24. Riga Marathon - Lettland (18.5.2014)

Läuferfest in einer jungen alten Hauptstadt

von Ralf Klink

Eigentlich ist diese Hauptstadt im Norden Europas gar nicht so weit weg. Sie ist Berlin zum Beispiel geographisch näher als Paris oder London. Von Hamburg aus gesehen ist das Land, das von ihr aus verwaltet wird, auch nicht weiter entfernt als Irland, Schottland oder Norditalien. Und selbst aus dem weit südlich in der Republik gelegenen München muss man dorthin keineswegs länger fliegen als nach Mallorca. Doch wirklich wahrgenommen wird die Stadt kaum.

Denn es geht um Riga, die Hauptstadt Lettlands. Und dieses liegt im Baltikum, bei dem es sich - abgesehen von den Nachfolgestaaten des früheren Jugoslawiens auf der westlichen Balkanhalbinsel - um jene Region in Europa handelt, bei der hierzulande vermutlich die wenigsten Menschen alle Staaten und Hauptstädte auf einer Landkarte richtig zuordnen können. Von weitergehenden Kenntnissen über nationale Symbole wie Flaggen und Hymnen, über Sprachen, Kultur und Geschichte ohnehin ganz zu schweigen.

Die auch in Riga stehenden Bremer Stadtmusikanten sind genauso ein kleines, aber nettes Detail ... ... wie der über den Fluss Dugava (oder auf Deutsch "Düna") auf die Stadt blickenden Stahlmann… … das vierzig Meter hohe Unabhängigkeitsmonument ist dagegen kaum zu übersehen
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Schließlich hat niemand außer der letzten aufgewachsenen Generation Estland, Lettland und Litauen wirklich als unabhängige Nationen kennen gelernt. Davor gehörten sie dagegen - nicht unbedingt freiwillig - jahrzehntelang zur Sowjetunion. Kaum jemand, der in den Sechzigern, Siebzigern oder auch noch in den Achtzigern zu Schule gegangen ist, hätte sich wohl träumen lassen, dass es an der Ostseeküste einmal wieder diese drei Staaten geben würde und diese zudem auch noch Mitglieder von NATO und Europäischer Union wären. "Wieder geben" ist dabei die vollkommen richtige Formulierung. Denn in den zwanzig Jahren zwischen den beiden Weltkriegen war das Staaten-Trio schon einmal selbstständig. Im Gegensatz zu Polen, Ungarn, Tschechen und Slowaken, die zwar anschließend auch in den Einflussbereich Moskaus kamen, aber immerhin formaljuristisch ihre Eigenständigkeit bewahren konnten, wurden die Baltenrepubliken allerdings aufgelöst und von der UdSSR geschluckt.

Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks erklärten im Frühjahr 1990 alle drei Staaten, die - für diejenigen, die sie bisher nicht auseinander halten konnten, sei es noch einmal gesagt - von Nord nach Süd in der Reihenfolge des Alphabets aufgereiht sind, ihre Unabhängigkeit sei nun wieder hergestellt. Und nachdem ein gutes Jahr später wurde diese von der geschwächten und endgültig zerfallenden Sowjetunion dann auch anerkannt.

Genau im gleichen Jahr beginnt die Historie des Marathons von Riga. Irgendwie spielte bei dieser Premiere vielleicht im Hintergrund sogar ein bisschen Politik mit. Schließlich gehört zu einer Hauptstadt - und sei sie in ihrer Funktion noch so jung - inzwischen längst fast selbstverständlich auch ein internationaler Marathon. Seitdem wird das Rennen jährlich ausgetragen. Und da diese Reihe ununterbrochen ist, findet 2014 bereits die vierundzwanzigste Auflage statt.

Über die Düna hinweg präsentiert sich das Stadtpanorama von Riga mit den vielen Türmen von seiner schönsten Seite

Wie vielerorts ist der Wettbewerb über zweiundvierzig Kilometer aber eingebettet in ein recht umfangreiches Rahmenprogramm, das weitaus mehr Sportler anzieht als die längste Distanz. Ein Halbmarathon steht dabei genauso auf dem Plan wie Läufe über fünf und zehn Kilometer. Diese Vielfalt der Möglichkeiten hebt die Gesamtteilnehmerzahl weit in den fünfstelligen Bereich hinein und macht die Veranstaltung zu einem riesigen Läuferfest, das die Stadt gleich in mehrfacher Hinsicht bewegt.

Alleine auf der kürzesten angebotenen Strecke bringt man nämlich deutlich mehr als zehntausend Menschen aller Altersklassen auf die Beine. Um diese Massen zu bewältigen, gibt es deswegen gleich zwei Starts im Abstand von einer halben Stunde. Immerhin rund fünftausend Anmeldungen gehen außerdem für den doppelt so langen Zehner ein. Und beim Halbmarathon sind es auch noch weit über dreitausend Starter.

Dass der namensgebende Marathon dagegen eigentlich nur noch abfallen kann, ist angesichts solcher Werte beinahe selbstverständlich. Dennoch hat sich die Veranstaltung auch auf dieser Distanz zuletzt ziemlich gut entwickelt. Selbst wenn es etwas länger gedauert hat, denn noch vor wenigen Jahren dümpelte man bei etwa fünfhundert Marathonis herum, wird nun die Tausender-Marke klar übertroffen.

Verglichen mit hiesigen Größenordnungen erscheint dies im ersten Moment zwar noch immer nicht wirklich bemerkenswert. Im Vorjahr hätte es Riga jedenfalls in Deutschland nicht einmal in die Liste der zehn größten Marathons geschafft. Nach einem weiteren deutlichen Wachstum auf die neue Rekordzahl von fast fünfzehnhundert Zieleinläufen dürfen der Lauf in der lettischen Metropole diesmal immerhin aber noch einige weitere deutsche Marathons mittlerer Größe hinter sich lassen.

Für die richtige Einschätzung sollte man allerdings auch die relativ kleine Einwohnerzahl Lettland berücksichtigen, das auf seinem Territorium kaum mehr als zwei Millionen Menschen zählt. Da die Bevölkerung Estlands noch etliche hunderttausend Personen geringer, die von Litauen aber um etwa die gleiche Zahl größer ist, ergibt sich übrigens auch dahingehend eine schöne Aufreihung der drei Baltenrepubliken von Nord nach Süd. Und das Gleiche gilt zudem auch noch für die territoriale Ausdehnung des in seiner Struktur eigentlich gar nicht so komplizierten Trios.

Selbst wenn der Vergleich aufgrund völlig unterschiedlicher Voraussetzungen natürlich ein wenig schief gerät und angesichts weitgehend offener Grenzen in Europa ohnehin nur noch bedingt aussagekräftig ist, müsste man die Werte für Bevölkerung und Läufer schließlich nur einmal in Relation setzen, um den Riga Marathon in die gleiche Kategorie wie Berlin, London oder Paris einordnen zu können. Rom oder Madrid würde der lettische Marathon damit sogar klar übertreffen.

Dem Stadtwappen sieht man die frühere Zugehörigkeit Rigas zur Hanse durchaus an Der Jugendstil ist die dominierende Architektur im Stadtteil Centrs

Allerdings geht noch deutlich mehr. Denn diesbezüglich den eindeutig besten Quotienten liefern die Iren mit Dublin sowie die Skandinavier in Kopenhagen und Stockholm. In der dänischen Hauptstadt stehen nämlich einer Landesbevölkerung von etwas über fünf Millionen immerhin rund zehntausend Zieleinläufe gegenüber. Bei den schwedischen Nachbarn lauten die Daten gut neun Millionen zu fünfzehn- bis sechzehntausend. Und auf der grünen Insel, die noch ein paar Menschen weniger als Dänemark zählt, überquerten zuletzt sogar zwölftausend Läufer die Linie.

So gesehen hätte "Riga" - der Strich über einem Vokal zeigt im Lettischen an, dass dieser lang gesprochen wird - also durchaus noch Entwicklungspotential. Auch die Metropole selbst steht genau wie ihre baltischen Schwestern Tallinn und Vilnius schließlich bisher nicht unbedingt im Fokus des Städtetourismus. Dass alle drei Hauptstädte ziemlich gut erhaltene und sehenswerte historische Kerne haben, die sogar zum UNESCO-Weltkulturerbe gehören, hat sich noch nicht überall wirklich herum gesprochen.

Doch mit inzwischen über dreitausend Startern, die von jenseits der lettischen Grenzen zur Veranstaltung anreisen, zeichnet sich diesbezüglich beim Marathon von Riga zuletzt ebenfalls eine enorm positive Entwicklung ab. Dass dabei die beiden Nachbarländer Estland und Litauen mit jeweils etwa dreihundert Teilnehmern relativ starke Kontingente entsenden, ist dabei nicht unbedingt erstaunlich.

Dass die Finnen sogar eine noch größere Gruppe stellen und hinter den Letten Platz zwei belegen, wäre jetzt zwar nicht unbedingt die allererste Vermutung gewesen. Doch wirklich weit ist es aus Helsinki oder Turku natürlich nicht in die lettische Hauptstadt. Eine Verbindung mit Fähren, die im Verkehr zwischen den Großstädten rund um die Ostsee ansonsten eine wichtige Rolle spielen, gibt es zwar nicht dorthin. Doch bei den Direktflügen aus den beiden südfinnischen Metropolen ist man bis Riga kaum eine Stunde in der Luft.

Russland, das im Osten an Lettland grenzt, bildet den nächsten Ranglisteneintrag. Doch kaum weniger Läufer - nämlich beinahe zweihundertfünfzig - sind auch aus Deutschland angereist. Inzwischen ist Riga schließlich aus etlichen Städten problemlos mit Flugzeug zu erreichen. Lufthansa bietet pro Tag zwei Verbindungen von Frankfurt an. Und die lettische Air Baltic fliegt außer nach Frankfurt zudem auch noch nach Hamburg, Berlin, Düsseldorf und München. Weitere Ziele dieser Gesellschaft im deutschsprachigen Raum sind Wien und Zürich.

Der etwa zehn Kilometer westlich des Zentrums gelegene Flughafen von Riga ist - hier ist die erste Ausnahme zur Nord-Süd-Aufreihung - allerdings auch eindeutig der größte im gesamten Baltikum. Angebunden an die Stadt ist "RIX" - so das internationale Kürzel des Landeplatzes - zwar nur mit einer einzigen Buslinie. Doch angesichts der nicht allzu großen Entfernung kostet auch eine Taxifahrt bis zur Innenstadt nur etwa fünfzehn Euro und ist damit noch durchaus erschwinglich.

Hochmodern präsentieren sich am linken Flussufer der Turm der Swedbank (links) und die neue Nationalbibliothek

An Unterkünften herrscht dort wahrlich kein Mangel. Nicht nur aus Dutzenden sondern fast schon aus Hunderten von Hotels kann man im Umkreis von wenigen Kilometern auswählen. Die Preise sind dabei für mitteleuropäische Verhältnisse eigentlich erstaunlich niedrig. Und von dem, was man bei den skandinavischen Nachbarn jenseits der Ostsee für ein Zimmer mit vergleichbarem Standard zu bezahlen hätte, sind sie noch viel weiter entfernt.

Mit dem Marathon verhält es sich nicht anders. Auch hier liegt man in Riga etwas unter dem Niveau vergleichbarer Veranstaltungen hierzulande. Denn selbst bei einer Nachmeldung am Rennwochenende sind neunundvierzig Euro wirklich nicht unbedingt überzogen. Und wer sich am Jahresanfang einschreibt, muss lediglich fünfunddreißig Euro für einen Start beim vollen und zweiundzwanzig für eine Teilnahme am halben Marathon bezahlen.

Die Gebühren davor waren noch etwas niedriger. Doch wurden sie in "Lats" und nicht in "Euro" angegeben. Denn mit dem Jahreswechsel hat Lettland als achtzehntes Land die europäische Gemeinschaftswährung eingeführt. Schon seit Ende 2007 sind die baltischen Länder auch in den Schengen Raum integriert, so dass keinerlei Grenzkontrollen mehr anfallen. Nach Lettland reist es sich aus technischer Sicht nun also endgültig nicht mehr anders als nach Belgien oder in die Niederlande. Wer hätte dies vor einem Vierteljahrhundert zu prophezeien gewagt?

Und man bemüht sich durchaus eifrig darum, den langsam anlaufenden Tourismus weiter zu beleben und auch aus den weiter westlich gelegenen Teilen Europas mehr Besucher ins Land zu locken. Alleine die Internetseite des Riga Marathons bietet zum Beispiel stolze zehn Möglichkeiten zur Sprachauswahl. Neben Versionen für die direkten Nachbarn stehen dort unter anderem noch die Optionen Deutsch, Italienisch, Französisch oder Spanisch zur Verfügung, die keineswegs den Eindruck machen, durch den Versuch einer automatische Übersetzung entstanden zu sein.

Während die Statue des Stadtheiligen "Kristaps" schon lange an der Uferpromenade steht sind die überall in der Stadt verteilten, überdimensionalen bunten Schnecken eine Aktion wegen der Auswahl Rigas zur "europäischen Kulturhauptstadt 2014"

Aber längst nicht alle bieten dann wirklich auch sämtliche Informationen des Originals. Die Ausgestaltung hat durchaus unterschiedliche Tiefe. Doch dürfte es auch nahezu unmöglich sein, zehn verschiedene Alternativen gleichzeitig immer auf dem neuesten Stand zu halten. Jedenfalls endet man oft bereits mit den ersten Link hinter der durchaus aussagekräftigen Einstiegsseite wieder in der englischen Variante, die dann allerdings wirklich alles abdeckt.

Nicht einmal fünfundzwanzig Jahre nach der Loslösung von der Sowjetunion hat längst Englisch das Russische als führende Fremdsprache abgelöst. Die Letten haben auch in dieser Hinsicht eine wirklich erstaunlich schnelle Wende vollzogen. Und wie so häufig bei kleineren Nationen, die nicht davon ausgehen können, dass jemand sich mit ihnen in der eigenen Sprache verständigen wird, sind die Kenntnisse insbesondere unter den Jüngeren ziemlich gut.

Das gilt längst nicht nur für Hotels oder Tourismusinformationen, wo es inzwischen eigentlich für die Mitarbeiter fast zum Standard gehört, mindestens eine, besser aber noch zwei oder drei Fremdsprachen zu beherrschen. Auch bei Begegnungen auf der Straße schwenken viele der Einheimischen augenblicklich ins Englische hinüber, wenn sie nach einer auf Lettisch gestellten Frage nur ein verständnisloses Schulterzucken als Antwort erhalten.

