Es waren sogar ausgerechnet polnische Truppen, die das völlig zerstörte Kloster - übrigens wurde diese Anlage genau wie die Warschauer Altstadt nach dem Krieg wieder originalgetreu rekonstruiert - nach monatelangen heftigen Gefechten schließlich als erste erreichen und ihre Fahne über der Ruine hissen konnten. Außerhalb Polens sind all diese Beiträge und die mehr als zweihunderttausend Mann, die bei der Exilarmee unter Waffen standen, jedoch meist längst vergessen.

Wenig später läuft man kurz nacheinander an der Kapuzinerkirche, … … der Warschauer Theaterakademie … … und der Kathedrale der polnischen Armee vorbei

Ähnlich groß war allerdings auch die polnische "Heimatarmee", die ebenfalls der Londoner Exilregierung unterstellt war. Mit Sabotageakten und Spionage für die Westalliierten versuchte sie mehrere Jahre der Besatzungsmacht immer wieder Nadelstiche zu verpassen. Als 1944 allerdings die Rote Armee die deutschen Truppen von Osten immer weiter nach Polen zurück drängte, beteiligte sich die "Armia Krajowa" auch mit größeren Verbänden an der Gefechten.

Das ohnehin bestehende Misstrauen gegenüber dem "Verbündeten" - die Sowjetunion hatte aufgrund eines Geheimabkommens schließlich nach dem deutschen Überfall 1939 das zwanzig Jahre zuvor an Pilsudski verlorene Ostpolen erneut besetzt und nur aufgrund britischer Vermittlung hatte man sich überhaupt mit Moskau auf eine Zusammenarbeit geeinigt - wurde dadurch verstärkt, dass dieser die militärische Unterstützung zwar dankend annahm, nach Ende der jeweiligen Gefechte die Polen aber in der Regel entwaffnen ließ.

Denn die Sowjets unterstützen lieber eine kommunistische Untergrundorganisation namens "Armia Ludowa" - auf Deutsch "Volksarmee" - und hatten bei ihrem Vormarsch mit dem sogenannten "Lubliner Komitee" zudem ihre eigene polnische Regierung im Schlepptau, die in starker Konkurrenz zu den Exilpolitikern in London stand. Wie die Geschichte zeigt, waren die Befürchtungen der Heimatarmee-Führung, dass Stalin ein von ihm abhängiges Regime installieren wollte, nicht verkehrt.

Um die eigene Position zu verbessern, entschloss man sich bei Armia Krajowa nach Rücksprache mit der Exilregierung dazu, wenigstens Warschau mit eigenen Kräften zu erobern, bevor ihnen auch dabei die immer näher rückenden sowjetischen Truppen zuvor kamen. Am 1. August begann der Aufstand, für den mehr als vierzigtausend Kämpfer bereit standen. Doch trotz einiger Anfangserfolge konnten bei weitem nicht alle geplanten Ziele erreicht werden.

Die Heimatarmee hatte in den ersten Tagen der Erhebung zwar beträchtliche Teile der Stadt unter Kontrolle. Allerdings handelte es sich dabei um mehrere nicht zusammen hängende und über ganz Warschau verstreute Gebiete, die deshalb schwer zu verteidigen waren. Umgekehrt konnte die deutsche Garnison, die den Aufständischen am Anfang sogar zahlenmäßig unterlegen war, diese auch nicht gleich zurück erobern.

Erst eine Verstärkung durch SS-Einheiten, die bei ihren Aktionen ohne jede Rücksicht auf die Bevölkerung vorgingen und zum Teil sogar willkürliche Erschießungen vornahmen, wendete das Blatt. In den bis zur Kapitulation der letzten Einheiten am 3. Oktober mehr als zwei Monate dauernden Häuserkämpfen kamen neben fünfzehntausend Angehörigen der Heimatarmee dann je nach Schätzung zwischen einhundert- und weit über zweihunderttausend Zivilisten ums Leben.

Die nur wenige Kilometer entfernt am anderen Weichselufer stehende und dort in Kämpfe mit der Wehrmacht verwickelte Rote Armee unternahm während der ganzen Zeit nur relativ wenig zur Unterstützung des Aufstandes. Anfangs war das der Armia Krajowa vielleicht sogar ganz recht, schließlich war ja das Ziel die Rückeroberung der Stadt aus eigener Kraft. Später hätte man die Hilfe wohl gerne in Kauf genommen, um das Schlimmste zu verhindern. Doch selbst die Versuche der Briten und Amerikaner mit Hilfsflügen zu intervenieren, wurden eher behindert als gefördert.

Endgültig geklärt sind die Gründe für dieses eher halbherzige Eingreifen bis heute nicht. Viele Polen sind jedenfalls der Meinung, man habe damals den Vormarsch mit voller Absicht gestoppt, um die Heimatarmee total ausbluten lassen. Allerdings ist ein eindeutiger Haltebefehl, mit dem man diese Vermutung belegen könnte, bisher nicht aufgetaucht. Und selbst wenn es ihn tatsächlich gegeben hätte, dürfte er auch längst vernichtet worden sein und kaum noch in irgendwelchen Moskauer Archiven schlummern.

Man kann aber wohl davon ausgehen, dass die erhebliche Schwächung des polnischen Widerstandes der sowjetischen Führung keineswegs ungelegen kam, wurden so doch indirekt die eigenen Favoriten deutlich gestärkt. Die Zerschlagung der Armia Krajowa nahm man vermutlich zumindest billigend zur Kenntnis. Auch danach ließ man die Deutschen, die Warschau als Vergeltungsaktion auch nach dem Ende der Kämpfe systematisch weiter zerstörten, gewähren. Erst im Januar 1945 rückte die Rote Armee in die Ruinen der Stadt ein.

Direkt vor dem obersten Gericht ist die erste Verpflegungsstelle aufgebaut

So wurden die Beteiligten am Warschauer Aufstand nach dem Krieg von den neuen sozialistischen Machthabern dann auch keineswegs für ihre mutige, aber tragisch verlaufene Erhebung gegen eine Besatzungsmacht gewürdigt. Vielmehr stellte man einige der Führer des Aufstandes - und später sogar einfache Soldaten - wegen angeblichen Verrats vor Gericht. Und fast alle früheren Angehörigen der Heimatarmee wurden bei Ausbildung und beruflicher Karriere stark behindert.

Von den Polen, die in der "Polnische Streitkräfte im Westen" kämpften, kehrte auch aus solchen Gründen deutlich weniger als die Hälfte in die Heimat zurück. Die meisten ehemaligen Soldaten blieben nach ihrer Auflösung vielmehr in Großbritannien und Frankreich oder gingen als Auswanderer nach Kanada, Australien, Neuseeland und die USA.

Erst nach der stalinistischen Ära Mitte der Fünfziger änderte sich diese Sicht zumindest ein wenig und die Revolte erhielt ein bisschen mehr Beachtung. Doch sollte es bis zum fünfundvierzigsten Jahrestag des Austandes 1989, also praktisch genau bis zur - auch durch die Hartnäckigkeit der Polen, die mit ihrer Gewerkschaft Solidarnisc dem sozialistischen Propaganda-Gebäude erste schwere Risse zufügten, eingeleiteten - politischen Wende im Osten Europas dauern, bevor das auf Polnisch "Pomnik Powstania Warszawskiego" genannte Denkmal eingeweiht wurde.