Einen Rigaer kann es andererseits aber auch nicht überraschen, dass es sich bei den mit Kamera und Stadtplan herum laufenden Besuchern nicht um Letten handelt. Die Wahrscheinlichkeit, einem Touristen zu begegnen, der aus Lettland kommt, ist eigentlich sogar ziemlich gering. Über ein Drittel der Bevölkerung des Landes ist nämlich alleine in der Hauptstadt ansässig. Rund um die touristischen Brennpunkte bekommt man deswegen dann auch ein ziemlich buntes Sprachegemisch zu hören.

Der Rest des lettischen Territoriums ist dagegen eher dünn besiedelt. Daugavpils als zweitgrößte Stadt schafft es zum Beispiel gerade einmal auf hunderttausend Einwohner. Und abgesehen von Norwegen, Schweden und Finnland mit ihren endlosen Wäldern, Seen und Tundraflächen hoch im Norden ist die Bevölkerungsdichte in ganz Europa nirgendwo geringer als in den drei baltischen Republiken.

Denn obwohl diese aus einer Mischung von Unkenntnis und Fehleinschätzung heraus von den meisten wohl eher in die Rubrik "Kleinstaaten" einsortiert würden, gehören sie hinsichtlich ihrer räumlichen Ausdehnung mitnichten in die gleiche Kategorie wie zum Beispiel Luxemburg. Vielmehr ist jeder einzelne aus dem Trio größer als Belgien, Dänemark, die Schweiz oder die Niederlande. Und von den deutschen Bundesländern kann einzig und allein Bayern die Fläche Lettlands übertreffen.

Die Nationaloper (links) und das Nationaltheater (mitte) gehören zu den auffälligsten Gebäuden entlang des Anlagenrings, der die mittelalterliche Altstadt von der durch den Jugendstil geprägten ersten Stadterweiterung trennt

Mit seinen ungefähr siebenhunderttausend Einwohnern ist Riga auch - wieder eine Abweichung von der dann doch nicht allgemeingültigen Nord-Süd-Regel - die größte Metropole des Baltikums. Das eigentliche Zentrum ist aber dennoch eher klein und übersichtlich. Praktisch alle Sehenswürdigkeiten befinden sich in einem Radius von nicht einmal zwei Kilometern rund um den Stadtkern und sind innerhalb einer Viertelstunde zu Fuß erreichbar. Um Riga zu erkunden braucht man eigentlich keine öffentlichen Verkehrsmittel.

Selbst das neue "Olimpiskais sporta centrs", in dem die Teilnehmer freitags und samstags ihre Startnummern in Empfang nehmen können, befindet sich schon ein Stückchen außerhalb in einem ebenfalls unverkennbar ziemlich neuen Gewerbegebiet. Dabei braucht man von den wichtigsten Plätzen der Altstadt nicht länger als eine halbe Stunde, um einigermaßen gemütlich dorthin zu spazieren.

Beim "Olympische Sportzentrum" - eine noch relativ leicht aus dem Lettischen zu übersetzende Bezeichnung - handelt es sich um einen Komplex aus mehreren Sporthallen, Kraft- und Fitnessräumen sowie einem Schwimmbecken, das dem lettischen NOK unter anderem als Trainingszentrum für seine Kaderathleten dient. Zwar ist Lettland alles andere als eine sportliche Großmacht. Doch hat man in den zwei Jahrzehnten seit der erneuten Unabhängigkeit immerhin rund zwei Dutzend olympische Medaillen erreicht.

Da es sich dabei allerdings nicht selten um wenig publikumswirksame Disziplinen wie Kanurennsport, Gewichtheben, Judo oder Modernen Fünfkampf handelte, erinnern sich außerhalb Lettlands höchsten noch absolute Spezialisten daran. Dass der erfolgreichste Olympionike des Landes ausgerechnet Maris Štrombergs heißt, ist durchaus bezeichnend. Denn seine beiden Goldplaketten von Peking und London gewann er im hierzulande absolut exotischen BMX-Rennen.

Viel eher nimmt man lettische Athleten dank der exzessiven Wintersport-Übertragungen im hiesigen Fernsehen deswegen dann auch in der kalten Jahreszeit wahr. Der noch zu Sowjetzeiten errichtete Eiskanal bringt nämlich regelmäßig das von Riga nur fünfzig Kilometer entfernten Sigulda als Weltcuport ins Gespräch sondern sorgt auch immer wieder dafür, dass Rodler, Bobfahrer oder Skeletonsportler aus Lettland in der Weltspitze mitmischen können, um Medaillen kämpfen und immer wieder einmal auch einige davon mit nach Hause nehmen.

Als Leichtathleten wurde neben den Speerwerfern beiden Vadims Vasilevskis und Ainars Kovals bisher nur der Geher Aigars Fadejevs mit olympischem Edelmetall bedacht, der sich in Sydney über fünfzig Kilometer Silber sichern und damit an eine Tradition aus den Dreißigerjahren anknüpfen konnte, als mit Janis Dalinš und Adalberts Bubenko bereits zwei weitere Letten auf dieser Distanz eine Medaille gewannen.

Selbst wenn im Gegensatz dazu die Langstreckenläufer des noch so jungen Landes im Nordosten Europas bisher weder bei Olympia noch bei Welt- oder Europameisterschaften irgendwelche Meriten vordienen konnten, gibt es dennoch zumindest eine lettische Athletin, die trotzdem tiefe Spuren in der Szene hinterlassen hat. Denn wer gleich zweimal den New York Marathon gewinnen kann, zählt in dieser Disziplin eindeutig zu den internationalen Stars.

Die deutsche Botschaft in der alten, neuen Hauptstadt ist in einem durchaus auffälligen Altbau mitten im Stadtzentrum eingezogen Das wiederaufgebaute Schwarzhäupterhaus hat sich innerhalb weniger Jahre zum unverwechselbaren Wahrzeichen der Stadt entwickelt

Jelena Prokopcuka lief sich im "Big Apple" sowohl 2005 als auch 2006 auf die oberste Position des Siegerpodestes. Und noch zwei weitere Male - zuletzt im Jahr 2013 - stand sie dort auf der dritten Stufe. Auch zwei Vizeplätze beim Klassiker in Boston stehen in ihrer sportlichen Vita. Und bei ihrem Erfolg im Frauenmarathon von Osaka lief erzielte sie Anfang 2005 mit 2:22:56 den noch immer gültigen Landesrekord.

Wenn eine Sportlerin praktisch ein volles Jahrzehnt lang mit schöner Regelmäßigkeit in New York und Boston, in Chicago und London ins Preisgeld läuft, ist es durchaus nachvollziehbar, dass sie bisher noch nicht als Siegerin des Marathons ihrer Heimatstadt in den Listen steht. Schließlich ist diese Veranstaltung zum einen weit weniger prestigeträchtig, zu anderen aber eben auch deutlich niedriger dotiert.

Immerhin hat sie in den letzten beiden Jahren jeweils den angeschlossenen Halbmarathon gewonnen. Dass Prokopcuka, die beginnend mit der Dreitausend-Meter-Distanz sowohl auf der Bahn als auch auf der Straße sämtliche zur Zeit aktuellen lettischen Bestleistungen selbst erzielt hat, dabei auch einen neuen Streckenrekord erzielte, erscheint beinahe schon selbstverständlich. Und 2014 steht die Ausnahmeathletin ebenfalls wieder in der Startliste über einundzwanzig Kilometer.

Während Jelena der Erfolg bei ihrem Heim-Marathon noch fehlt, taucht in den Neunzigern als Sieger gleich zweimal ein gewisser "Aleksandrs Prokopcuks" in den Annalen von Riga auf, bei dem es sich um niemand anderen als den Ehemann handelt. Die Namen sind unterschiedlich, weil es im Lettischen ähnlich wie im Lateinischen oder den slawischen Sprache keine Artikel gibt. Deswegen bildet die lettische Grammatik Fall und Geschlecht eines Begriffes über jeweils andere Endungen ab.

Mit einer 1995 in Karlsruhe erzielten 2:15:56 war Aleksandrs Prokopcuks ebenfalls viele Jahre lang Landesrekordler. Es dürfte sicher eine ziemlich einzigartige Konstellation darstellen, dass gleich beide Marathonbestmarken eines Landes für rund ein Jahrzehnt in einem einzigen Haushalt vereint sind. Erst als Valerijs Žolnerovics 2013 in Frankfurt eine 2:14:33 lief, wurde Prokopcuks Zeit, die international natürlich viel schwächer ist als die seine Frau, endlich geknackt.

An vielen Stellen öffnen sich in der engen Altstadt kleine gemütliche Plätze

Im Olympia-Leistungszentrum ist die Fußballhalle für die Startnummernausgabe und die dazu gehörende Expo reserviert. Im Frühling, der am Marathonwochenende mit Sonnenschein und Temperaturen über der Zwanzig-Grad-Marke seine Anwesenheit ziemlich eindeutig zu erkennen gibt, wird diese schließlich nicht mehr unbedingt benötigt. Das sieht in den Wintermonaten allerdings ganz anders aus. Denn dann sind zehn Grad unter null beinahe normal und auch zwanzig Grad minus keine Seltenheit.

Allerdings ist Fußball zumindest hinsichtlich des Publikumsinteresses ohnehin nicht die Sportart Nummer eins in Lettland. Diese Rolle kommt dem Eishockey zu. Während sich die baltischen Kicker bisher erst ein einziges Mal für ein internationales Turnier - die Europameisterschaften 2004 - qualifizieren konnten, sind die lettischen Kufenstars Stammgäste bei Weltmeisterschaften und seit den späten Neunzigern ununterbrochen jedes Jahr dabei, wenn es um Medaillen geht, auch wenn man dabei bisher noch nicht in deren Nähe gekommen ist.

Einmal, nämlich 2006, durfte Lettland sogar die Titelkämpfe selbst ausrichten. Seitdem gibt es die "Arena Riga", die genau gegenüber des Olympiazentrums steht und bei Eishockey-Spielen über zehntausend Zuschauern Platz bietet. Das größte Fußballstadion des Landes, das sich - nicht gerade überraschend - ebenfalls in Riga und weniger als einen Kilometer entfernt von der Eishalle findet, fasst nur zum Vergleich dagegen etwa tausend Menschen weniger.

So wundert es dann auch kaum, dass sich an diesem Samstagmittag kaum jemand lange bei der Startnummernausgabe aufhält. Denn kurz vor ein Uhr beginnt das WM-Spiel gegen Russland. Das ohnehin nicht besonders gute Verhältnis zum großen Nachbarn ist nach dessen Expansionsbestrebungen Richtung Ukraine, die bei den Balten ziemlich schlechte Erinnerungen hochkommen lässt, im Frühjahr 2014 natürlich noch ein wenig stärker angespannt. Und so bekommt die Jagd nach dem Puck diesmal unterschwellig eine über den Sport weit hinaus gehende Bedeutung.

Unter diesen Voraussetzungen versucht man natürlich so schnell wie möglich zurück zu einem Fernseher zu kommen. Und wer es nicht nach Hause schafft, sieht sich das Spiel eben in der Cafeteria des Olympiazentrums an. Als die Hoffnung, dem scheinbar übermächtigen Gegner tatsächlich die Stirn bieten zu können, durch das 1:0 der Letten Nahrung erhält, ist der Jubel bis in die Fußballhalle nebenan zu hören. Am Ende kommt aber doch eine 1:4 Niederlage heraus, die nicht wirklich unerwartet ist und deswegen auch Lettland nicht in tiefe Depression stürzt.

Im Gegensatz zum Gedränge, das man auf vielen anderen Marathonmessen erleben kann, wäre allerdings auch bei Anwesenheit der Eishockey-Fans auf dem Kunstrasen ziemlich viel Platz vorhanden. Denn nur wenige Aussteller verteilen sich auf ziemlich großen Raum. So haben einzig und allein die beiden Marathons aus den Nachbarhauptstädten Vilnius und Tallinn einen Stand aufgebaut, um für ihre Veranstaltung Reklame zu machen.

Durch die engen Gassen Rigas kann man sich viel Stunden treiben lassen und stößt dabei doch immer wieder auf neue interessante Detail, wie zum Beispiel die bekannte Häusergruppe der "Drei Brüder" (mitte)

Der Umgang der direkt nebeneinander postierten Werbegrüppchen ist durchaus freundschaftlich. Dass die Rennen diesmal allerdings genau den gleichen Septembertag als Austragungstermin gewählt haben, deutete allerdings trotzdem nicht gerade darauf hin, dass man sich im Vorfeld gut miteinander abgestimmt hat. Sowohl mit ihren potentiellen Kunden als auch untereinander müssen sich die beiden auffallend jungen Teams auf Englisch unterhalten.

Denn obwohl "die Balten" von außen im Allgemeinen als Einheit gesehen werden und sich zumindest in geographischer und politischer Hinsicht auch selbst so verstehen, gibt es zwischen ihnen ethnisch, sprachlich und kulturell eine klar definierte Abgrenzung. Denn die Esten sind eng mit den Finnen auf der anderen Seite des nach diesen benannten Meerbusens verwandt. Die Sprachen beider Völker sind mit ein wenig Anstrengungen sogar einigermaßen gegenseitig verständlich.

Doch ansonsten sind diese weitgehend isoliert. Sie gehören nicht einmal zur indoeuropäischen Sprachfamilie, die ansonsten auf dem Kontinent dominiert, sondern haben abgesehen vom - allerdings schon ziemlich weit entfernten Ungarischen sowie den nur von wenigen zehntausend Menschen benutzten samischen Dialekten in Nordskandinavien - ihre nächsten Verwandten in den sibirischen Weiten jenseits des Urals.

Lettisch und Litauisch gehören hingegen zu einem tatsächlich "baltisch" genannten Zweig des Indoeuropäischen. Ein halbes Dutzend ebenfalls dazu zählender, noch im späten Mittelalter im östlichen Ostseeraum beheimateter ähnlicher Sprachen ist inzwischen ausgestorben. Allerdings sind die beiden letzten übrig gebliebene Vertreter ihrerseits wieder so unterschiedlich, dass eine direkte Verständigung der jeweiligen Sprechern miteinander kaum möglich ist und auch diese auf eine gemeinsame Basis - früher meist Russisch, heute Englisch - ausweichen müssen.

Zusammen mit den großen germanischen, romanischen und slawischen Unterfamilien, den immer stärker zurück gedrängten keltischen Idiomen sowie Griechisch und Albanisch, die für sich alleine jeweils eine eigenständige Gruppe darstellen, bilden die baltischen Sprachen den europäischen Ableger der wirklich auf der anderen Seite bis nach Indien reichenden Gruppe. Aufgrund vieler ziemlich archaischer Elemente halten Linguisten Lettisch und insbesondere Litauisch der gemeinsamen Wurzel sogar für besonders nahe stehend.

Wegen des relativ großen Abstands des Lettischen zu den anderen Unterfamilien hat man anders als im germanischen oder romanischen Sprachraum als Besucher dann auch relativ wenige Möglichkeiten, auch ohne die Sprache wirklich erlernt zu haben, zumindest durch Analogien irgendwelche Dinge zu verstehen. Selbst der Klang ist im ersten Moment ziemlich ungewohnt. Manchmal erinnert es durchaus ein wenig an die slawische Nachbarschaft. Doch dann hört sich die Betonung ab und zu auch wieder eher skandinavisch an.

Ein wenig außerhalb des eigentlichen Stadtkernes findet man die Startnummernausgabe im neu errichteten "Olimpiskais sporta centrs"

Am Renntag spielt das hochmoderne Sportzentrum dann jedoch keine Rolle mehr. Nur die Marathonläufer bekommen es von ihrer Strecke überhaupt zu Gesicht. Alle anderen Kurse machen dagegen einen großen Bogen um den Komplex. Das Herz des Riga Marathons schlägt vielmehr direkt neben der Altstadt am Ufer der Daugava. Dieser im Deutschen oft auch als "Düna" bezeichnete Strom teilt die lettische Metropole in zwei Hälften und mündet nur wenige Kilometer nördlich des Start- und Zielgeländes in die Ostsee.

Zwar kommt der Fluss ursprünglich aus Russland und verbringt nur etwas mehr als ein Drittel seines über tausend Kilometer langen Weges von der Quelle bis zum Meer auf lettischem Territorium. Doch da die Daugava praktisch das halbe Land von Ost nach West durchzieht und auch mit Abstand das größte Fließgewässer ist, hat sie für die Letten als eine Art "Nationalstrom" trotzdem hohe emotionale Bedeutung.

Die in diesem Abschnitt sechs bis acht Fahrspuren umfassende Uferstraße lässt selbst den Start eines mehrtausendköpfigen Feldes problemlos zu. Praktisch nirgendwo sonst im Stadtkern von Riga lässt sich eine ähnlich weit ausgreifende asphaltierte Fläche finden. Und da sie diese Breite zu allem Überfluss für mehr als einen halben Kilometer beibehält, bleibt im rückwärtigen Bereich auch für die Zielversorgung noch ausreichend Raum.

Der angrenzenden Grünstreifen lässt sich außerdem zum Aufbau kleinerer Zelte zweckentfremden. Und in der gleich dahinter beginnenden, weitgehend autofreien Altstadt kann man auch dort noch einige Plätzchen und Gassen in Beschlag nehmen, die für sich genommen viel zu eng zur Abwicklung wären. Mit diesem absolut zentral gelegenen, aber trotzdem ziemlich weiträumigen Gelände haben die Organisatoren sicher nicht die schlechteste Wahl getroffen.

Fast genau auf Höhe der Startlinie steht zwischen Uferstraße und Fußgängerpromenade ein Glaskasten am Wasser, mit dem die überlebensgroße, hölzerne Statue des Rigaer Schutzpatrons Christoph - der lettische Name des Heiligen lautet "Kristaps" - vor den Unbilden der Witterung geschützt werden soll. Auf den Schultern der Figur sitzt ein kleines Kind, womit man auf die Gründungslegende der Stadt anspielt.

In der weiträumigen Fußballhalle des "Olympischen Sportzentrums" bekommt man seine Unterlagen Angesichts der vielen verschiedenen Kurse dieses sich über den ganzen Tag hinziehenden Läuferfestes kann ein Blick auf den Streckenplan nicht schaden

Eines Nachts soll der in einer Hütte am Fluss wohnende Fährmann nämlich auf der anderen Seite ein Kind weinen gehört haben. Er habe sich zu Fuß durch die Daugava gearbeitet und es anschließend mit einer erneuten Querung des Stromes in seine Hütte getragen, wo beide erschöpft eingeschlafen wären. Am nächsten Morgen nach dem Aufwachen sei das Kind verschwunden gewesen. Doch dafür hätte dort ein großer Beutel voll mit Gold gelegen. Mit diesem Schatz sei später die Stadt Riga gebaut worden.

In Wahrheit wurde Riga im Jahr 1201 von Albert von Buxhoeveden gegründet, der vom Papst zum "Bischof von Livland" ernannt worden war und im noch nicht christianisierten Baltikum missionieren sollte. Militärisch standen ihm dabei die Ritter des Schwertbrüderordens zur Seite, die ihrem Auftrag nicht nur mit dem Wort sondern eben häufig auch mit dem im Namen ihrer Gemeinschaft auftauchenden Waffe ausführten.

Später ging er im Deutschen Orden auf, der zu seiner Blütezeit im frühen fünfzehnten Jahrhundert mit seinem Ordensstatt praktisch die komplette Region vom östlichen Pommern bis zum Norden Estlands beherrschte. Riga war einer seiner wichtigsten Stützpunkte. Das Rigaer Schloss, das neben dem Start an der Altstadtseite aufragt, ist dann auch ursprünglich aus einer mittelalterlichen Ordensburg entstanden.

Nun dient es unter anderem wieder als Residenz des lettischen Präsidenten. Allerdings findet sich das Nationalmuseum ebenfalls in der Anlage - eine sicher ungewöhnliche und in größeren Staaten ziemlich schwer vorstellbare Kombination. Nach einem schweren Brand im Vorjahr muss "Rigas pils" nun allerdings erst wieder aufwendig restauriert werden. Größere Teile des Gebäudes sind deswegen auch komplett eingerüstet und wenig ansehnlich.

Auf dem Platz hinter dem Schloss ist ein großes Zelt aufgebaut, an dem man seine Kleiderbeutel deponieren kann. Daneben steht die Muttergotteskirche, eines der größten katholischen Gotteshäuser in der Hauptstadt des tendenziell eher protestantischen Lettland. Und auch alle anderen Gebäude rundherum haben eine lange Historie. Wohl nur wenige Konkurrenten des Marathons von Riga haben im internationalen Vergleich eine optisch ähnlich ansprechende Stelle als Garderobe ausgewählt.

Angesichts bereits am frühen Morgen recht angenehmer, weil zweistelliger Temperaturen ist aber ohnehin von vorne herein nicht allzu viel Wechselbekleidung nötig. Und bis zum letzten Augenblick muss man schon gar nicht zögern, um sich ihrer zu entledigen. Dank der sich daraus ergebenden Verteilung der Abgabe über einen längeren Zeitraum betragen die Wartezeiten trotz der im ersten Moment abschreckend langen Schlangen nur wenige Minuten.

Wohl nur wenige Marathons haben im internationalen Vergleich eine optisch ähnlich ansprechende Stelle für die Kleiderbeutelabgabe ausgewählt wie Riga mit dem Schlossplatz

Auch die Größe der zusammen mit den Startnummern verteilten Beutel ist völlig ausreicht. Die ebenfalls beiliegenden Aufkleber halten auf ihnen allerdings eher schlecht auf den vorgesehen Stellen. Denn so zweckmäßig die Nylonsäcke im Gegensatz zu Brüdern aus dickem Plastik in der späteren Verwendung auch sein mögen, als Unterlage für ein Klebeetikett ist das Material denkbar ungeeignet. Zur Sicherheit malen die Helfer dann die Zahlenkombination beim Einsortieren lieber noch einmal mit einem Filzstift auf.

Es ist allerdings nur ein kleiner Lapsus in einer sonst ziemlich makellosen Organisation. So sind wie in der gesamten Innenstadt Abstellflächen für Autos zwar selbst in größerem Umkreis rund um den Startbereich ziemliche Mangelware. Doch dafür haben die Veranstalter an etwas anderes gedacht. Es gibt auf dem "Pils laukums", dem Schlossplatz nämlich einen eingezäunten Bereich, der hunderten von Teilnehmern des Laufes als sicherer Verwahrungsort für ihre Fahrräder dient. Einen bewachten Radparkplatz bei einem Marathon sieht man nun wirklich eher selten.

Wer dort einen Stellplatz haben möchte, darf allerdings nicht zu spät sein. Denn zum einen ist der vorhandene Raum natürlich irgendwo begrenzt. Doch ist der Start von Voll- und Halbmarathon eben auch schon für halb neun am Morgen angesetzt. Nach europäischem Standard erscheint dies erst einmal relativ früh. Verglichen mit den Uhrzeiten zu denen Laufveranstaltungen auf anderen Kontinenten häufig beginnen, ist es allerdings beinahe noch etwas für Langschläfer.

Vier Wochen vor der Sommersonnenwende muss man sich in einer Stadt, die auf der gleichen geographischen Höhe wie Südschweden oder der nördlichste Zipfel Dänemarks liegt, auch keinerlei Sorgen um fehlende Helligkeit machen. Denn schon Mitte Mai steht die Sonne von fünf Uhr morgens bis zehn Uhr abends über dem Horizont. Nimmt man die Dämmerung noch hinzu, wird es an der Daugava um diese Jahreszeit gerade einmal eine Handvoll Stunden wirklich dunkel.

Zu berücksichtigen ist jedoch, dass Lettland genau wie seine baltischen Nachbarn oder Finnland der Mitteleuropäischen Zeit um eine Stunde voraus ist. Für die zum Marathonwochenende aus dem Westen nach Riga gereisten Gäste wird die Nacht also nach der inneren Uhr noch eine Stunde kürzer als für die Einheimischen. Angesichts der relativ kurzen Anmarschwege im kleinen Hauptstadtkern dürfte es aber trotzdem weniger an der Startzeit als an zu großer Nervosität liegen, wenn man vor dem Rennen nicht genug Schlaf bekommt.

Für die Läufer über zehn Kilometer wird es dann aber erst vier Stunden nach dem Marathonstart ernst. Und über fünf Kilometer wird die erste Startwelle um halb zwei, die nächste sogar erst um zwei Uhr auf die Strecke gelassen. Fast den ganzen Tag über bestimmen also Menschen mit kurzen Hosen, bunten Trikots und Startnummern auf dem Bauch das Geschehen im Zentrum der lettischen Metropole.

Wie viel Engagement und Begeisterung hinter dem Marathon von Riga steckt, lässt sich unter anderem an Details wie einem bewachten Fahrradparkplatz oder den im Sportdress kommentierenden Fernsehmoderatoren erkennen

Die Nummern haben zur besseren Unterscheidung verschiedene Hintergrundfarben. Rot-orange steht für den vollen Marathon, grün für den halben. Beim Zehner sind Zahlenkombinationen blau unterlegt und beim Fünfer hat man gelb gewählt. Für sich alleine wäre dies nicht unbedingt erwähnenswert, schließlich verfährt man bei hunderten von anderen Laufveranstaltungen weltweit ganz genauso.

Viel seltener - wenn auch nicht völlig einzigartig - ist jedoch, dass sich diese Farben überall durchziehen. So sind auch die Kilometerschilder der jeweiligen Distanzen in der entsprechenden Tönung gehalten. Und die Bänder der im Ziel verteilten Medaillen werden später ebenfalls farblich auf dieses System abgestimmt sein, so dass man schon auf große Entfernung erkennen kann, in welchem Wettbewerb sie verdient wurde.

Ja sogar die Luftballons der ziemlich zahlreichen Tempomacher - mehrere Dutzend von ihnen sind im Einsatz - sind für die einundzwanzig Kilometer grün und für die doppelt so lange Strecke orange. Dass bei einem gemeinsamen Start zum Beispiel die Gruppen zwei Stunden für dem halben und vier Stunden für den vollen Marathon erst einmal zusammen loslaufen, steht dann auf einem ganz anderen Blatt.

Umgekehrt scheiden Farben deswegen zur Unterscheidung der verschiedenen Startgruppen der einzelnen Rennen aus. Denn die Aufstellungszone ist nicht nur fein säuberlich mit Gittern abgesperrt, man hat sie auch in Blöcke eingeteilt, zu denen der Zugang von Ordnern recht genau kontrolliert wird. Als Sortierungskriterium dienen ihnen Nummernkreise, denn mit einer niedrigen Zahl darf man in ersten Bereich. Mit einer höheren muss man sich weiter hinten anstellen.

Nach welchen Kriterien die Zuordnung jedoch erfolgt ist, lässt sich auf den ersten Blick nicht unbedingt nachvollziehen. Wenn man sich ein bisschen umsieht, können es sie angestrebten Laufzeiten alleine eigentlich nicht gewesen sein. Vielmehr macht es den Eindruck, als ob man allen internationalen Gästen - oder zumindest den Marathonläufern unter ihnen - vollkommen unabhängig von ihrer Leistungsfähigkeit einen Platz vorderen Block zugestanden hätte.

Die breite Uferstraße an der Daugava bietet sich als Startbereich geradezu an

So ist die erste Startgruppe in ihrer Zusammensetzung noch deutlich bunter als es die im Vorfeld verkündeten Gesamtzahlen erwarten lassen. Allerdings steigt der Anteil der Nichtletten nicht unbedingt überraschend mit zunehmender Streckenlänge auch deutlich an. Beim Halbmarathon beträgt er bereits rund ein Viertel. Und beim Marathon besteht sogar etwa die Hälfte aller Teilnehmer aus Lauftouristen. Der Ansager gibt sich redlich Mühe, diese in mehr als einem halben Dutzend verschiedener Sprachen in Riga willkommen zu heißen.

Das gelingt ihm, soweit es sich beurteilen lässt, sogar meist einigermaßen klar und akzentfrei. Doch klingen die dabei zu hörenden Sätze keineswegs immer nach freier Rede sondern häufig eher auswendig gelernt oder abgelesen. Und selbst wenn es eigentlich sogar positiv und als direktes Zugehen auf die einzelnen Gruppen gemeint ist, sind die dabei für jedes einzelne Land gewählten speziellen Formulierungen nicht unbedingt gelungen.

Sie verwenden nämlich oft ziemlich plumpe Stereotype. Die in der deutschsprachigen Begrüßung fallenden Aussagen, dass man sich beim Riga Marathon "wie auf einer Autobahn fühlen" und dann hinterher "wie beim Oktoberfest feiern" wird, sind jedenfalls, wenn man kurz über sie nachdenkt, wenig schmeichelhaft. Es mag ein wenig überspitzt sein, aber man kann sich durchaus schönere Charakterisierungen vorstellen als "Raser" und "Säufer".

Ungewollt zeigen diese Sätze auf, welches Bild man in der gar nicht so fernen europäischen Nachbarschaft abgibt, mit der man historisch doch eigentlich eng verwoben ist. So etwas hätte man vielleicht dann doch eher aus dem Mund eines von tieferen Kenntnissen über den alten Kontinent weitgehend befreiten Amerikaners erwartet, dem zum Begriff "Germany" wirklich nicht anderes einfällt als "Autobahn" und "Oktoberfest".