Es zeigt eine fast lebensechte Gruppe, die mit zusammengewürfelter und völlig unzureichender Ausrüstung zum Kampeinsatz aus einem Abwasserkanal heraus kommt. Und tatsächlich befand sich an dieser Stelle ein wichtiger Ausstieg, aus dem von den Aufständischen als geheimer Transportweg genutzten unterirdischen Netz.

Direkt vor dem Monument und dem Obersten Gericht ist nach ziemlich genau fünf zurückgelegten Kilometern am Marathonsonntag auch die erste Verpflegungsstelle postiert. Anfangs werden sich diese mit Posten ziemlich genau am bekannten Fünf-Kilometer-Rhythmus orientieren, später jedoch ein wenig weiter auseinander liegen, so dass sie zwischendurch um weit über einen Kilometer zum eigentlichen Raster verschoben sind.

Wirklich problematisch ist dies allerdings nicht. Denn zwischen den mit Wasser, Elektrolytgetränken und Obst ausgestatteten Hauptversorgungspunkten sind ungefähr in der Mitte noch zusätzliche Wasserstellen aufgebaut. Mehr als drei Kilometer müssen die Marathonis also nie warten, bevor sie wieder etwas zu trinken bekommen.

Angesichts der nicht wirklich heißen Temperaturen ist dies eigentlich auch völlig ausreichend. Und als es in der Schlussphase dann tatsächlich doch etwas wärmer wird, weil nicht nur die Sonne um die Mittagszeit mit voller Kraft vom Himmel scheint sondern zudem auch der Wind deutlich nachlässt, werden die Abstände zwischen den Posten auch wieder kleiner.

Die Strecke führt zum Verlassen des Krasinski-Platzes unter dem über die Straße hinweg gebauten Gerichtsgebäude durch und erreicht ein weitgehend aus wenig bemerkenswerten Nachkriegsbauten bestehendes Gebiet. Der Ausflug durch die touristisch interessante Zone der Stadt ist damit vorerst beendet. Doch nach diesem Feuerwerk von Sehenswürdigkeiten, die in ihrer dichten Folge kaum zu verarbeiten waren, ist man beinahe froh, dass es nun erst einmal deutlich weniger spektakulär weiter geht und man sich etwas mehr auf den Lauf konzentrieren kann.

Am Krasinski-Palast, endet der Ausflug vorbei an den vielen Sehenswürdigkeiten des Stadtzentrums … … einen Kilometer später ist an der Warschauer Zitadelle der nördlichste Punkt des Kurses erreicht … ... der Rückweg nach Süden verläuft auf der Uferstraße entlang der Weichsel

Durch eine der vielen Warschauer Grünflächen - vielleicht nicht ganz der Realität entsprechend wird manchmal sogar behauptet, man könne die gesamte Stadt durchqueren, indem man nur von einem Park zum nächsten hinüber geht - wird der nördlichste Punkt des Kurses an der Warschauer Zitadelle erreicht. An den massiven Backsteinmauern der Befestigungsanlage, die von einer Kaserne zum Museum umgestaltet werden soll, stoßen die Marathonis zur Uferstraße vor.

Dabei gehen ihnen auch eine ganze Reihe von Höhenmetern verloren. Die Stecke ist abgesehen von einigen unvermeidbaren Wellen zum Beispiel an Brücken zwar weitgehend flach. Doch durch die zwanzig bis dreißig Meter zwischen der Weichsel und der höher gelegenen Stufe des Stadtzentrums verläuft sie praktisch auf zwei verschiedenen und voneinander klar abzugrenzenden Ebenen.

So kann man auf dem Rückweg nach Süden zwischen den Kilometern sieben und neun dann auch noch einmal einen Blick von unten auf die vielen Kirchtürme von Alt-, Neu- und Krakauer Vorstadt sowie das direkt oberhalb des steilen Böschung errichtete Schloss werfen. Da der Streifen zwischen Ufer und Hang abgesehen von der Straße selbst weitgehend unbebaut ist, stellt sich dem außer einigen Bäumen wenig in den Weg.

Als sich auf der rechten Seite die Häuser dann doch irgendwann wieder der Weichsel nähern, ist eines der ersten Gebäude am Straßenrand die neue Universitätsbibliothek. Wie vieles im "neuen Warschau" hat sie ziemlich futuristische Formen. Bekannt ist sie allerdings vor allem wegen ihres die komplette Fläche bedeckenden Dachgartens, der als Park für die Allgemeinheit geöffnet ist. Dessen spektakulärste Objekte sind dabei mehrere schmale Brücken über verglaste Dachpartien.

Wenig später schiebt sich links ein lang gezogener Bau, an dessen Front sich Glas - und rotbraune Steinpartien abwechseln. Es handelt sich um das noch nicht allzu lange eröffnete "Centrum Nauki Kopernik", ein nach Kopernikus benanntes Wissenschaftsmuseum inklusive Planetarium - übrigens auch mit begrüntem Dach. Schnell haben sich die Ausstellungen, mit denen Kindern und Laien komplizierte wissenschaftliche Sachverhalte anschaulich nahe gebracht werden sollen, zu einem echten Publikumsmagneten entwickelt.

Die Straße ist inzwischen deutlich schmaler. Denn die breite und wichtige Nord-Süd-Verbindung wird in diesem Abschnitt in einem Tunnel geführt. Im Gegensatz zu anderen an Flüssen gelegen Städten hat Warschau in der Vergangenheit mit dem Weichselufer wenig am Hut gehabt. Nun bietet sich endlich die Möglichkeit, dort eine Promenade zu errichten, die man ohne Überquerung einer vielbefahrenen und -spurigen Verkehrsachse erreichen kann und die Metropole dadurch zum Wasser hin öffnet.

Schon das Queren einer normalen Straße ist schließlich schwer genug. Denn nicht selten begegnet man einem Fahrstil, den man fast als "südländisch" bezeichnen könnte. Während viele Skandinavier zum Beispiel schon auf die Bremse treten, wenn sich jemand einem Zebrastreifen auch nur nähert, steht man in der polnischen Hauptstadt an Fußgängerüberwegen auch schon einmal etwas länger, bevor sich ein Fahrzeuglenker endlich zum Halten erbarmt oder - viel häufiger - sich eine Lücke im Verkehrsfluss auftut.

Unweit des Wissenschaftszentrums, neben der neuen Schrägseilbrücke "Most Swietokrzyski" befindet sich auch eine Statue der Wappenfigur Warschaus. Als "Sirene" wird das Fabelwesen zwar bezeichnet, doch scheint sie mit Frauenoberkörper und Fischschwanz eine Schwester der Kopenhagener Meerjungfrau zu sein. Aber im Gegensatz zu ihrer dänischen Verwandten blickt sie keineswegs verträumt, traurig und melancholisch aufs Wasser. Vielmehr gibt sie sich mit Schild und Schwert eher kämpferisch.

Eine weitere, deutlich bekanntere und häufiger vor den Kameraobjektiven landende "Syrenka" steht in der Mitte des Altstädter Marktes. Und rund um den Kulturpalast kann man noch sechzehn Kopien dieses Denkmals entdecken, die von der Fußball-EM übrig geblieben sind. Denn nicht nur auf dem Sockel sieht man die Landesfarben der teilnehmenden Teams sondern auch auf dem Schild der Sirene. Und statt des Schwertes hat sie einen Ball in der anderen Hand, was dann nicht nur bei oberflächlichen Hinsehen allerdings eher Handball als Fußball ähnelt.

Vom Weichselufer bieten sich allerdings ebenfalls herrliche Blicke auf die oberhalb gelegene Alststadt In der Nähe der Halbmarathonmarke wird ein Abschnitt entlang der Aleja Wilanowska aufgrund zweier Wenden gleich dreimal absolviert

Jenseits der Weichsel ist längst wieder das Stadion zu erkennen. In der Luftlinie ist es nur noch einige hundert Meter entfernt. Denn die nördliche, die kürzere der beiden Schleifen, aus denen die Marathonstrecke besteht, ist nach ziemlich genau zehn Kilometern abgeschlossen. Und folgerichtig ist dann auch praktisch direkt unter Poniatowski-Brücke die zweite große Verpflegungsstelle aufgebaut.

"Woda, woda". So richtig ist eigentlich gar nicht klar, ob die meist jugendlichen Helfer, das Wasser in ihren Bechern nun auf Polnisch oder Englisch anbieten. Denn obwohl unterschiedlich geschrieben, hört sich beides ausgesprochen ziemlich ähnlich an. Längst hat Englisch das Russische, das frühere Generationen in der Schule lernen mussten, als wichtigste Fremdsprache abgelöst. Und die meisten jüngeren Polen beherrschen es auch gut genug für eine einigermaßen sinnvolle Konversation.

Wie man es auch anderswo erleben kann, wechseln diese dann sofort ins Englische hinüber, wenn sie erkennen, dass sie mit Polnisch bei ihrem Gegenüber nicht besonders weit kommen. Der Zaubersatz, den man als Lauftourist bei Auslandstarts immer versuchen sollte zu kennen und der beinhaltet, dass man aus Deutschland komme und die Landessprache nicht beherrsche, lautet diesmal "Jestem Niemcem, nie mówie po polsku".

Ohnehin scheint das Interesse für Sprachen aus dem lange nur schwer zugänglichen Westen Europas keineswegs klein zu sein. Im Innenstadtbereich - und dabei insbesondere in der Zone der Bürohochhäuser - lassen sich zuhauf Leute entdecken, die mit Schildern, Fahnen und Handzetteln Werbung für kommerzielle Sprachschulen machen, die Kurse in "Angielski", "Hispanski" oder "Niemiecki" - also Englisch, Spanisch oder Deutsch - anbieten.

Umgekehrt wird Polnisch - immerhin nach dem Russischen die slawische Sprache mit den meisten Sprechern - jedoch im westlichen Ausland eher selten gelernt und gelehrt. Auch ohne die grammatischen Besonderheiten schreckt schon alleine der Blick auf die vielen Sonderzeichen ab. Während das deutsche Alphabet inklusive der Umlaute und dem "ß" dreißig Buchstaben kennt, sind es im Polnischen immerhin fünfunddreißig verschiedene Symbole.

Viele Polen sind sich durchaus im Klaren darüber, dass ihre Sprache nicht unbedingt zu den Leichtesten zählt. Und sie reagieren deshalb ziemlich positiv, wenn man zumindest versucht die eine oder andere auswendig gelernte Floskel anzubringen. Meist genügt dazu schon ein "dzien dobry" zur Begrüßung - was sich auch wörtlich mit "Guten Tag" übersetzen lässt - oder ein "dziekuje", um sich zu bedanken. Ein großes "dziekuje" an die vielen freiwilligen Helfer, die "woda" oder "banani" verteilen, sollte da auf jeden Fall fällig sein.

Nach dem Unterlaufen der Brücke ändert sich das Bild entlang der Strecke. Denn Sehenswürdigkeiten sind von nun an auf der breiten und ziemlich gerade verlaufenden Ausfallstraße erst einmal Mangelware. Einzig das nach etwa zwölf Kilometern passierte Stadion des Fußballklubs Legia Warschau wäre vielleicht eine Erwähnung wert. Ansonsten ist man aber hauptsächlich zwischen den ziemlich austauchbaren Wohnblocks unterwegs, denen man in nahezu allen Städten außerhalb des Zentrums begegnen kann.

In Warschau ist dieses tatsächlich ziemlich kompakt. Fast alle touristisch interessanten Punkte liegen im Umkreis von wenigen Kilometern. Und da alles so dicht beieinander zu finden ist und man sich - wie man weiter oben ja recht gut nachlesen kann - mehr oder weniger von einem Höhepunkt zum nächsten hangeln kann, lässt sich die polnische Hauptstadt eigentlich am besten zu Fuß erkunden. Die englische Sprache kann diesen Sachverhalt in einem einzigen Wort ausdrücken. Dort nennt man eine solche "city" dann nämlich "walkable".

Die Tore zum großen Park, der den Potocki-Palast umgibt, sind im Normalfall für die Öffentlichkeit geschlossen, für den Marathon macht man aber eine Ausnahme

Während in manchen Passagen der Marathonstrecke die Läufer weitgehend unter sich sind, haben sich an bestimmten Punkten durchaus einige Zuschauer versammelt. Und eigentlich ist die Unterstützung in den Wohngebieten der äußeren Stadtteile sogar größer als im Zentrum, wo abgesehen von einigen Angehörigen und Freunden der Teilnehmer hauptsächlich überraschte Touristen den Straßenrand bevölkern.

Enge Zuschauerspaliere, wie man sie von den großen hiesigen Marathons wie Hamburg, Berlin oder in den letzten Jahren auch Frankfurt gewohnt ist, sollte man allerdings nicht erwarten. Es ist eher dezentes Interesse als riesige Begeisterung, die dem Lauf in Warschau entgegen gebracht wird. Andererseits - und das ist durchaus erwähnenswert - regt sich allerdings auch niemand über die Sperrungen wirklich auf. Dort wo Autos den Kurs kreuzen dürfen, lässt sich jedenfalls kein Fahrer wegen der Wartezeiten zu wildem Gehupe hinreißen.

Rund fünf Kilometer lang führt die Strecke praktisch immer geradeaus und wechselt dabei vom Distrikt Sródmiescie ins Gebiet von Mokotów hinüber. Wie die "Stadtmitte" liegt auch dieser sowohl auf dem niedrigeren Uferbereich direkt an der Weichsel als auch oberhalb der relativ steilen Abbruchkante und wird deshalb zwar nicht offiziell, aber im täglichen Umgang in Górny Mokotów und Dolny Mokotów - also Ober- und Unter-Mokotów - unterschieden.

Die Marathonis sind dabei auch weiterhin im unteren Teil unterwegs, denn seitdem man an der Zitadelle zum Fluss vorgestoßen ist, verläuft der Kurs praktisch ohne jeden Höhenmeter. Von der Wisla selbst hat man sich inzwischen aber verabschiedet. Sie fließt nun ein Stück weiter östlich ihrer bei Danzig gelegenen Mündung in die Ostsee entgegen.

Die lange Gerade endet an einem Verkehrsknoten, bei dem die sich eigentlich kreuzenden Straßen inzwischen in ziemlich verwirrender Form durch eine Reihe in mehreren Ebenen übereinander verlaufenden Rampen verbunden sind. Unter ihnen hindurch - und zur Abkürzung auch diagonal über den Fußgängerbereich - wechseln die Läufer nach rechts auf die "Aleja Generala Wladyslawa Sikorskiego", die nach dem ebenfalls bei einem Flugzeugabsturz umgekommenen Chef der Londoner Exilregierung Wladyslaw Sikorski benannt ist.