Der Nachholbedarf scheint groß. Allerdings dürfte er - um wieder auf die Eingangsabsätze zurück zu kommen - in umgekehrter Richtung noch viel, viel größer sein. Hierzulande hätte schließlich weder zu Lettland im Speziellen noch zum Baltikum im Allgemeinen praktisch niemand überhaupt irgendein Stereotyp - und sei es auch noch so plump - parat.

Der Blumenkranz, den lettische Frauen und Mädchen gerade im Frühjahr und Sommer im Haar tragen, wäre vielleicht eines. Beim genau wie in Skandinavien im Baltikum groß gefeierten Mittsommerfest - der Johannistag ist in allen drei Republiken ein gesetzlicher Feiertag, in Lettland zudem auch der Vortag - gehören sie sogar zur Pflichtausstattung. Während hierzulande solche Traditionen unter jungen Leuten längst als "rückständig" verpönt sind, erleben sie bei ihren baltischen Altersgenossen seit der wiedererlangten Unabhängigkeit eine echte Renaissance.

Einen Kilometer, nachdem man "Vanšu tilts", die "Seilbrücke" unterquert hat, biegt die Strecke in "Hanzas iela", die "Hansestraße" ab

Nicht nur neben sondern auch auf der Strecke lassen sich die Kränze an diesem Tag durchaus häufiger auf den Köpfen entdecken. Selbst die Fernsehmoderatorin, die gemeinsam mit ihrem männlichen Kollegen direkt neben der Startaufstellung ihre Ansagen vor der Kamera macht, hat sich einen von ihnen aufgesetzt. Beide kommentieren übrigens im Sportdress. Und obwohl dieses vielleicht wirklich nur um der Optik willen ausgewählt wurde, wäre es so unwahrscheinlich am Ende auch nicht, wenn sie sich später ebenfalls ins Starterfeld einreihen würden.

Ein anderes Stereotyp, dass einem zum Baltikum einfallen könnte, wäre die Vorliebe für den Gesang. Vielleicht nirgendwo sonst in Europa oder gar der Welt gibt es im Verhältnis zur Bevölkerungszahl eine ähnlich hohe Chordichte. Alleine während der inzwischen wieder in allen drei Ländern im Fünfjahresrhythmus ausgerichteten nationalen Sängerfeste geht die Zahl der Aktiven jeweils in die Zehntausende. Selbst die UNESCO hat diese Feste als "immaterielles Kulturerbe" geadelt.

Auch bei der Lösung von der Sowjetunion spielte der Gesang eine große Rolle. Dieser mehrere Jahre dauernde Prozess wird deswegen als die "Singende Revolution" bezeichnet. Die sozialistischen Machthaber hatten nicht nur die früheren Nationalhymnen sondern zudem viele andere Volkslieder, die von Freiheit, Unabhängigkeit oder auch nur der Schönheit Estlands, Lettlands oder Litauens handelten, streng verboten. Bereits deren Erwähnung als eigenes "Land" galt Moskau schließlich als Bedrohung des Herrschaftsanspruches.

Eines der Anzeichen für den zunehmenden Widerstand gegen die Besetzung war deswegen, dass genau diese patriotischen Lieder Ende der Achtziger als Akt des zivilen Ungehorsams wieder verstärkt gesungen wurden. Neue Protestlieder kamen hinzu. Und im September 1988 stimmten rund dreihunderttausend Esten - immerhin fast ein Viertel der gesamten Bevölkerung - bei einem Sängertreffen in Tallinn ihre damals illegale Nationalhymne an.

Der Geist der Selbstbestimmung war damit endgültig aus der Flasche und selbst mit Repression nicht mehr einzufangen. Auch bei späteren Demonstrationen wurde fast immer gesungen. Sogar als Anfang 1991 die Entwicklung mit Panzern gewaltsam gestoppt werden sollte, schallte den sowjetischen Spezialeinheiten aus den großen unbewaffneten Menschenketten, die sich ihnen in den Weg stellten, wieder Gesang entgegen. Der Versuch scheiterte bekanntlich. Und Estland, Lettland und Litauen sind heute wieder auf jeder Europakarte verzeichnet.

Vielleicht haben die vielen Lieder der Balten sogar einen erheblichen Anteil daran. In Lettland gibt es jedenfalls einem gerne hervorgeholten Sprichwort zufolge sogar mehr Lieder als Einwohner. So wundert es nicht, dass der Sprecher das vieltausendköpfige Läuferfeld kurz vor dem Start ebenfalls zum Singen animiert. Und genauso wenig kann es den Beobachter überraschen, dass dieser Versuch einigermaßen von Erfolg gekrönt ist, wenn auch die später im Internet formulierte Forderung nach Teilnahme am nächsten lettischen Sängerfest deutlich überzogen ist.

Der dritte Kilometer führt die Läufer durch die Jugendstilbauten der Neustadt

Schon anhand des Tonfalles lässt sich auch ohne Lettisch-Kenntnisse wenig später erahnen, dass der Countdown begonnen hat. Spätestens durch das Mitzählen vieler im Feld wird die Vermutung auch bestätigt Und als aus dem Lausprecher nach einer Handvoll eher unverständlicher Ziffern dann ein "tris" ertönt, ist auch klar, wie weit der Ansager schon gekommen ist und dass es jeden Moment losgehen wird.

Schließlich ist sich keine andere Zahl in allen europäischen Sprachen - sieht man einmal von den "Exoten" Finnisch, Estnisch und Ungarisch ab - so ähnlich wie die "drei". Vom "tres" der Iberer über das "tre" der Italiener zum "trois" der Franzosen, vom englischen "three" über das niederländische "drie" zum auch von Skandinaviern benutzten "tre" taucht überall praktisch genau die gleiche Silbe auf.

Auch die Kelten und Slawen bilden da keine Ausnahme, denn vom walisischen - der noch am lebendigsten Sprache der keltischen Familie - "tri" unterscheidet sich das tschechische "tri" nur durch einen Akzent. Slowenen, Slowaken und Kroaten verzichten selbst auf dieses Unterscheidungsmerkmal. Und selbst das polnische "trzy" sieht optisch viel verschiedener aus, als es sich anhört.

Die beiden im Countdown von Riga noch folgenden "divi" und "viens" hätte man ohne diese unverkennbare Silbe wohl genauso wenig erkannt, wie das "cetri" - obwohl es darin eine entfernte Ähnlichkeit mit "quatre" gibt - oder "pieci" zuvor. Viele Gedanken muss man sich darüber nicht machen, denn das Rennen ist eröffnet und dank der Breite der Straße sind bereits nach etwas mehr als zwei Minuten alle der beinahe fünftausend Sportler über die Startlinie hinweg gelaufen.

Man hat eigentlich erst wenige Schritte des langen Weges hinter sich gebracht, da unterquert die Uferstraße auch schon "Vanšu tilts", die nördlichste und auffälligste aus dem Quintett der Rigaer Düna-Brücken. Mehr als hundert Meter ragt nämlich der einsame Pylon dieser Schrägseilbrücke am westlichen Ufer der Daugava unübersehbar in den Himmel. Nur wenige Türme in der Stadt und ganz Lettland sind noch höher.

Eine ganze Reihe von repräsentativen Bauten wie das Außenministerium (links) oder das Nationaltheater (rechts) säumen innerhalb kürzester Zeit den Streckenrand

Übrigens bedeutet ihr Name auch gar nichts anderes als "Seilbrücke", ist also ziemlich profan. Früher war das im Jahr 1981, also noch unter sowjetischer Herrschaft fertig gestellte Bauwerk nach Maxim Gorki benannt. Doch ist es durchaus nachvollziehbar, dass die Letten mit einem russischen Schriftsteller, der nicht nur Kommunist war sondern zudem auch noch während der Stalindiktatur die Errungenschaften der Sowjetunion gepriesen hatte, nach der Selbstständigkeit nicht mehr unbedingt viel zu tun haben wollten.

Zu Anfang verläuft die Strecke entlang des Flusses und steuert dabei schnell auf jenen Bereich des nördlich der Brücke beginnenden Hafens zu, von dem nicht nur die Fährverbindungen über die Ostsee beginnen sondern der als auch Anlegeplatz für große Kreuzfahrtschiffe dient. Auch an diesem Tag hat wieder einer dieser riesigen Pötte am Kai festgemacht und seine Passagiere zur Stadtbesichtigung an Land geschickt.

Der Industriehafen, der natürlich der größte und wichtigste des Landes ist, findet sich jedoch noch ein ganzes Stück weiter flussabwärts. Während die Marathonis ihm entgegen laufen und sich dabei langsam immer weiter vom eigentlichen Zentrum entfernen, wird die Straße zunehmend schmaler. Doch mit weiterhin vier Spuren kann die "Eksporta iela" das Feld genauso ohne Probleme aufnehmen wie die quer zu ihr verlaufende "Hanzas iela", in die man nach rund eineinhalb Kilometern einbiegt.

Beide Namen zeigen außerdem recht anschaulich eine Eigenart der lettischen Sprache. Denn sie bedeuten "Exportstraße" und "Hansestraße". Fremdwörter werden nämlich lautmalerisch dem lettischen Schriftbild angepasst. Das kennt man zwar gelegentlich auch im Deutschen, wie das Beispiel "Büro" zeigt, das ja ursprünglich aus dem Französischen kommt und "bureau" geschrieben wurde. Doch geschieht die Eindeutschung in der Regel erst nach vielen Jahren in einem langen Prozess.

Die Letten, die ohnehin weit weniger zu den hierzulande so beliebten Anglizismen neigen, passen dagegen alle dann doch übernommenen Begriffe sofort ihren Sprach- und Schreibgewohnheiten sowie der eigenen endungsbasierten Grammatik an. Wer in Riga Hunger verspürt, kann sich deswegen in ein "steikuhaoss" setzen und dort ein Stück gebratenes Rindfleisch bestellen. Er könnte sich auf die Schnelle aber ebenso gut mit einem "sendvics" begnügen.

Nach dem Lauf wird ein "žurnalists" die Sieger von "Rigas maratons" zum "interviu" bitten. Und am Hafen der Stadt werden auch keine "Container" sondern "konteineri" umgeschlagen. Für noch zusätzliche Verwirrung sorgt die Tatsache, dass die dazugehörende Einzahl ausgerechnet "konteiners" lautet. Immerhin klingt dieses Wort ja praktisch genauso wie der - im Deutschen nicht übliche - englische Plural "containers".

Noch vor Kilometer vier beginnt der Aufstieg zur "Seilbrücke", die man kurz nach dem Start bereits unterlaufen hatte

Selbst bei Personennamen macht man bei den Anpassungen keineswegs halt. Aus diesem Grund kann man dann in Riga auch Plakate entdecken, die für ein Konzert eines gewissen "Piters Geibriels" werben. Könnte man mit ein wenig Phantasie hinter diesem Namen sogar noch den ehemaligen Genesis-Frontmann Peter Gabriel erahnen, ließen sich seine früheren Bandkollegen anhand der Buchstabenfolgen "Tonijs Benkss", "Fils Kolinss" und "Maiks Rezerfords" wohl wirklich kaum noch identifizieren.

Auch wenn eine "Exportstraße" hierzulande sicher eher ungewöhnlich erscheint, lässt sich der Namen angesichts des auf den Hafen zuführenden Verlaufes einigermaßen leicht erklären. Eine "Hansestraße" hätten dagegen viele vielleicht nicht unbedingt in Riga erwartet. Doch hatte der meist nur mit dem norddeutschen Raum assoziierte Städtebund des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit eine weit größere Ausdehnung.

Seine Mitglieder verteilten sich über die gesamte Nord- und Ostseeküste von den heutigen Niederlanden bis nach Schweden und ins Baltikum. Auch im Hinterland gehörten weit mehr Städte dem keineswegs nur auf Seehäfen beschränkten Bund an, als man heute glauben würde. Dass Hamburg, Lübeck oder Bremen bedeutende Hansestädte waren, kann eigentlich kaum jemanden überraschen. Bei Köln sieht das schon völlig anders aus.

Und sowohl Berlin als auch Hannover, Dortmund oder Essen gehörten einmal der Hanse an. Eigentlich fehlt kaum eine größere Stadt nördlich der Mainlinie in der Liste. Selbst Krakau oder Breslau im Süden des heutigen Polen könnte man aufzählen. Das Handelsnetz war sogar noch weit größer. Die berühmten Koggen der hanseatischen Kaufleute fuhren zu Niederlassungen in Portugal und Norwegen, in England und Russland.

Wie die baltische Schwester Tallinn - damals noch als "Reval" bekannt - gehörte auch Riga bereits relativ früh zum anfangs noch recht losen Bündnis. Und neben dem Stadtwappen, das mit seinen das Schild haltenden Löwen auf den ersten Blick seinen Gegenstücken aus Hamburg oder Bremen zum Verwechseln ähnlich ist, erinnern vor allem mehrere große Backsteinkirchen im Stadtbild an das hanseatische Erbe.

Auch eine Reihe von historischen Speicherhäusern mit dem charakteristischen Dachvorbau für den dort angebrachten Kran lässt sich beim Bummel durch die engen Seitengässchen der alten Zentrums entdecken. Vieles wirkt irgendwie erstaunlich bekannt. Und so fühlt man sich in manchen Momenten viel eher in einer niedersächsischen, holsteinischen oder mecklenburgischen Kleinstadt als in der Metropole eines Staates im Baltikum.

Während der größte Teil des Feldes die Brücke noch zum ersten Mal überquert ist der spätere Sieger Yu Chiba aus Japan schon wieder auf dem Rückweg Auf der Insel Kipsala wird anschließend eine Schleife mit Begegnungsverkehr absolviert

Eine weitere Rechtskurve dreht die Laufrichtung noch vor Kilometer zwei wieder nach Süden und biegt damit in den Stadtteil ein, der den Namen "Centrs" trägt, obwohl mit "Vecriga" - übersetzt "Altriga" - eigentlich noch ein zentraleres Viertel existiert. Jenseits des inzwischen geschleiften und zur Parkanlage ungestalteten Festungsringes, der die Altstadt umgibt, schließt sich allerdings die sogenannten "Neustadt" an, die genauso zum Zentrum Rigas gehört und deswegen auch so benannt wurde.

Trotzdem ist der Charakter dieser Mitte des neunzehnten Jahrhunderts begonnenen ersten großen Stadterweiterung natürlich ein völlig anderer als der des historischen Kerns. Denn anstelle des noch auf die ursprünglichen, mittelalterlichen Strukturen zurückgehenden Labyrinthes aus engen verwinkelten Gassen findet man dort planmäßig angelegte, schnurgerade Straßen und breite Boulevards vor.