Nicht einmal einen Kilometer später ist die Stecke aber schon wieder nach links geschwenkt und auf die "Ulica Jana Sibieskiego" eingebogen, die - selbst wenn es ihr in diesem Bereich nicht anzusehen ist - ebenfalls zum Königstrakt gehört und auf einer Länge von fast fünf Kilometern die Verbindung des einst weit außerhalb des Stadtgebietes gelegenen königlichen Schlosses von Wilanów mit dem alten Zentrum herstellt. Rund die Hälfte davon wird während des Marathons belaufen.

Benannt ist die Straße nach dem polnischen König Jan III Sobieski, der den "Palac w Wilanowie" Ende des siebzehnten Jahrhunderts erbauen ließ. Doch nicht deswegen ist der Vorgänger des starken August auch jenseits der Grenzen Polens bekannt. Als einer der militärischen Führer eines deutsch-polnischen Entsatzheeres war er 1683 nämlich maßgeblich daran beteiligt, die türkische Belagerung von Wien zu beenden.

Sobieski, bei dem man - ungewöhnlich für einen Herrscher - zur Unterscheidung eigentlich stets den Nachnamen und nicht etwa die Ordnungszahl nennt, entschied die Schlacht am Kahlenberg, nach der die Türken sich fluchtartig von der Habsburgerhauptstadt zurück zogen, mit seinen "Flügelhusaren". Trotz des gleichen Begriffes handelte es sich dabei aber keineswegs um die leichte bewegliche Kavallerie späterer Zeit sondern um schwer gepanzerte Reiter, die ihren Namen von den an langen Stangen befestigten Adlerfedern auf dem Rücken haben.

Dort wo die Sobieski-Straße in einem weiten Linksbogen in die direkt auf den Palast zuführende "Aleja Wilanowska" übergeht, betritt man nach achtzehn zurück gelegten Kilometern dann auch den ebenfalls "Wilanów" heißenden Stadtbezirk. Noch weitere tausend Meter geht es auf der den letzten Abschnitt des Königstraktes bildende "Wilanower Allee" dem Schloss entgegen. Doch bis zum barocken Prachtbau selbst gelangt das Läuferfeld dennoch nicht. Man bekommt ihn noch nicht einmal aus der Ferne zu Gesicht.

Hinter dem Park, dessen Bäume für rund zwei Kilometer Schatten spenden… …beginnt mit der Wladyslaw-Kirche der rund zehn Kilometer lange Rückweg ins Stadtzentrum... ...der viele lange Geraden aber nur selten einmal eine echte Kurve zu bieten hat

Denn zum einen wird er von den Bäumen des um ihn herum angelegten Parks praktisch vollständig abgeschirmt. Zum anderen vollführt die Marathonstrecke genau in dem Moment, in dem man das Gelände erreicht, aber auch einen Schwenk um hundertachtzig Grad und verläuft auf der anderen Seite des Grünstreifens in umgekehrter Richtung wieder zurück zur Einmündung der Ulica Jana Sibieskiego.

Wirklich ungewöhnlich ist das nicht. Viele Marathonkurse werden schließlich mit Wendepunktpassagen auf die passende Länge gebracht. Aber dass man die gleiche Strecke dann wieder um einige Meter versetzt auch noch ein drittes Mal absolvieren darf, erlebt man dann doch ziemlich selten. Nach dem zweiten kompletten Richtungswechsel steuern die Läufer jenseits eines Grabens über einen Fuß- und Radweg erneut auf den Wilanów-Park zu.

Dort piept auch die an der Halbmarathonmarke ausgelegt Messmatte. Die Chips haben alle Teilnehmer übrigens direkt im Umschlag mit der Startnummer und - wie ziemlich oft außerhalb des deutschsprachigen Raumes - ohne jede Leihgebühr erhalten. Nach dem Zieldurchlauf werden im Stadion-Untergeschoss einige mit großen Eimern ausgerüstete Helfer sie dann einfach wieder einsammeln.

Etwas überraschend liegen zu diesem Zeitpunkt nicht etwa Ostafrikaner in Führung. Die haben die Warschauer Organisatoren zwar nicht wie andere Veranstalter gleich im Dutzend verpflichtet. Aber mit James Mbiti Mutua, Samson Cuebii und Francis Kosgei sind immerhin drei Kenianer am Start. Und die widerlegen das weit verbreitete und durch den ungestümen Auftritt des als großen Favoriten geltenden Wilson Kipsang bei Olympia scheinbar wieder bestätigte Vorurteil, dass Athleten aus dem Läuferland Nummer eins einfach nicht abwarten könnten.

Denn alle drei hängen von Anfang an etwas zurück und haben gemeinsam mit dem Äthiopier Yohanis Abera Wenecha bei Kilometer zehn schon einen Rückstand von ungefähr einer halben Minute auf die aus dem Warschau-Sieger von 2007 Pawel Ochal, dem seit fast einem Jahrzehnt in Polen eingebürgerten Yared Shegumo und dem nun mit einem deutschen Pass ausgestatteten, diesmal aber nicht für den SG Schramberg sondern für WKB Meta Lubliniec laufenden Marian Blazinski bestehende Spitzengruppe.

Auch nach der Hälfte der Distanz liegt dieser mehr oder weniger polnische Dreierpack noch in Front, während sich aus dem seinen Abstand in etwa haltenden Feld der Verfolger Francis Kosgei und Yohanis Abera Wenecha bereits nach hinten verabschiedet haben. Während Kosgei sich als Sechster nach 2:25:19 noch als Gesamtsechster in Ziel mogeln wird, bricht der immerhin mit einer Bestzeit von 2:11 ausgestatte Äthiopier am Ende richtig ein und landet in 2:33:02 nur auf Rang zwölf.

Bei den Frauen, die nicht nur um den Sieg beim Warschau Marathon sondern auch um den polnischen Meistertitel kämpfen, hat sich Agnieszka Ciolek bei mehr als drei Minuten Vorsprung an der Halbzeitmarke dagegen schon recht deutlich von den ihrerseits nur wenige Meter auseinander liegenden Katarzyna Durak und Joasia Zakrzewski abgesetzt.

Trotz ihres im ersten Moment ziemlich polnisch klingenden Namens handelt es sich bei Zakrzewski übrigens um eine Britin, die für den Dumfries Running Club aus Schottland startet und darum mit der Meisterschaftswertung nichts zu tun hat. Wenn man schon einmal etwas mit der slawischen Namensgebung beschäftigt hat, könnte man allerdings auch von alleine auf den Gedanken kommen, dass eine "echte" Polin wohl "Zakrzewska" heißen würde.

Verkleidete Schülergruppen sorgen auf der lang gestreckten
Ulica Pulawska für Abwechslung und Anfeuerung
Der Park Morskie Oko bringt dann mit mehreren Zierbauten und Statuen auch wieder optisch Interessantes

Nach deutlich über drei Streckenkilometern, auf denen man kaum mehr als einen Kilometer weiter gekommen ist, biegt der Kurs dann doch auf die am Park entlang laufende Straße ein, ohne jedoch irgendwelche Anstalten zu machen, diese auch zu überqueren, um zum Schloss zu gelangen, und führt anschließend immer stärker aus der Stadt hinaus. Das Gelände wird offener, die Bebauung geringer. Wilanów ist zwar ein flächenmäßig recht großer, bezüglich der Bevölkerung aber ziemlich kleiner Stadtbezirk mit zum Teil fast ländlichem Charakter.

Die halbfertigen Häuser eines Neubaugebietes, die anfangs am Streckenrand stehen und bei denen nichts darauf hindeutet, dass noch an ihnen gearbeitet würde und sie demnächst bezugsbereit wären, zeigen deutlich, dass wie überall sonst auch in Polen der wirtschaftliche Aufschwung keine Einbahnstraße darstellt und das Geld für Großprojekte durchaus einmal knapp werden kann. Doch nachdem man sie hinter sich gelassen hat, befinden sich die Läufer in weitgehend freiem Feld.

Mit der Wasserstelle bei Kilometer dreiundzwanzig wandelt sich der Warschauer Stadtmarathon dann endgültig zu einem Landschaftslauf. Denn anschließend werden die Läufer in einen schmalen Weg hinein geleitet, der an beiden Seiten von Bäumen und hohen Hecken gesäumt ist. Optisch hat dieser Abschnitt gerade wegen des Kontrastes zu den zuvor lange durchlaufenen Wohngebieten etwas ziemlich ansprechendes.

Die zu diesem Zeitpunkt des Rennens schon etwas müden Füße finden den Untergrund dagegen weit weniger angenehm, besteht er doch nicht etwa aus Asphalt sondern aus Pflastersteinen. Das sind zwar nicht jene groben "Katzenköpfe", die man in der Regel von hiesigen Wegen kennt. Man hat in Wilanów vielmehr - eigentlich eine einigermaßen ebene Oberfläche bildende - Backsteine verlegt.

Allerdings haben diese im Laufe der Zeit eben dann doch so verschoben, dass zwischen ihnen nun oft größere Lücken klaffen. Manche haben sich ein wenig abgesenkt, andere sind dagegen wieder etwas nach oben versetzt. Alles in allem ist der Belag jedenfalls eher holprig. Einen nachlässigen Schlurfschritt kann man sich unter solchen Voraussetzungen eindeutig nicht erlauben. Vielmehr sollte der Fuß jedes Mal sauber gesetzt sein, um nicht irgendwann auf der Nase zu liegen.

Ein markanter Torbogen taucht vor den Marathonis auf. Links und rechts schließt sich eine hohe Mauer an. Und auch die Torgitter und der uniformierte Wächter neben dem Eingang lassen vermuten, dass die Öffentlichkeit ansonsten wohl nicht unbedingt Zutritt zu dem sich dahinter erstreckenden Gelände hat. Und tatsächlich ist der Schlosspark von Natolin nur in Ausnahmefällen zugänglich. Der Marathon scheint jedoch eine solche besondere Gelegenheit zu sein.

Der einstige, über einen Quadratkilometer große Landschaftsgarten ist inzwischen als Naturschutzgebiet weitgehend sich selbst überlassen. Und damit auch ja keiner der Marathonläufer den - zwar immer noch mit Klinkersteinen gepflasterten, nun aber deutlich besser gepflegten und damit auch zu belaufenden - Weg durch das Waldgebiet verlässt, begleitet sie während der gesamten Durchquerung auf beiden Seiten eine durchgängige Flatterbandumrandung.

Anfangs schneidet "Trasa" - wenn man es ganz genau nimmt, ist der in polnischen Worten ja schon enthaltene Artikel schließlich überflüssig - auch weiterhin schnurgerade durch den dichten Wald. Doch ziemlich genau dort, wo bei Kilometer fünfundzwanzig - nach dem bei internationalen Großveranstaltungen inzwischen üblichen Standard - zum nächsten Mal eine Zwischenzeit registriert wird, schlägt der Kurs einen scharfen Haken nach rechts.

Denn am Ende der Sichtachse erhebt sich ein Hügel, auf dem ein kleines Palais mit auffälligem Säulenvorbau sitzt. Die direkte Linie zu dieser Kuppe ist jedoch nicht nur durch einen Teich sondern auch durch eine gemauerte Terrasse entlang der - an dieser Stelle ein ganzes Stück vom Fluss entfernten - Weichselböschung versperrt. Die Backsteinwege des Parks führen in großem Bogen außen um dieses Hindernis herum.

Auf den letzten Kilometern gibt es dann am Streckenrand aber wieder eine Menge zu sehen, vom "Mauretanische Häuschen" am Park Morskie Oko über den "Palac Lesserów" bis zu den Stelzenläufern vor dem Nationalmuseum

Vorbei an der Nachbildung eines antiken Tempels, der auf einmal auf einer kleinen Lichtung steht, werden die Marathonis durch die Bänder am Streckenrand geleitet. Und mit der auffälligen Brücke, die aus welchem Grund auch immer den Namenszusatz "mauretanisch" trägt, beginnt der nach nun schon fast zwanzig praktisch vollkommen ebenen Kilometern ziemlich ruppig erscheinende Aufstieg zurück zur oberen Höhenstufe der Warschauer Topologie.

Nach deren Überwindung kann man den "Palac Potockich", den man einen Kilometer zuvor schon aus der Ferne betrachten konnte, nun auch aus der Nähe begutachten. Oft wird dieses Palais auch mit dem Zusatz "Natolin" versehen, um ihn von weiteren Palais der Adelsfamilie Potocki, der in der "Krakowskie Przedmiescie" dem Präsidentenpalast direkt gegenüber liegt, zu unterscheiden.

Benannt ist der Landsitz nach Natalia Potocka, der Tochter eines seiner Besitzer. Ursprünglich galt der Name tatsächlich nur für das Schlossgelände. Doch später ging er auch auf die in der Nachbarschaft entstandene Siedlung über, die inzwischen längst ein Stadtteil von Warschau im Verwaltungsbezirk - auf Polnisch "Dzielnica" - Ursynów ist. Das Schlösschen selbst gehört aus historischen Gründen allerdings noch zu Wilanów.

In das Palais und seine Nebengebäude ist inzwischen die private Elitehochschule "College of Europe" eingezogen, die als eine Art Kaderschmiede für Diplomaten und Mitarbeiter internationaler Organisationen gilt. Neben dem traditionellen Hauptsitz in Brügge hat man nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs nun schon seit zwanzig Jahren einen zweiten Standort am Stadtrand von Warschau.

Der Bruch könnte kaum größer sein, als kurz nach dem Verlassen von schattigem Park und klassizistischem Schloss wieder moderne Wohnblöcke am Straßenrand auftauchen. Für die nächsten Kilometer werden sie erneut das Bild entlang der Marathonstrecke dominieren. In den letzten Jahrzehnten ist Warschau gerade im Süden seines Stadtgebietes deutlich sichtbar gewachsen. Einige komplett neue Viertel sind dabei entstanden.

Und selbst wenn die dabei gebauten Hochhäuser mit den spektakulären Glastürmen in der Stadtmitte natürlich nicht mithalten können, heben sie sich dennoch klar von den eintönigen Plattenbausiedlungen der vergangen sozialistischen Ära ab. Neben Wohnhäusern werden dabei - wie man es bei einem Land wie Polen, in dem der Katholizismus noch immer tief verwurzelt ist, fast erwarten kann - auch fleißig neue Kirchen gebaut.