Dass auch dieses Gebiet zu großen Teilen zum Weltkulturerbe deklariert wurde, liegt an einer fast vollständig erhaltenen gebliebenen alten Bausubstanz und vor allen Dingen der Vielzahl von Jugendstilgebäuden darunter. Rund achthundert von ihnen sollen in Riga noch stehen, was die Stadt zu einer der absoluten Hochburgen dieser um die vorletzte Jahrhundertwende entstandenen Kunstrichtung, die von den Letten tatsächlich auch "Jugendstils" genannt wird, macht.

Viele der während der Sowjetzeit häufig dem Verfall preisgegebenen Bauten sind inzwischen wieder aufwendig restauriert worden. Dass damals nicht nur keine Mittel zur Renovierung vorhanden waren sondern sich das Regime nicht einmal den Abriss der Häuser leisten konnte, stellt sich für die Letten im Nachhinein als absoluter Glücksfall heraus. Denn mit ihnen hat man nun eine zusätzliche touristische Attraktion. Gegenüber anderen bedeutenden Zentren dieses Architekturstils ist Riga jedenfalls absolut konkurrenzfähig.

Fast selbstverständlich ist unter diesen Voraussetzungen, dass die Neustadt hinsichtlich der Immobilienpreise zu den besten Lagen Rigas zählt. Zahlreiche diplomatische Vertretungen anderer Staaten haben sich in den Villen und Stadtpalästen dieses Viertels einquartiert. Einige von ihnen - unter anderem die finnische und tschechische Botschaft - kann man sogar während des Rennens im Vorbeilaufen betrachten.

Noch in Sichtweite der Innenstadt scheint man zwischen den Holzhäusern und Gärten von Kipsala in eine völlig andere Welt eingetaucht zu sein

Die Marathonorganisatoren haben außerdem versucht, zumindest einige besonders schöne Jugendstil-Schmuckstücke in ihre Strecke einzubauen. Doch das ist gar nicht so einfach. Denn nicht nur die Altstadtgassen sind nahezu vollständig mit Kopfsteinpflaster versehen. In der Neustadt haben ebenfalls viele Straßenzüge diesen für Läuferfüße nicht gerade freundlichen Belag, selbst wenn dieser dann doch nicht ganz so uneben und holprig daher kommt wie in "Vecriga".

Die Kurssetzer sind diesbezüglich jedenfalls kein Risiko eingegangen und haben sich fast ausschließlich auf asphaltierte Straßen und Gassen beschränkt. Um viele Sehenswürdigkeiten macht die Strecke deswegen dann auch einen Bogen. Die bekannte "Alberta iela" mit ihrem ziemlich harmonischen Ensemble und dem aufgrund seiner auffälligen Gesichtsreliefs vielleicht am häufigsten überhaupt fotografierten Jugendstilhaus wird jedenfalls während des Rennens ausgespart.

Doch immerhin biegt man nach links in ihre kaum weniger interessante Parallelstraße ein, die sich in ihrem Gesamtbild zwar nicht ganz so geschlossen in diesem Architekturstil präsentiert, aber ebenfalls einige herausragenden Einzelexemplare beherbergt. In einem noch größeren Radius als der Anlagenring legt sich diese "Elizabetes iela" um die Altstadt. Die Marathonis durchlaufen allerdings nicht den kompletten Bogen sondern biegen schon an der zweiten großen Kreuzung wieder nach rechts.

Genau an dieser Ecke ist dann auch nach gerade einmal drei zurückgelegten Kilometern schon die zweite Verpflegungsstelle postiert. Die extrem schnelle Abfolge ist zwar in diesem Fall dem Gesamtkonzept der Marathonstrecke geschuldet, auf der größere Teile zweimal durchlaufen und damit auch viele Versorgungsposten doppelt genutzt werden. In der Folge wird man bis zur nächsten Station dann doch ein wenig länger warten müssen.

Trotzdem ist ihre Dichte im internationalen Vergleich ziemlich hoch. Denn insgesamt fünfzehn Mal kann man auf den zweiundvierzig Kilometern Essen und Getränke fassen. Und eigentlich an allen von ihnen bekommen die Läufer neben Wasser und Elektrolytgetränken außerdem auch noch Orangen und Bananen von den auffallend jungen und zudem in der überwiegenden Zahl weiblichen Freiwilligen gereicht.

Vor den Tischen erinnert jedes Mal eine große Tafel daran, dass die Supermarktkette "Rimi" für ihre Bestückung verantwortlich ist. Ursprünglich kennt man dieses Unternehmen, das inzwischen Teil der schwedischen ICA-Gruppe gehört, aus seiner Heimat Norwegen. Doch Anfang des Jahrtausends gründeten die Skandinavier eine baltische Tochter, die sowohl in Lettland als auch in Estland und Litauen aktiv ist und ihren Hauptsitz in Riga hat.

Mit einem Wendepunkt werden am linken Düna-Ufer noch etliche zusätzliche Meter heraus gekitzelt, bevor es über den Fluss zurück wieder ins Stadtzentrum geht

Es ist längst nicht die einzige Firma aus der skandinavischen Nachbarschaft, die im Baltikum aktiv ist. Hauptsponsor des Rigaer Marathons ist zum Beispiel der schwedische Finanzkonzern "Nordea". Dass auch die Marathons in Tallinn und Vilnius den Namen von nordischen Banken - nämlich der ebenfalls in Stockholm beheimatetet "SEB" und der "Danske Bank" - führen, die ihre Geschäfte genauso nach Estland, Lettland und Litauen ausgedehnt haben, überrascht dann nicht mehr unbedingt.

Fast noch präsenter im Stadtbild von Riga sind die Filialen und Geldautomaten der "Swedbank". Und die vielen kleinen Lebensmittel-, Getränke- und Zeitungsläden von "Narvesen" fallen genauso ins Auge. Denn auch diese Geschäfte kennt man eigentlich eher aus Norwegen. Immerhin sind die Kaffeehäuser von "Costa Coffee", die in der lettischen Hauptstadt fast ebenso häufig zu sein scheinen, nicht nur Ableger eines britischen Anbieters sondern haben mit "Double Coffee" auch einen starken einheimischen Konkurrenten.

Ein breiter Boulevard hat die Läufer nach dem Abbiegen aus der durch ihre dichte Bebauung zumindest optisch recht engen "Elizabetes iela" aufgenommen. Schon alleine der an dieser Ecke beginnende Park öffnet das Blickfeld. Er umgibt unter anderem das "Latvijas Nacionalais makslas muzejs", das Nationalen Kunstmuseums von Lettland. Doch im weiteren Verlauf der Straße reihen sich noch mehrere andere repräsentative Gebäude an ihren Seiten auf.

Während das Kunstmuseum wegen Renovierung geschlossen ist - mehrere Ableger in anderen über die Innenstadt verteilten Gebäuden sind jedoch weiter geöffnet - und sich deswegen hinter einem Baugerüst versteckt, stehen zu freien Sicht auf die Kunstakademie daneben nur ein paar Bäume im Weg. Doch mit seiner an die Backsteingotik der Kirchen angelehnten Architektur würde sich das Gebäude auch sonst eindeutig vom Jugendstil des Museums unterscheiden.

Aus wieder einer ganz anderen Kunstrichtung stammen dann die neoklassizistischen Säulen des Außenministeriums, das eine Straßenblock weiter auf der anderen Straßenseite steht. Zuvor kann man auch noch einen Blick auf Betonkasten der Kongresshalle werfen, die ein wenig zurückgesetzt im Grüngürtel der geschleiften Befestigung liegt und trotz Auflockerung durch Wasserspiele und Glaspyramiden ringherum, seine Erbauung zu Zeiten des "real existierenden Sozialismus" absolut nicht verheimlichen kann.

Und jenseits des Stadtkanals, der inzwischen den früheren Wallgraben ausfüllt, taucht dann auch noch das Nationaltheater auf, das seinerseits wieder im reinsten Jugendstil errichtet wurde. Über die Kunst hinaus hat es auch historische Bedeutung. Denn nachdem Lettland viele Jahrhunderte Spielball der benachbarten Großmächte war, erst zum Ordensstaat, dann nacheinander zu den Königreichen Polen und Schweden und schließlich zum zaristischen Russland gehörte, wurde in diesem Gebäude 1918 erstmals eine unabhängige lettische Republik ausgerufen.

Vorbei am "Pulvertornis" führt die Laufstrecke zum Unabhängigkeitsdenkmal, wo neben einer festlich geschmückten Straße auch eine Trachtengruppe und ein Chor auf die Läufer warten

Schon die ganze Zeit läuft man unter Oberleitungen entlang. Doch Gleise für Straßenbahnen, die aus ihnen Strom beziehen könnten, ziehen sich - abgesehen von der Kreuzung am Theater, an der man sie gequert hat - nicht durch den Asphalt. Die Kabel dienen vielmehr zur Energieversorgung der Elektrobusse, die neben der Tram und "normalen" Bussen das dritte Standbein des Rigaer Nahverkehrs darstellen.

Während man solchen Systemen in Westeuropa nur noch gelegentlich begegnet, da selbst in den meisten Städten, in denen einst Oberleitungsbusse fuhren, diese längst wieder abgeschafft sind, haben sie im früheren Ostblock auch weiterhin eine große Verbreitung. In der lettischen Hauptstadt verkehren "Trolejbusi" immerhin auf neunzehn verschiedene Linien und einem mehr als dreihundert Kilometer langen Netz.

Ein kleiner Knick in den Häuserreihen hatte die Sicht zuvor verhindert. Doch hinter dem Nationaltheater kommt scheinbar am Horizont der Stützpfeiler der "Seilbrücke" als großes Dreieck mit aufgesetzter Spitze ins Blickfeld. Die Straße läuft genau auf ihn zu. Und zudem lässt sich eine deutliche Steigung erkennen. Denn die Brücke, die man kurz nach dem Start unterlaufen hatte, wird nach einer weiten Schleife nun überquert. Ziemlich genau nach vier Kilometern ist man eigentlich wieder am Ausgangspunkt angekommen, allerdings nun eine Ebene weiter oben.

Der kurze Abstand zu Start und Ziel sorgt dafür, dass sich an dieser Stelle die Zuschauer, die das Feld mit wenigen Schritten gleich mehrfach beobachten und anfeuern können, regelrecht ballen. Das ist längst nicht überall entlang der Strecke so. Das Publikum konzentriert sich hauptsächlich an wenigen Brennpunkten im Stadtzentrum. In den Außenbezirken sind die Marathonis dagegen auch häufiger einmal vollkommen unter sich. Nun sorgt aber ein nahezu ununterbrochenes Spalier dafür, dass der Anstieg zur Brücke ein wenig leichter fällt.

Der auf jeder der beiden Runden gleich zweimal passierte und von den Organisatoren "Kulturkilometer" genannte Abschnitt unter den bunten Bändern mit traditionellen lettischen Mustern ist der emotionale Höhepunkt des Laufes

Es ist allerdings nur einige hundert Meter lang und stellt damit nicht einmal ein Prozent jener vielleicht längsten Menschenkette der Geschichte dar, von denen die drei damals noch zur Sowjetunion gehörenden baltischen Länder im Spätsommer 1989 durchzogen wurde. Denn ausgerechnet während der Phase, in der es auch in vielen anderen Staaten des Ostblocks zu demokratischen Umwälzungen kam, jährte sich auch noch der Hitler-Stalin-Pakt zum fünfzigsten Mal.

Mit diesem Vertrag hatten die beiden Diktatoren nämlich nicht nur ein Nichtangriffsabkommen im offiziellen Teil vereinbart sondern in einem geheimen Zusatzprotokoll auch den gesamten Osten Europas unter sich aufgeteilt. Estland, Lettland und Litauen waren dabei der Einflusszone Moskau zugeordnet worden. Und ein halbes Jahr später wurden die kleinen und militärisch hoffnungslos unterlegenen Republiken dann auch von Stalins Truppen ohne große Probleme besetzt, formal aufgelöst und in die Sowjetunion eingegliedert.

An jenem dreiundzwanzigsten August, dem unrühmlichen Jubiläum der Unterzeichnung schafften es die Esten, Letten und Litauer als Zeichen ihres Protestes gegen diesen alles andere als freiwilligen Anschluss die mehr als sechshundert Kilometer von Tallinn über Riga bis nach Vilnius vollständig mit Menschen zu überbrücken. Alleine logistisch muss man dies eigentlich schon als Meisterleistung bezeichnen. Doch politisch schickte diese als "Baltischer Weg" bekannte Aktion ein noch viel stärkeres Signal an die Welt.

Ein bis zwei Millionen Balten sollen sich an diesem Tag die Hand gereicht und ihre Hauptstädte symbolisch miteinander verbunden haben. Dem steht wohlgemerkt selbst bei wohlwollenden Schätzungen nur eine Gesamtbevölkerung von etwa sieben bis acht Millionen gegenüber. Die mit einer solchen Menschenmenge ohne Probleme zu überbrückende Distanz zeigt übrigens wieder einmal, wie lächerlich Marathonveranstalter sich eigentlich machen, die gegenüber der Presse ähnliche Werte für die Zahl ihre Zuschauer angeben.

Schon die westliche Rampe der mehr als fünfhundert Meter langen Brücke ist fast gar nicht mehr mit Zuschauern bevölkert. Dafür empfängt die Läufer dort der höchste Büroturm der Stadt. Mit mehr als einhundertzwanzig Metern übertrifft die Spitze der lettischen Hauptverwaltung der Swedbank auch den nahen Pylonen noch ein wenig. "Saules Akmens" hat man das Gebäude getauft, was übersetzt "Sonnenstein" bedeutet und sich einerseits aus den zu jeder Tageszeit in seiner abgerundeten Glasfassade anders spiegelnden Strahlen erklärt.

Andererseits wird mit dieser Bezeichnung aber auch auf den im Baltikum recht häufigen Bernstein anspielt, den man poetisch ebenfalls unter diesem Namen kennt. Schon seit Jahrtausenden ist dieses versteinerte Harz ein wichtiges Handelsobjekt. Quer durch ganz Europa zogen sich einst sogenannte "Bernsteinstraßen", auf denen die Brocken, die als nicht mineralisches sondern organisches Material streng genommen eigentlich gar keine "Steine" sind, weiter gegeben wurden. Und auch heute noch lassen sie in den meisten Souvenirgeschäften Rigas die Kassen klingeln.