Kurz nach dem Schlosspark läuft man zum Beispiel einen auffälligen, dem Schutzpatron Warschaus Wladyslaw von Gielniów gewidmeten Kuppelbau vorbei. Und einige Zeit später - da hat der lange Rückweg ins Stadtzentrum längst begonnen und Kilometer dreißig ist bereits passiert, fällt das Gotteshaus mit dem für Nichtpolen nur schwer zu behaltenden Namen "Kosciól Wniebowstapienia Panskiego" - was ungefähr als "Himmelfahrtskirche" übersetzt werden könnte - noch ein wenig größer aus.

Erneut ist es eine lange, in diesem Zeitpunkt des Rennens fast schon endlos wirkende Gerade, über die man einen Großteil der rund zehn Kilometer nach Sródmiescie zurück legen muss. Allerdings sind diesmal noch ein paar Zuschauer mehr an die Strecke gekommen. Und an einigen Ecken sind regelrechte Straßenfeste im Gange. Der stärkere Zuspruch könnte vielleicht mit der etwas späteren Uhrzeit zusammen hängen. Eventuell spielen aber auch die nahen U-Bahn-Haltestellen eine gewisse Rolle, denn man ist nun genau über der Metro-Trasse unterwegs.

Noch etwas mehr als ein Kilometer ist zurückzulegen, als man an den beiden Ziertürmchen die Poniatowski-Brücke wieder erreichte

Dennoch ist wohl kaum jemand böse als ein lang gestreckter Bogen zumindest eine kleine Richtungsänderung bringt und man nicht noch mehr Kilometer mit einem einzigen Blick einsehen kann. Und selbst die kurze Steigung an der Brücke über das kleine Flusstal, das die Stadteile Ursynów und Mokotów voneinander trennt, wird von vielen beinahe schon als willkommene Abwechslung begrüßt.

In diesem Abschnitt werden allerdings auch die Karten an der Spitze ein wenig neu gemischt. Denn während Yared Shegumo und Marian Blazinski noch immer führen, ist Pawel Ochal zurück gefallen und spürt bereits den Atem von James Mbiti Mutua im Nacken. Der ist inzwischen ebenfalls alleine unterwegs, denn Samson Cuebii hat den Anschluss und innerhalb von nur fünf Kilometern eine volle Minute verloren. Bis zum Ziel, das er in 2:30:03 nur als Neunter erreicht, werden dann noch viele weitere hinzu gekommen sein.

Weit weniger spannend ist das Frauenrennen, wo Agnieszka Ciolek ihren Vorsprung noch einmal deutlich ausgebaut hat und nun schon fast sechs Minuten vor ihrer ersten Konkurrentin her läuft. Das ist Katarzyna Durak, die nun immerhin neunzig Sekunden auf Zakrzewski heraus geholt hat. Die Britin, die im Sommer Dritte beim Swiss Alpine Ultra von Davos und Vierte beim südafrikanischen Comrades war, hat ihrerseits einen kaum größeren Abstand zur hinter ihr liegenden Ewa Kucharska.

Nach mehr als fünf Kilometern, während denen die Marathonis immer auf der gleichen Straße geblieben sind, folgt tatsächlich eine - fast schon nicht mehr erwartete - Linkskurve. Sie führt auf die Aleja Wilanowska, deren anderes Ende man fünfzehn Kilometer zuvor unter die Füße genommen hatte. Doch kaum zweihundert Meter später ist man bereits ein weiteres Mal - diesmal nach rechts - abgebogen, allerdings nur um nach noch kürzerer Distanz erneut nach links zu schwenken.

Mit etwas Augenzwinkern ließe sich bemerken, dass einem angesichts dieser vielen plötzlichen Richtungswechsel beinahe schwindelig werden könnte. Vor allem aber erscheint der Ort, an dem man damit gelandet ist, ziemlich seltsam. Denn für einige hundert Meter verläuft die "Trasa" nun über einen Busbahnhof mit etlichen Wartehäuschen und einem halben Dutzend Einstiegsplattformen mit Platz für jeweils mindestens genauso viele Busse.

Dass die Läufer diesen auf der anderen Seite schließlich mit einer Spitzkehre hinaus auf die Ulica Pulawska fast direkt an deren Kreuzung mit der Aleja Wilanowska wieder verlassen, macht den Schlenker noch viel merkwürdiger. Weder hat man dadurch wirklich viele Meter gewonnen, noch kann die Umleitung auf so einem kurzen Abschnitt großen Einfluss auf die Verkehrsführung haben. Doch wie bei der ähnlich unüblichen Doppelwende rund um die Halbmarathonmarke wird sich der Streckenarchitekt wohl irgendetwas dabei gedacht haben.

Die nach der etwas über hundert Kilometer südlich von Warschau gelegenen Stadt Pulawy benannte Straße führt die Marathonis weitere drei Kilometer ohne Kurve der Innenstadt entgegen. Und auch sie hat neben einer nur gelegentlich von kleinen Parks unterbrochenen Reihe von mehrstöckigen Wohnblocks und Bürohäusern erst einmal wenig zu bieten. Die in der Mitte dieser wichtigen Nord-Süd-Achse verkehrende Straßenbahn bietet sich allerdings für mitfahrende Marathonfans an.

Und immer wieder sorgen Gruppen bunt verkleideter Jugendlicher am Straßenrand für Überraschung. Sie stammen keineswegs nur aus Warschau sondern sind auf Einladung der Veranstalter aus verschiedenen Städten des Landes angereist und tragen einen Wettbewerb um die besten Kostüme und Anfeuerungen aus. Doch außerdem sollen sie in Schulprojekten auch lernen, wie man eine Laufveranstaltung organisiert. Noch im Herbst werden sie jeweils ihre eigenen Rennen ausrichten.

Während der Weichselüberquerung hat man das Stadion, in dessen Innenraum sich das Ziel befindet, ständig im Blick

Kurz bevor man das nördliche Ende der Ulica Pulawska erreicht, bieten dann gleich mehrere Zierbauten und Statuen am Eingang der Park Morskie Oko auch wieder optische Reize. So ganz will das aber nicht nur aus nüchternen Gebäuden aus der Nachkriegszeit bestehenden Umgebung passen, Insbesondere das auf orientalisch getrimmte "Domek Mauretanski" - das "Mauretanische Häuschen" - sticht ziemlich heraus.

Wenig später gabelt sich die Straße. Der Marathonkurs, der schon den ganzen Weg von Natolin die rechte Fahrspuren der meist durch Grünstreifen geteilten Straßen gewählt hatte, hält sich auch an dieser Stelle halbrechts. Und an dem Kreisel, auf den man wenig später nach einem kleinen, aber durchaus spürbaren Anstieg stößt, biegen die Marathonis erneut in diese Richtung ab, um auf eine Baumgruppe zuzulaufen, deren wirkliche Größe man allerdings noch nicht abschätzen kann.