Während der Chor vom Streckenrand seine schwungvollen Lieder schmettert, steht das Podest für seinen Dirigenten mitten zwischen den Läufern Neben Gesang gibt es aber auch Blasmusik an der Marathonstrecke

Kaum am anderen Ufer angekommen verlässt die Laufstrecke die inzwischen mit Mittelleitplanken beinahe autobahnähnlich ausgebaute Hauptachse auf einer noch einige weitere Meter hinunter führenden Ausfahrtsrampe und zweigt kurz darauf nach rechts in eine Querstraße ab. Dort stehen zwar anfangs noch einige kleinere Wohnblocks, doch mit vielen Grünflächen und sogar kleineren Wäldchen dazwischen wirkt die Umgebung, die ja eigentlich nur einen guten Kilometer vom historischen Zentrum Rigas entfernt ist, urplötzlich alles andere als städtisch.

Von den eher trostlosen sozialistischen Plattenbauten, die insbesondere in den äußeren Vororten noch dominieren, auf die man manchmal gelegentlich aber auch einmal recht überraschend direkt neben Altstadt und Jugendstilvierteln treffen kann, ist ebenfalls nichts zu sehen. Das Äußere der Gebäude, an denen man vorbeiläuft, deutet vielmehr ziemlich eindeutig auf ein deutlich jüngeres Entstehungsdatum hin.

Spätestens nachdem man einige hundert Meter nach dem Abbiegen an einem Dutzend - im wahrsten Wortsinne - praktisch nagelneuer hölzerner Reihenhäuser vorbeikommt, hat man den Eindruck, auf "Kipsala" - im Lettischen setzt man dirket unter dem Anfangsbuchstaben "K" noch ein Komma, da anzeigt, dass zusätzlich noch ein "j" gesprochen wird - fast schon in einer anderen Welt gelandet zu sein. Noch bewegen sich die Läufer nämlich nicht am linken Ufer der Düna sondern auf einer Insel zwischen dem Hauptstrom und einem kleineren linken Seitenarm.

Während auf der ihm zugewandten westlichen Seite und am Südende des schmalen, langgestreckten Eilands modernere Bauten dominieren, prägen am Ostufer kleine bunte Holzhäuser mit großen Gärten das Bild. Da es sich bei vielen der Bäume ringsherum zudem noch um Birken handelt, könnte man sich in diesem Umfeld - und zwar völlig egal, ob im alten oder neuen Teil - durchaus auch in Skandinavien wähnen. Selbst die Fahnen, die vor den Reihenhäusern eher schlaff in ihren Masten hängen, scheinen dazu zu passen.

Denn bei einem flüchtigen Blick könnte man sie nämlich für den Danebrog halten, jenes oft als "älteste Flagge der Welt" bezeichnete "Tuch Dänemarks", dessen Aussehen als Mustervorlage für alle anderen Flaggen mit dem "skandinavischen Kreuz" diente und die der Legende nach dem dänischen König Waldemar ausgerechnet während einer Schlacht bei einem Kreuzzug im Baltikum am Himmel erschienen sein soll.

In Wahrheit sind es natürlich lettische Fahnen. Und diese könnte man, wenn sie im Wind flattern würden, angesichts der Farbgestaltung eigentlich viel eher mit ihrem österreichischen Gegenstück verwechseln. Allerdings ist das Rot der äußeren beiden Längsstreifen dann doch deutlich dunkler ausgefallen, was angeblich darauf zurückgeht, dass man früher Waldbeeren zum Einfärben benutzte. Da dieser Farbton in der Heraldik sonst praktisch keine Verwendung findet, wird er häufig sogar "Lettischrot" genannt.

Auf dem gut zwei Kilometer langen Begegnungsstück, das sie zu durchlaufen haben, bevor sie wieder am Freiheitsplatz angekommen sind, bekommen die Läufer mit der Alexander-Newski-Kirche (rechts) und der Kathedrale (links) gleich zwei orthodoxe Kirchen zu Gesicht. Und auch ein weiterer Chor sorgt von einer Bühne herunter für Stimmung

Und noch etwa anderes unterscheiden die Flaggen von Latvia und Austria. Denn während bei den Österreichern die drei Streifen alle gleich breit ausfallen, sind bei den Letten sind der obere und untere jeweils doppelt so dick wie der mittlere. Da dieses Verhältnis durchaus auch bei dem einen oder anderen nordischen Kreuzflaggen auftaucht, kann man die Ähnlichkeit mit einem schlaff herunter hängenden Danebrog sogar begründen.

Kurzzeitig öffnet sich die bisher meist von Bäumen und Büschen gesäumte Straße, als die Läufer das Messegelände Rigas passieren. Für eine Stadt dieser Größenordnung ist es allerdings dann doch eher klein ausgefallen. Davor müht sich in einem kleinen Pavillon ein Discjockey die Weite des sich davor ausdehnenden, gähnend leeren Parkplatzes für die Marathonis zumindest mit Musik ein wenig auszufüllen.

Doch schnell ist man danach auch wieder zwischen schattigen Bäumen gelandet. Schon an der nächsten Ecke zieht der Kurs scharf nach rechts. Ungefähr eineinhalb Kilometer lang ist die durch das - hinsichtlich der Bebauung zwar keineswegs einheitliche, aber trotzdem einigermaßen harmonisch wirkende - Gebiet zu absolvierende Schleife, die auf dem Hinweg kurzzeitig wieder den Blick auf den Fluss ermöglicht.

Neben historischen und modernen Holzbauten passiert man auf der kurzen Runde auch einige zu Wohnungen umgestaltete Werks- und Lagerhallen aus Backstein. Selbst wenn das eine oder andere Haus noch auf seine Renovierung wartet, lässt sich unschwer übersehen, dass Kipsala zu den besseren und beliebteren Vierteln in Riga zählt. Wer so ruhig und grün, aber trotzdem gleichzeitig so stadtnah leben möchte, muss es sich eben leisten können.

Die dritte Verpflegungsstelle bildet den Umkehrpunkt. Ziemlich genau in der Mitte der nur wenige hundert Meter breiten Insel geht es zurück. Und bei Kilometer sieben ist man wieder am Messegelände angekommen, wo auch weiterhin der Plattenaufleger für musikalische Unterhaltung sorgt. Es erstaunt allerdings schon, dass den Läufern erneut wie schon bei der ersten Passage ausgerechnet ein deutschsprachiger Popsong entgegen schallt.

Nicht nur Marathon und Halbmarathon führen an der Freiheitssäule vorbei, auch die Läufe über zehn und fünf Kilometer werden sie später auf ihrem Streckenplan haben

Zufall ist das allerdings nicht. Denn rund um die Strecke haben die Organisatoren ungefähr ein Dutzend solcher Stationen aufbauen lassen, die jeweils einem anderen Land gewidmet sind. So gibt es unterwegs unter anderem auch noch italienische und französische, niederländische und schwedische Musik zu hören. Nicht immer wir dabei zwar in der jeweiligen Sprache gesungen, manchmal erklingt auch internationaleres Englisch. Doch zumindest produziert wurden die Titel immer in den entsprechenden Ländern.

Die Aktion hat auch damit zu tun, dass Riga für das Jahr 2014 zusammen mit dem schwedischen Umeå als europäische Kulturhauptstadt ausgewählt wurde. Hunderte von verschiedenen Veranstaltungen aus unterschiedlichsten Sparten stehen innerhalb dieser zwölf Monate im Kalender. Und natürlich hat man versucht, den Marathon ebenfalls ins Programm einzubinden. Die Discjockeys sind dabei nur ein kleiner Ableger. Man hat sich noch deutlich mehr einfallen lassen.

Zurück zur Schnellstraße führt der Weg die Marathonis. Dort angekommen dürfen sie jedoch nicht direkt zum Stadtzentrum am rechten Daugava-Ufer abbiegen, sondern werden noch ungefähr einen Kilometer weiter nach Westen geleitet. Eine eher flache Brücke über die engste Stelle des "Zunds" - die Verwandtschaft zum deutschen "Sund" ist unverkennbar - genannten Nebenarms bringt das Läuferfeld nun tatsächlich ans Festland.

An der folgenden Kreuzung wird dann praktisch auf dem Absatz gewendet und der Rückweg beginnt mit einer gewissen Verspätung doch noch. Natürlich werden so zusätzliche Meter für die Marathondistanz herausgeholt. Da man bei der Winde allerdings auch auf die andere Fahrspur wechselt, wäre der Richtungswechsel gar nicht früher möglich gewesen. Denn die auf Vanšu tilts beginnende Mittelleitplanke hatte zuvor keine einzige Lücke zum Durchschlüpfen.

Noch einmal kommt man so innerhalb kürzester Zeit an der Baustelle für die "Z-Towers" vorbei. Nach seiner geplanten Fertigstellung im nächsten Jahr wird der größere der beiden Türme den "Sonnenstein", den man wenig später wieder erreichen wird, als höchsten Wolkenkratzer Rigas ablösen. Doch mit etwas über hundertdreißig Metern kann man im internationalen Vergleich natürlich trotzdem nicht unbedingt glänzen.

Ohnehin ist die lettische Metropole keineswegs reich an Hochhäusern. Und die wenigen, die es gibt, finden sich fast ausnahmslos in den Außenbezirken. Das Panorama des Stadtzentrums, das man bei der zweiten Überquerung von Vanšu tilts genießen kann, wird jedenfalls eindeutig durch die Türme seiner großen Kirchen dominiert, von denen einige auch weiterhin zu den höchsten Bauten Lettlands zählen.

Hinter dem breiten Boulevard tauchen alle Kurse für kurze Zeit in die Gassen der Altstadt ein

Da ist zum einen der im dreizehnten Jahrhundert im Stil der Backsteingotik errichtete Dom. Nicht nur in Lettland sondern im ganzen Baltikum gibt es bezogen auf Grundfläche, Volumen und Fassungsvermögen kein größeres Gotteshaus als die Kathedrale der Evangelisch-Lutherischen Kirche Lettlands. Ihr wuchtiger Turm, der im Nachhinein mit einer barocken Spitze versehen wurde, ist allerdings hinsichtlich seiner Höhe nicht der absolute Rekordhalter in Riga.

Diese Ehre gebührt der kaum kleineren Petrikirche. Denn deren Spitze ist nicht nur rund dreißig Meter höher sondern wirkt auch weitaus filigraner. Als Gemeindekirche der Rigaer Bürgerschaft stand sie jahrhundertelang in einer ständigen Rivalität zum erzbischöflichen Dom. Die politische Konkurrenz, die zwischen Hansekaufleuten und Handwerkern auf der einen und dem geistlichen Oberhaupt auf der anderen Seite um den Einfluss in der Stadt herrschte, lässt sich durchaus auch an ihren Gotteshäusern erkennen.

Der dritte hohe Turm gehört zur Jakobskirche, die inzwischen als katholische Kathedrale dient und ebenfalls der Backsteingotik zugerechnet werden muss. Im Gegensatz zu ihren an größeren Plätzen gelegenen Schwestern versteckt sie sich allerdings eher etwas in den Altstadtgassen hinter "Rigas pils". Dazu kommen in der markanten Daugava-Ansicht unter anderem auch noch die Türme des Schlosses, die dünne Spitze der eher durch ihren Stufengiebel beeindruckenden Johanniskirche und die in Nähe der Marathon-Startlinie stehende anglikanische Kirche.

Während man über die Brücke wieder dem Zentrum entgegen läuft, zeigen sie sich aufgrund der veränderten Perspektive ständig in neuen Positionen zueinander. Dann taucht die Laufstrecke am Schlossgarten wieder ins Rigaer Zentrum ein und führt direkt dahinter zwischen zwei mehr als einhundert Jahre alten Stadtpalästen hindurch, in denen die lettische Zentralbank "Latvijas Banka" ihren Hauptsitz hat.

Auch die nachfolgenden Meter bis zum Nationaltheater kennt man schon vom Hinweg. Doch dort wechselt man wieder in Neuland hinüber. Denn statt weiter geradeaus zu laufen und dabei den Stadtkanal zu überqueren schwenkt der Kurs nach rechts und folgt erst einmal für einige Zeit dem alten Festungsgraben und der ihn umgebenden Grünanlage. In der Mitte dieses etwa einen halben Kilometer langen Abschnittes kommt man dabei auch am "Pulvertornis" vorbei, der wie ein Bestandteil der mittelalterlichen Stadtmauer aussieht.

Er steht auch tatsächlich an der gleichen Stelle wie einer der ersten Türme, der die Stadt verteidigte, stammt selbst allerdings erst aus der Mitte des siebzehnten Jahrhundert. Und obwohl er ebenfalls zur - erst zweihundert Jahre später endgültig geschleiften - Befestigung gehörte, von der nur noch ein kurzes Stück erhalten ist, befand sich eben hinter seinen bis zu drei Meter dicken Mauern vor allem auch jenes Schießpulverdepot, das ihm den Namen gab.

Am Rathausplatz mit Schwarzhäupterhaus und der namensgebenden Stadtverwaltung endet der kurze Ausflug ins alte Zentrum

Vor dem Pulverturm steht eine jener knallbunten überdimensionalen Schnecken, über die man in der Stadt immer wieder stolpern kann. Sie sind ebenfalls eine Aktion, die mit dem Status der europäischen Kulturhauptstadt zusammen hängt. Auch auf Marathon-T-Shirts sind diesmal diese Weichtiere abgebildet. Das Logo zeigt es wie zuletzt immer nur ganz klein, dafür aber ein Motiv, das jedes Jahr von einem anderen Künstler gestaltet wird. Die Hemden gehören übrigens nicht wie bei anderen Veranstaltungen zum Leistungspaket sondern müssen zusätzlich gekauft werden.

Entlang des Festungsrings ist man nun auch einmal auf einer von Trambahnschienen durchzogenen Straße unterwegs. Dass diese nicht in Asphalt sondern in Kopfsteinpflaster eingelassen sind, macht das Belaufen nicht unbedingt einfacher. Immerhin gibt es zu beiden Seiten noch jeweils eine asphaltierte Fahrspur für den Autoverkehr, auf denen man dem holprigen Belag größtenteils entgehen kann.

Irgendetwas wirkt seltsam an den Gleisen. Es ist ihr Abstand zueinander, der ein wenig weiter ausgefallen ist, als man ihn von zu Hause kennt. Denn während hierzulande Straßenbahnen maximal mit der auch im mitteleuropäischen Eisenbahnverkehr üblichen sogenannten Normalspur verkehren oder sogar eine noch schmalere Spurweite besitzen, wird bei der Rigaer Tram die "Russische Breitspur" benutzt.

Die neun zusätzlichen Zentimeter, die beide voneinander unterscheiden, findet man auch im lettischen Eisenbahnnetz. Das liegt zum einen natürlich daran, dass die ersten Strecken noch zu Zeiten entstanden, in denen das Baltikum Teil des Zarenreiches war. Da geht es Esten, Letten und Litauern nicht anders als den Finnen, die ebenfalls erst nach dem Ersten Weltkrieg ihre Unabhängigkeit von Russland erlangen konnten und auch fast hundert Jahre später noch immer eine andere Spurweite haben als ihre nordischen Nachbarn Schweden und Norwegen.