Mit dem Erreichen dieses Parks mit dem eher ungewöhnlichen Namen "Lazienki Królewskie" - das bedeutet nämlich übersetzt "Königliche Bäder" - betritt man endgültig wieder die touristische Zone. Die an ihm entlang führenden "Aleje Ujazdowskie" - wieder eine "Allee" die in der Mehrzahl auftaucht - sind nämlich ebenfalls Bestandteil des Königswegen, von dem die Läufer nun einen weiteren Abschnitt kennen lernen und den sie bis zur künstlichen Palme am Charles-de-Gaulle-Kreisel nicht mehr verlassen werden.

Gegenüber der Grünanlage erstreckt sich unter anderem der lang gezogene Gebäudetrakt, in dem der polnische Ministerpräsident seinen Sitz hat. In viele der Villen und Stadtpaläste entlang der Allee und rund um den Park sind ausländische Botschaften oder staatliche Institutionen eingezogen. Doch größter Anziehungspunkt ist der "Bäder-Park" selbst, der sich als mit den angrenzenden Anlagen rund einen Quadratkilometer große Oase der Ruhe mitten im Trubel der Großstadt ausdehnt.

Neben einigen Denkmälern und nachgebildeten Tempeln sowie zwei Orangerien finden sich in dieser grünen Lunge, die sich über beide Höhenstufen der Weichselböschung erstreckt, gleich mehrere Schlösser. Das wichtigste von ihnen ist der "Palac Lazienkowski" oder auch "Palac na Wodzie", das auf einer künstlichen Insel liegend und nur über zwei Brücken mit dem Festland verbunden seinem Namen "Palast auf dem Wasser" alle Ehre macht.

Erbaut wurde der Palast für den letzten polnischen König Stanislaus II. August Poniatowski - ein Onkel des Generals Józef Poniatowski, nach dem die Brücke am Stadion benannt ist. Unter seiner Regentschaft fielen jene drei Teilungen, bei denen sich die Nachbarn Russland, Preußen und Österreich das Territorium nach und nach einverleibten und die Unabhängigkeit des Landes für längere Zeit beendeten.

Ursprünglich als Favorit der russischen Zarin auf den polnischen Thron gelangt, die mit diesem Schachzug eigentlich einen schwachen und gefügigen König installieren wollte, versuchte er seinen Stellung in Polen bald darauf durch Reformen zu festigen und provozierte so einen Konflikt mit Katharina II. Da ein einseitiges russisches Eingreifen das Machtgleichgewicht verschoben hätte, einigte man sich mit den beiden anderen Großmächten einfach über die Köpfe der Polen hinweg darauf, sich jeweils einen Teil des Territoriums einzuverleiben.

In weitem Bogen werden die Marathonis erst von der Brücke herunter und dann unter ihr hindurch geleitet

Der schwache, aufgrund der Streitigkeiten zwischen den vielen Adelsfamilien praktisch gelähmte, polnische Staat - bis zu diesem Zeitpunkt noch eines der flächenmäßig größten Länder in Europa - konnte sich angesichts der erdrückenden Überlegenheit seiner Nachbarn nicht wehren und wurde zur reinen Verhandlungsmasse im Machtpoker von Katharina, dem Preußenkönig Friedrich II und der österreichischen Kaiserin Maria-Theresia degradiert.

Und weil das Ganze so gut funktioniert hatte, beschlossen die von absolutistischen Herrschern regierten Preußen und Russland zwei Jahrzehnte später, noch einmal genauso zu verfahren, als Polen es wagte, sich nach der französischen Revolution auf Vorschlag von Stanislaus August Poniatowski eine geschriebene Verfassung - überhaupt die erste in Europa - zu geben, und daraufhin russische Truppen ins Land einmarschierten.

Der wenig später folgende Aufstand unter Tadeusz Kosciuszko - der polnische Offizier hatte im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg unter George Washington gekämpft - scheiterte. Und diesmal wollte auch Österreich wieder einen Stück des noch verbliebenen Kuchens abbekommen. Polen wurde 1795 endgültig unter seinen drei großen Nachbarn aufgeteilt. Stanislaw August musste abdanken und wurde so zu einer der tragischsten der vielen tragischen Figuren in der Geschichte des Landes.

Über eine vielspurige Stadtautobahn, die in einer Senke zwischen dem Park Lazienkowski und dem im Norden angrenzenden Park Ujazdowski hindurch schneidet, hinweg führt die Straße weiter dem schon bekannten Kreisverkehr entgegen. Kurz nachdem man auch den letzten Teil des Grünanlagenbandes hinter sich gelassen hat und wieder auf beiden Straßenseiten - meist ziemlich ansehnliche - Häuser stehen, weitet sich der Königstrakt noch einmal.

Kurz hinter der markanten "Most Poniatowskiego"... … biegt man dann ins Stadiongelände ein … … und verschwindet für den Endspurt in dem in die Arena hinein führenden Tunnel

"Platz der drei Kreuze" heißt die Freifläche, an der man kurz nach Kilometer neununddreißig vorbei läuft. Denn auf der Alexanderkirche in seiner Mitte findet sich ein Kreuz, auf den beiden Säulen davor noch zwei weitere. Rund um den "Plac Trzech Krzyzy" haben sich nach der politischen Wende nach und nach Nobelhotels, -restaurants und -boutiquen angesiedelt, so dass er trotz seiner architektonisch eher zusammen gewürfelten Gestaltung zu den besten Adressen der Stadt gezählt wird.

Mit dem Einbiegen - übrigens auf genau die andere Fahrbahnseite als nach dem Start, so dass die Straßenbahngleise nicht überquert werden müssen und die Züge wieder fahren können - auf die Jerusalemer Alleen beginnt der Endspurt. Und eigentlich kann man das Stadion schon in der Ferne erahnen. Aber am Nationalmuseum, vor dem neben der letzten Verpflegungsstelle auch eine Gruppe von Stelzenläufern auf die Marathonis wartet, flattert erst die Fahne mit der aufgedruckten "40". Noch sind also mehr als zwei Kilometer zurück zulegen.

Doch geht es dafür immerhin auch leicht bergab der Brücke hinüber nach Praga entgegen. Nicht ganz zufällig trägt der östlich der Weichsel gelegene Stadtbezirk einen ähnlichen Namen wie die tschechische Hauptstadt. Beide leiten sich von einem slawischen Wort ab, dass "Rodung" bedeutet. Im Gegensatz zur Innenstadt wurde Praga im Krieg kaum beschädigt. Und so ist vieles dort noch wesentlich ursprünglicher als am anderen Ufer. Manche Spötter behaupten sogar, jenseits der Wisla habe man Polen eigentlich schon verlassen und sei in der Ukraine gelandet.

Noch etwas mehr als ein Kilometer ist zurückzulegen, als man an den beiden Ziertürmchen die Poniatowski-Brücke wieder erreicht. Und erst zu diesem späten Zeitpunkt wird das Rennen entschieden. Denn James Mbiti Mutua hat nicht nur auf den langen Geraden durch Mokotów nicht nur Pawel Ochal eingesammelt sondern auch den Abstand zu Shegumo und Blazinski immer mehr verkürzt.

Nur kurz ist der Stadiontunnel… …dann läuft man von Kameras direkt auf die Videowand unter dem Dach übertragen… …ins imposanten Ziel mitten in der Arena ein

An Marian Blazinski ist der Kenianer inzwischen ebenfalls vorbei gezogen und nun nimmt er auch Yared Shegumo ins Visier. Tatsächlich überholt er auch den Neu-Polen kurz vor dem Ziel noch, der so ein Déjà-vu-Erlebnis hat. Denn schon im Frühjahr hatte er in Debno knapp hinter dem dort Zweiter werdenden James Mbiti Mutua Platz drei belegt. Diesmal landet der Kenianer in 2:15:02 ganz oben auf dem Siegerpodest und Shegumo muss sich trotz einer Führungsposition während praktisch des gesamten Rennens am Ende nach 2:15:26 mit Rang zwei begnügen.