In Lettland gab es aber sogar einige Normalspurstrecken. Doch mit der erneuten sowjetischen Besetzung wurden sie nach 1945 alle auf Breitspur umgestellt. Für den Verkehr mit Russland, das noch immer einen gewissen Teil seines Außenhandels über den Rigaer Hafen abwickelt, ist dieser Sachverhalt sicher positiv. Allerdings spielt der große Nachbar für die lettische Wirtschaftsbilanz - auch durch die Mitgliedschaft in der EU - nur noch eine untergeordnete Rolle. Gerade einmal zehn bis zwanzig Prozent der eigenen Im- und Exporte rollen über die Grenze im Osten.

Nach einer langen Wendepunktstrecke entlang des Flusses dürfen die Halbmarathonläufer ins Ziel abbiegen, während die Marathonis noch eine zweite Schleife absolvieren

Doch die gewünschte engere Anbindung ans restliche Europa wird durch den Bruch zwischen den Eisenbahnsystemen eindeutig behindert. Auch durchgehende Personenzüge sind so nur schwer möglich. So arbeitet man inzwischen ernsthaft auf eine Neubaustrecke hin, mit der die baltischen Staaten auf der Normalspur an Polen angebunden werden sollen. "Rail Baltica" hat man dieses Großprojekt getauft.

Nach einem halben Kilometer verliert man die Begleitung der Straßenbahngleise mit einem Linksschwenk wieder. Doch dafür beginnt der mit Abstand stimmungsvollste Part der gesamten Marathonstrecke. Das erste, was nach dem Abbiegen sofort auffällt, sind die über die Straße gespannten Bänder in den Nationalfarben. Doch haben diese nicht etwa die Streifen der Flagge sondern zeigen unterschiedliche geometrische Formen.

Diese traditionellen Muster gehören eigentlich zum "Lielvardes josta", einem gewobenen Gürtel, der ursprünglich aus der Stadt Lielvarde stammt, aber längst zu einem nationalen Symbol für ganz Lettland geworden ist. Überall in den Souvenirgeschäften lassen sich Stoffstreifen mit diesen geheimnisumwobenen und angeblich uralten Ornamenten kaufen. Und auch auf unzähligen anderen Artikeln der Andenken-Händler tauchen sie auf.

Unter den Bändern stehen auf jeder Seite der Straße und - da dieser Abschnitt doppelt belaufen wird - zudem auch in der Mitte lange Reihen von jeweils etwa zwei Dutzend Tischen. Auf ihnen hat sich eine Hundertschaft junger Leute in alten Trachten postiert, die das vorbei laufende Marathonfeld anfeuern und sich immer wieder auch einmal bücken, um einzelne besonders nah heran kommende Sportler abzuklatschen.

Neben Stimme und Händen benutzen einige von ihnen zum Erzeugen der keineswegs spärlichen Geräuschkulisse auch ein "Trejdeksnis" genanntes, typisch lettisches Instrument, das entfernt an eine Miniausgabe eines Schellenbaums erinnert und aus kleinen Metallplättchen besteht, die in mehreren Schichten an einem Griff aufgehängt sind und man zum Klingen bringen kann, indem man das Gerät ähnlich wie eine Rassel auf und ab bewegt.

Sämtliche Rennen werden an dieser Stelle vorbei geführt. Und so ist die bis zuletzt durchhaltende Trachtengruppe viele Stunden lang im Einsatz, ohne in ihrer Enthusiasmus nachzulassen. Aber gerade von den vielen Kindern, die bei den abschließenden beiden Läufen über fünf Kilometer dabei sind, kommt natürlich auch mindesten genauso viel Begeisterung zurück. Das Durchlaufen dieses Spaliers ist ein echter Gänsehautmoment.

Durch ein weitläufiges Neubaugebiet führt die Strecke anfangs der zweiten Runde und passiert dabei auch das Sportzentrum, in dem man am Tag zuvor die Startnummern abgeholt hatte

Verstärkt wird die Atmosphäre noch dadurch, dass direkt dahinter eine kleine Tribüne aufgebaut ist, von der ein etwa fünfzigköpfiger Chor aus voller Brust seine Lieder herunter schmettert. Die ebenfalls nahezu ausnahmslos ziemlich jungen Sänger zeigen dabei eindrucksvoll, dass Volksmusik - selbst wenn man natürlich wenig versteht, ist nämlich ein gelegentliches "Latvia" im Text nicht zu überhören - keineswegs dröge und altbacken sein muss sondern vielmehr bei entsprechenden Arrangements durchaus schwungvoll und mitreißend werden kann.

Der Taxifahrer hatte auf dem Weg vom Flughafen in die Stadt zwar bereits davon erzählt, dass viele Besucher Rigas sich lobend über die große Freundlichkeit der Letten äußern würden. Insbesondere die Russen, die wohl aus historischen Gründen in ihren heimischen Medien ein ganz anderes Bild der Balten gezeichnet bekämen, wären davon ziemlich überrascht. Doch ließ sich eine solche Aussage noch als keineswegs objektiver Reklamespruch abtun. Spätestens nachdem man diese Stimmung erlebt hat, wird sie auf einmal ziemlich glaubhaft.

Nicht nur die Aufmachung der als Höhepunkt der Verbindung von Sport und Kultur gedachten und als "Kulturas kilometrs" bezeichneten Passage ist neu. In den Jahren zuvor gehörte sie überhaupt nicht zur Marathonstrecke. Sänger und Tänzer gruppieren sich nämlich rund um das lettische Freiheitsdenkmal, vor dem ansonsten eine weit weniger dynamische Ehrenwache der litauischen Streitkräfte postiert ist.

Die über vierzig Meter hohe Säule mit einer Frauenfigur auf der Spitze und weiteren den Reliefs und Skulpturen an der Basis, die als Sinnbild für den Unabhängigkeitswillen und Freiheitskampf der Letten stehen sollen, wurde in den Dreißigerjahren errichtet. Nicht ganz zufällig ist "Brivibas piemineklis" - wie der Name im Original lautet - übrigens nach Westen ausgerichtet. Und auch die lettische Freiheitsstatue blickt von oben in Richtung Europa und dreht Russland damit den Rücken zu.

Nur wenige Jahre nach der Einweihung war es mit der Selbstbestimmung Lettlands dann allerdings schon wieder vorbei. Und natürlich war den neuen Herren aus dem Osten das Denkmal ein ständiger Dorn im Auge. Doch es einfach niederzureißen, wagten sich die Sowjets angesichts seiner großen symbolischen Bedeutung dann irgendwie auch nicht. Nur jegliche Art von Versammlungen wurde ringsherum untersagt.

Eine Anekdote wird über den lettischen Behauptungswillen immer wieder gerne erzählt. Denn als irgendwann ein kommunistischer Funktionär auf den Gedanken gekommen sei, die durch die Erschütterungen des Straßenverkehrs entstehende mögliche Baufälligkeit des Monuments als Argument für seine Entfernung zu benutzen, habe die Rigaer Stadtverwaltung den Bereich ganz einfach zur Fußgängerzone erklärt. Dabei ist es auch nach der Unabhängigkeit geblieben, so dass man in aller Ruhe über diesen Bereich, der Alt- und Neustadt verknüpft. flanieren kann.

Das letzte Drittel des Kurses führt auf bereits bekannten Wegen zuerst wieder hinüber auf die Insel Kipsala

Von Vecriga geht es nun also wieder nach Centrs hinüber, wo sich "Brivias bulvaris" - also der "Freiheitsboulevard" - erst einmal als breite Allee mit einem Grünstreifen in der Mitte fortsetzt. Doch zumindest entlang der nördlichen Fahrbahn, die man auf diesem zwölften Kilometer beläuft, sind nicht allzu viele Jugendstilpaläste zu bewundern. Denn nach nur einem einzigen Straßenblock erreicht man die Rückseite jenes schon bekannten Parks, in dem auch das Kunstmuseum zu finden ist.

Am anderen -von den Marathonis nun passierten - Ende der Anlage hat man zur Zarenzeit die russisch-orthodoxe Kathedrale der Stadt errichtet. Während sie während der ersten lettischen Unabhängigkeitsperiode in den Zwanzigern und Dreißigern ihre Rolle als Gotteshaus auch behalten konnte, obwohl Riga zu jener Zeit mehr deutsch- als russischsprachige Einwohner hatte, machten die religionsfeindlichen Kommunisten später ein Planetarium aus ihr.

Nach der erneuten Selbstständigkeit des lettischen Staates dient sie nun aber erneut als Kirche. Aufgrund des von Moskau mit dem Hintergedanken, die Letten irgendwann einmal zur Minderheit im eigenen Land zu machen, enorm geförderten Zuzugs ist der Anteil der Russischstämmigen inzwischen allerdings auch erheblich gestiegen. Rund ein Viertel der lettischen Bevölkerung hat russische Wurzeln. Und da sie sich hauptsächlich in den großen Städten konzentrieren, sind es in Riga sogar mehr als vierzig Prozent.

Längst nicht alle von ihnen haben die lettische Staatsbürgerschaft. Denn das heutige Lettland sieht sich als juristischer Nachfolger der von der Sowjetunion absolut widerrechtlich besetzten und annektierten Republik aus der Zwischenkriegszeit. Und so bekamen erst einmal nur die schon im damaligen Staat lebenden Einwohner sowie deren Nachkommen einen lettischen Pass. Wer in den rund fünf Jahrzehnten dazwischen zugezogen war oder nur solche Personen in seiner Ahnenreihe hatte, musste dagegen einen Antrag auf Einbürgerung stellen.

Allerdings galt und gilt noch immer hierfür die Kenntnis der Landessprache als Voraussetzung. Viele der auf Betreiben Moskaus zugewanderten Russen - insbesondere die Älteren unter ihnen - hatten es jedoch nie für nötig erachtet oder sich sogar stets geweigert, diese zu erlernen. Sie erwarteten von den Letten vielmehr, sich mit ihnen auf Russisch zu unterhalten. So ist ein relativ hoher Prozentsatz unter ihnen - über ein Zehntel der Gesamtbevölkerung - als sogenannte "Nichtbürger" auch weiterhin ohne Wahlrecht.

Vier Stunden nach dem Marathon wird der Zehner gestartet, den Dmitrijs Serjogins (links) für sich entscheiden kann

Selbst wenn sich die Verhältnisse bei den Jüngeren angesichts des obligatorischen Lettisch-Unterrichtes auch in den russischsprachigen Schulen langsam verbessern, lebt man häufig eher nebeneinander her als miteinander. Deutlich wird dies zum Beispiel, wenn die ethnischen Russen am neunten Mai, dem "Tag des Sieges" das Ende des Zweiten Weltkriegs begehen und am "Siegesdenkmal der Roten Armee" ihre Kränze nieder legen.

Denn in den Augen der Letten gibt es an diesem Datum - das übrigens seit der Unabhängigkeit auch kein offizieller Feiertag mehr ist - wenig zu feiern. In ihren Augen hat damals nämlich nur ein Invasor einen anderen Besetzer abgelöst. Dass zudem sowohl 1940 als auch in den Jahren nach dem Krieg unter dem brutalen Regime Stalins hunderttausende Balten nach Sibirien deportiert wurden, lässt bei ihnen wirklich kaum den Gedanken an "Sieg" und "Befreiung" aufkommen.

Schon alleine die am Ehrenmal - das übrigens in direkter Verlängerung der Freiheitsachse an linken Daugava-Ufer steht - angebrachten Jahreszahlen zeigen den völlig unterschiedlichen Blick auf die Geschichte. Denn das dort zu lesende "1941 - 1945", das aus russischer Sicht die Dauer des "Großer Vaterländischer Krieg" markiert, ist aus Perspektive der Letten, deren Land schon ein Jahr zuvor von eben jener Roten Armee gewaltsam okkupiert wurde, eine echte Provokation.

Unter all diesen Voraussetzungen und den historischen Erfahrungen mit dem Nachbarn im Osten lässt sich eine gewisse Nervosität der Balten - zumindest in Estland gibt es nämlich eine ähnlich starke russischstämmige Minderheit - angesichts der Geschehnisse in der Ukraine durchaus verstehen. Und wie man im Gespräch durchaus bestätigt bekommt, dürften wohl die meisten jetzt erst recht froh sein, dass ihre Staaten vor zehn Jahren der NATO beigetreten sind.

Auf der Strecke lassen sich sogar etliche Läufer entdecken, auf deren T-Shirt ein Logo mit der Aufschrift "NATO Latvija 10" zu sehen ist. Die in ihnen steckenden Sportler arbeiten in Ministerien oder beim Militär. Man sieht allerdings auch Trikots mit den Aufschriften "Russia" und "Ukraine" oder die dazugehörenden Fahnen. Und das, worin man ansonsten kaum mehr gesehen hätte als eine Geste der Heimatverbundenheit, bekommt im Frühjahr 2014 eine ziemlich politische Note.

Dort wo die Grünanlage in der Mitte endet und sich der Freiheitsboulevard deutlich verengt, ist eine weitere Bühne aufgebaut, auf der ein zweiter Chor Position bezogen hat. Noch fünfhundert weitere Meter geht es die nun nur noch "Brivibas iela" heißenden Straße hinauf und dabei an einem recht uneinheitlichen Mix aus Alt und Neu, aus kunstvoll verzierten Jugendstilfassaden und glatten Glasfronten vorbei. Am auffälligsten ist noch die gelb-grüne, ebenfalls orthodoxe Alexander-Newski-Kirche.

Der "Kulturkilometer" ist tatsächlich kaum länger, als sein Name besagt, und wird mit einer zweiten Wende um hundertachtzig Grad abgeschlossen. Und ohne weitere Umwege dürfen die Läufer gleich wieder zurück zum Freiheitsdenkmal mit den dort versammelten Sängern und Tänzern. Da man auf der schnurgeraden Achse nicht nur die roten Tafeln mit der "12" und "13" passiert sondern zudem eine "40" und eine "41" zu Gesicht bekommt, ist auch klar, dass dieser Abschnitt noch einmal als krönender Abschluss des Rennens anstehen wird.

Neben der Atmosphäre rund ums Monument sorgt natürlich die dieser Streckenführung geschuldete Möglichkeit, eigenen Freunde oder Angehörigen innerhalb kürzester Zeit gleich doppelt zu Gesicht zu bekommen, verstärkt dafür, dass sich ausgerechnet an dieser Stelle wieder erkennbar mehr Zuschauer eingefunden haben, selbst wenn ihre Zahl dann doch nicht ganz an die Zusammenballung an der Brücke bei Start und Ziel heran reicht.