Nur acht Sekunden später ist Marian Blazinski im Ziel. Innerhalb einer guten halben Minute sind damit alle Treppchenplätzen besetzt. Und Pawel Ochal sorgt mit einer Zeit von 2:16:15 als Vierter dafür, dass es auch dahinter noch eng bleibt. Erst zum Fünften Emil Dobrowolski (2:20:02) und dem schon erwähnten Sechsten Francis Kosgei klaffen dann größere Lücken.

Bei den "damski" lässt Agnieszka Ciolek in 2:34:15 nichts anbrennen und sichert sich so ziemlich deutlich Sieg und Meistertitel. Bis Katarzyna Durak nach 2:41:52 als nächste ins Ziel läuft, vergehen schließlich mehr als sieben Minuten. Die Schottin Joasia Zakrzewski verliert zwar noch ein wenig mehr Zeit auf die Zweite, doch kann sie mit 2:45:15 Platz drei vor der kurzzeitig einmal etwas näher aufrückenden Ewa Kucharska behaupten, die in 2:46:37 gestoppt wird.

Mit Ewa Kalarus (2:57:17) bleibt nur noch eine weiter Frau unter drei Stunden, was für ein Meisterschaftsrennen beim nun größten Marathon des Landes nicht unbedingt überzeugend ist. Auch gerade einmal 122 Männer unter dieser Marke kann man auf einer keineswegs langsamen Strecke nicht wirklich als herausragend bezeichnen. Die Leistungsentwicklung in Polen scheint also nicht nur in der absoluten Spitze durchaus der in den meisten europäischen Ländern vergleichbar zu sein.

Selbst wenn das Stadion natürlich nicht vollständig gefüllt ist, sind mehr als genug Zuschauer anwesend, um für einen stimmungsvollen Einlauf zu sorgen. Wenn sie so genutzt wird wie beim Warschau Marathon ist jedenfalls auch eine reine Fußballarena ohne Laufbahn nicht komplett für die Leichtathletik verloren

Schon lange vor der Weichselüberquerung hat man das Stadion, in dessen Innenraum sich das Ziel befindet, ständig im Blick. Doch auch als man endlich am anderen Ufer angekommen ist, kann man es nicht direkt ansteuern. In weitem Bogen werden die Marathonis erst in die andere Richtung von der "Most Poniatowskiego" herunter und dann unter ihr hindurch geleitet. Erst danach darf man von der Flussseite ins Stadiongelände einbiegen.

Und als man in den in die Arena hinein führenden Tunnel einbiegt, sind gerade noch jene ungefähr zweihundert Meter zu laufen, die den Marathon zur völlig krummen Distanz machen.

Die letzte Markierungsflagge, die mit der "42" steht jedenfalls genau in diesem Gang, durch den man vor dem Rennen schon zum Start geleitet wurde und über den man - jetzt ist er nämlich mit Absperrgittern geteilt - nach einer halben Rund im Untergeschoss wenig später auch das Stadion wieder verlassen wird.

Nur kurz ist der Stadiontunnel, dann läuft man auch schon in die imposante Arena hinein. Und tatsächlich werden die nach dem ersten Eindruck bei der Startnummernausgabe entstandenen Erwartungen voll erfüllt.

Von der Spielfläche sieht die Arena fast noch gewaltiger aus als von der Tribüne. Und selbst wenn das Stadion natürlich nicht vollständig gefüllt ist, sind mehr als genug Zuschauer anwesend, um für stimmungsvolle letzte Meter zu sorgen.

Da angesichts des guten Wetters zudem das Stadiondach geöffnet ist, lässt sich dieser Einlauf eigentlich auch nicht mit den in Hallen endenden Marathons vergleichen. Denn weder läuft man in Dunkelheit noch in stickige, sauerstoffarme Luft hinein. Andererseits ist alles aber dennoch gut geschützt, enger zusammen gerückt und damit auch völlig anders als in einem "normalen" Stadion mit Laufbahn. Es ist - selbst wenn es den Anhängern der klassischen Leichtathletik vielleicht nicht gefallen wird - deutlich imposanter.

Selbst in der Dunkelheit ist der farbig angestrahlte Kulturpalast, der im Volksmund als "Stalinstachel" verspottet wird, weithin sichtbar… …doch nicht nur die auf einem Gedenkstein angegebenen Entfernungen zu den nun für jeden Warschauer erreichbaren Partnerstädten zeigen den enormen Wandel… …auch an manchen kleinen, aber fotogenen Details lässt sich erkennen, dass Polen die sozialistische Herrschaft endgültig abgeschüttelt hat

Man kann sich zudem kaum eine bessere Nutzung einer reinen Fußballarena durch den Laufsport vorstellen, wie sie bei der Kombination von Maraton Warszawski und Stadion Narodowy geschieht. So ist dieses nagelneue, eigentlich hauptsächlich für die Kicker errichtete Stadion auch ohne Tartanrunde auf keinen Fall für die Leichtathletik verloren.

Natürlich sind die Kapazitäten der Veranstaltung damit ein wenig begrenzt und die Teilnehmerzahlen nicht immer weiter zu steigern. Doch wenn man den Organisatoren die aktuellen Werte vor wenigen Jahren prophezeit hätte, wäre man wohl von ihnen nur mit einem Kopfschütteln bedacht worden. Nun gilt es, sich erst einmal in den nach diesem riesigen Vorwärtssprung erreichten Regionen festzusetzen.

Doch sollte das den Warschauern wohl gelingen, insbesondere wenn sie sich weiter um ausländische Besucher bemühen. Die Stadt hat schließlich gerade für Lauftouristen eine ganze Menge zu bieten. Und selbst wenn der Marathon bei weitem nicht alles davon zeigt und er andererseits unterwegs nicht nur optische Leckerbissen wie Paläste und Kirchen sondern auch eher eintönige lange Geraden zu bieten hat, ist die Laufstrecke ebenfalls keineswegs abschreckend.

Dazu kommen dann eben auch noch eine nahezu perfekte Organisation und ein Zieleinlauf, der seinesgleichen sucht. Und vielleicht wächst ja das Zuschauerinteresse in den nächsten Jahren ähnlich an wie zuletzt die Teilnehmerzahlen. Sicher ist es nicht leicht, eine Prognose für die Zukunft abzugeben. Aber in dieser Form kann der Maraton Warszawski sicherlich demnächst einen festen Platz unter den besten Marathon-Adressen in Europa finden.

Bericht und Fotos von Ralf Klink

Infos und Ergebnisse www.maratonwarszawski.com/en

Zurück zu REISEN + LAUFEN – aktuell im LaufReport HIER

© copyright
Die Verwertung von Texten und Fotos, insbesondere durch Vervielfältigung oder Verbreitung auch in elektronischer Form, ist ohne Zustimmung der LaufReport.de Redaktion (Adresse im IMPRESSUM) unzulässig und strafbar, soweit sich aus dem Urhebergesetz nichts anderes ergibt.