Dort gleich mehrere rote Fähnchen mit dem Schweizerkreuz zu sehen, überrascht aber trotzdem. Beim Durchforsten der Ergebnislisten lässt sich aber in der Rubrik "Vereinsbezeichnung" alleine rund fünfzigmal der Eintrag "SSC Langnau" entdecken, womit der Club aus dem Großraum Zürich, zumindest im internationalen Wettbewerb um die stärkste Gruppe ziemlich weit vorne platziert sein dürften. Ihren eigenen Anhang haben die Eidgenossen eben auch gleich mitgebracht.

Hinter dem Freiheitsplatz wird aus dem breiten Boulevard schnell ein schmales Gässchen. Selbst wenn sich durchaus auch im alten Zentrum einige modernere Gebäude in die Häuserreihen hinein gemogelt haben, könnte der optische Kontrast kaum größer ausfallen. Und auch unter den Füßen merkt man einen Unterschied. Denn zum Durchqueren der Innenstadt haben die Läufer nun tatsächlich einen halben Kilometer über Kopfsteinpflaster zurück zu legen.

Kurz nach dem Eintauchen in die Enge von Vecriga öffnet sich die Gasse allerdings auch schon wieder. Denn man passiert "Livu laukums", den nach dem Volk der Liven benannten Platz, der als das eigentliche Tor zur Altstadt gilt. Ein Teil seiner Fläche wird von einigen kleinen Grünflächen eingenommen, auf einem anderen haben sich jene Gastwirtschaften, die in der Gruppe bunt gestrichener, historischer Häuschen an der Westseite eingezogen sind, noch etwas weiter in Freie ausgebreitet.

Allzu viel Betrieb herrscht nicht, als die Marathonis dort zum ersten Mal vorbei kommen. Denn zum einen ist es noch immer relativ früh, zum anderen ist den Morgen zwar nicht wirklich kalt, aber eben doch eher bedeckt. Nachdem sich später aber die Sonne durchsetzen wird, sind die Stühle dort schon bei der zweiten Passage recht gut belegt. Und nach dem Rennen wird wie schon am Vortag bei strahlendem Frühlingswetter kaum ein freies Plätzchen in den Straßencafés und Biergärten der Altstadt zu finden sein.

Daneben ragen in der von der Laufstrecke am weitesten entfernten Ecke des Platzes zwei Gebäude auf, die mit ihren verschnörkelten Formen ein wenig an ein Märchenschloss im Disneyland erinnern. Mittelalterlich sind die "Große Gilde" und die "Kleine Gilde" zwar nicht, sie wurden vielmehr erst Mitte des neunzehnten Jahrhundert im damals aktuellen neugotischen Stil erbaut. Doch reichen zumindest die beiden Gesellschaften, die sie errichteten und ihnen den Namen gaben, tatsächlich bis in diese Zeit zurück.

Während in der "Großen Gilde" die Kaufleute organisiert waren, gehörten die Handwerker traditionell der "Kleine Gilde" an. In beiden waren allerdings die Deutschbalten, die über viele Jahrhunderte die Oberschicht und zudem auch die zahlenmäßig größte Bevölkerungsgruppe Rigas bildeten, bis zuletzt weitgehend unter sich. Erst kurz vor der vorletzten Jahrhundertwende waren die Letten in der innerhalb kürzester Zeit stark anwachsenden Stadt schließlich in der Überzahl.

Doch weiterhin spielten die Deutschstämmigen politisch und wirtschaftlich eine wichtige Rolle. Selbst im unabhängigen Lettland der Zwanziger und Dreißiger behielten sie in kultureller Hinsicht noch viele Freiheiten wie zum Beispiel deutschsprachige Schulen. Erst nachdem im Hitler-Stalin-Abkommen das Baltikum zum sowjetischen Einflussbereich erklärt worden war, wurden die letzten von ihnen - nur bedingt freiwillig - ins Deutsche Reich umgesiedelt. Der wohl bekanntester aller Deutschbalten dürfte der in Riga geborene und aufgewachsene Komiker Heinz Erhardt sein.

Hinter "Livu laukums" rücken die Häuserzeilen noch etwas enger zusammen, bevor man den nächsten Platz erreicht, auf dem sich eine "Egle" - das lettische Wort für "Fichte" - genannte Mischung aus Biergarten, Open-Air-Bühne und Kunsthandwerkmarkt befindet. Den Plan, die durch den Abriss eines Gebäudes aus sowjetischer Zeit freigewordenen Fläche und die gesamte Innenstadt dadurch zu beleben, kann man angesichts dort zu fast jeder Tageszeit herrschenden Trubels als voll gelungen bezeichnen.

Dahinter ragt das Rathaus der Stadt auf. Doch dreht es seine Hauptfront eher dem "Egle" diagonal gegenüber liegenden Platz mit Namen "Ratslaukums" zu, den die Marathonis wenige Schritte später betreten. Von dort aus wirkt das Gebäude mit dem markanten Uhrturm ziemlich historisch. Aus anderen Perspektiven wird allerdings schnell klar, dass die Fassade nur vorgesetzt ist und sich dahinter ein wesentlich größerer moderner Trakt anschließt.

Bei 10 km Rennen der Frauen ist Liina Luik (rechts) vor ihrer Drillingsschwester Laila erfolgreich

Und selbst das, was alt erscheint, hat in Wahrheit gerade einmal etwas mehr als ein Jahrzehnt auf dem Buckel. Der ursprünglich aus dem siebzehnten Jahrhundert stammende Vorgängerbau war nämlich im Zweiten Weltkrieg vollkommen zerstört worden. Und die säulengeschmückte Vorderfront ist nur eine Rekonstruktion, die anhand alter Zeichnungen und Fotos allerdings so originalgetreu wie nur irgend möglich vorgenommen wurde.

Nicht anders verhält sich mit dem noch viel auffälligeren Gebäude gegenüber, das eigentlich auf kaum einer Ansichtskarte aus Riga fehlen darf. Das "Schwarzhäupterhaus" mit seinem vielfältig verzierten Giebel hat sich inzwischen längst wieder zum wichtigsten und unverwechselbaren Wahrzeichen der Stadt entwickelt. Doch auch von diesem architektonischen Juwel war nach dem Krieg nicht mehr viel übrig. Und die letzten verbliebenen Reste wurden später dann noch gesprengt.

Doch vergessen war der im vierzehnten Jahrhundert begonnen und später mehrfach leicht umgestaltete Prachtbau eigentlich nie, so dass man bald nach der lettischen Unabhängigkeit ein Projekt zu seiner Wiedererrichtung begonnen wurde. Nach jahrelangen Bauarbeiten erstrahlt es seit 1999 nun wieder im alten Glanz. Wohl kein Besucher der Stadt lässt sich deswegen dann auch diese einzigartige Sehenswürdigkeit entgehen, selbst wenn er die Tourist-Information im Erdgeschoss überhaupt nicht benötigt.

Die ungewöhnliche Bezeichnung des eigentlich aus zwei Häusern bestehenden Gebäudeblocks stammt von der "Compagnie der Schwarzen Häupter", die als Gemeinschaft der jungen und unverheirateten Kaufmannsgesellen vor allem in den östlichen Hansestädten existierte und auch den Niedergang des Bündnisses überdauerte. Belegt ist, dass schon im fünfzehnten Jahrhundert dort Versammlungen der Vereinigung abgehalten wurden. Etwa dreihundert Jahre später ging der Bau dann endgültig in ihren Besitz über.

Neben dem Eingang ist die eine Figur des heiligen Mauritius zu sehen, der Schutz- und wohl auch Namenspatron der Schwarzhäupter ist. Denn nicht nur in Riga wird dieser Märtyrer meist als Schwarzafrikaner dargestellt. Es gibt allerdings noch eine weitere Erklärung, die sich auf den Gegensatz der jungen, noch "schwarzhäuptigen" Gesellen zu dem "Grauen Häuptern" der alten Kaufleute im Rat bezieht.

Während alles ringsherum in Schutt und Asche gelegt wurde, überstand die Rolandstatue in der Mitte des Platzes sowohl die gewaltsame Eroberung durch deutsche Truppen 1941 als auch die schweren Gefechte des Jahres 1944, nach denen die Rote Armee die Stadt einnahm, nahezu vollständig unbeschädigt. Denn nicht nur in Bremen, wo die wohl bekannteste dieser Figuren zu finden ist, sondern auch in vielen anderen Städten steht ein Ritter mit gezogenem Schwert als Symbol die Stadtrechte.

Das Rigaer Monument ist allerdings deutlich kleiner ausgefallen als sein berühmter Bruder weiter im Westen - und zudem auch längst nicht so alt. Denn während viele andere Rolande aus dem Mittelalter und der Zeit der Hanse stammen, wurde die Statue in der lettischen Hauptstadt in ihrer aktuellen Form erst Ende des neunzehnten Jahrhunderts aufgestellt. Und außerdem ist es inzwischen auch nur noch eine Kopie. Das Original befindet sich dagegen im Museum.

Doch nicht nur wegen der Ritterfigur lässt sich eine relativ enge Verbindung zu Bremen ablesen, das genau wie Rostock zu den Partnergemeinden Rigas gehört. Dass der Stadtgründer Albert ursprünglich aus Bremen stammt, spielt dabei sicher eine Rolle. Jedenfalls sollte man nicht überrascht sein, wenn auf dem Plätzchen neben der Petrikirche auf einmal eine Skulptur mit Esel, Hund, Katze und Hahn auftaucht. Die Bremer Stadtmusikanten haben sich nämlich auch in Riga zu ihrem bekannten Turm formiert.

Mitten in diesem - wenn auch nicht wirklich historischen, aber zumindest historisierenden - Ensemble stellt jener dunkler, rechteckiger Betonklotz, der wie ein Riegel quer über die Westseite des Platzes ragt, einen totalen Fremdkörper dar. Doch ist auch dieser heftige Bruch durchaus beabsichtigt. Denn der "Schwarze Sarg", wie die Letten das Gebäude despektierlich nennen, soll auch die negativen Seiten der Geschichte präsent halten.

In dem Kasten aus den frühen Siebzigern, dem wohl kaum jemand extreme Hässlichkeit absprechen dürfte, befindet sich nämlich nun das neue - derzeit aufgrund größerer Umbaumaßnahmen allerdings in ein anderes Gebäude ausgelagerte - Okkupationsmuseum, das sich sowohl mit der langen Zeit der sowjetischen Besetzung als auch mit dem während des Zweiten Weltkrieges drei Jahre andauernden Intermezzo unter dem Hitler-Regime beschäftigt.

Ursprünglich beherbergte der Bau ein Museum für die "Roten Lettische Schützen", die in den Wirren der Bürgerkriege nach dem Zerfall des Zarenreiches auf Seiten der Bolschewisten unter anderem für die Errichtung einer Lettische Sowjetrepublik kämpften, wobei sie sich aber gegen den Widerstand deutschbaltischer Freiwilligenverbände und national-lettischer Einheiten am Ende nicht durchsetzen konnten. Hinter dem Ausstellungsgebäude steht für sie sogar noch ein - auch nicht wirklich gelungeneres, irgendwie typisch sozialistisches - Denkmal.

Dort endet der kurze Abstecher ins historische Zentrum an "Akmens tilts", der zweiten wichtigen Daugava-Querung im Stadtkern, deren Namen ähnlich wie bei der "Seilbrücke" ziemlich profan mit "Steinbrücke" übersetzt werden kann. Doch verzichten die Kurssetzer auf einen erneuten Abstecher ans Westufer und lassen die Läufer einen scharfen Haken nach rechts schlagen. In nur noch etwa zweihundert Metern Entfernung befände in dieser Richtung der Zielstrich.

Mit rund fünftausend Anmeldungen sind die zehn Kilometer quantitativ weitaus stärker besetzt als der Marathon, entsprechend lang und dicht ist die Läuferschlange

Allerdings fehlen selbst den Halbmarathonläufern noch sieben Kilometer für ihre Distanz. So macht die Strecke nach dem Verlust einer Handvoll Höhenmeter dann auch kurz darauf eine Spitzkehre, taucht unter der Brücke hindurch und strebt erst einmal flussaufwärts. Die insgeheime Frage, weshalb man denn nicht gleich nach links abbiegen durfte, wird beantwortet, wenn man die in diesem Moment über dem Feld rollenden Autos entdeckt. Die Zufahrt von "Akmens tilts" ist so nämlich frei geblieben und der Verkehr wird nicht noch mehr behindert als ohnehin schon.

Ein längeres Stück, das auf der parallel zur Düna verlaufenden Ausfallstraße hinaus und dann genau auf dem gleichen Weg wieder zurück führt, bringt die zusätzlichen Kilometer. Das Rigaer Streckenkonzept erinnert für den Marathon dadurch irgendwie stark an sein Mainzer Pendant. Denn ähnlich wie in der Karnevalshochburg sind grob gesprochen das erste und das letzte Drittel identisch. Der mittlere Abschnitt der Strecken führt dagegen größtenteils über nur einmal zu durchlaufende Straßen.

Einer der Vorteile dieses Konzeptes ist auch, dass die Spitze aufgrund des eingeschobenen Zwischenstückes schon dreimal so schnell laufen müsste wie die Langsamsten, damit es überhaupt zu Überrundungen kommen kann. Bei "normalen" Zwei-Runden-Kursen reicht dagegen schon rein mathematisch die doppelte Geschwindigkeit der Spitzenläufer, um sie noch vor dem Ziel den Schwanz des eigenen Feldes erreichen zu lassen.

Doch die Ähnlichkeiten zu Mainz gehen sogar noch etwas weiter. Denn genau wie am Rhein durchläuft man in Riga bei Kilometer vierzehn die Altstadt und kommt dabei in ziemliche Zielnähe, bevor für beide Distanzen noch ein längerer Wendepunktabschnitt ansteht. Bei den Marathonis, folgt dann bald dem nach dem Durchlauf noch eine weitere Extraschleife, die zwischenzeitlich von der "Hauptroute" abzweigt, später aber wieder genau endet, wo sie auch begonnen hat.

Weder optisch noch hinsichtlich der Stimmung ist diese nun gleich doppelt zu absolvierende Passage zum Wendepunkt eine echte Bereicherung für den Kurs. Sie wird einfach nur benötigt, um die richtige Streckenlänge zusammen zu bekommen. Denn bezogen auf den eigentlichen urbanen Siedlungsbereich ist Riga eine eher kleine Metropole, die sich schnell in ziemlich austauschbare Vorstädte verliert.

Die siebenhunderttausend Einwohner gaukeln jedenfalls diesbezüglich ein etwas falsches Bild vor. Noch vor einem Vierteljahrhundert näherte sich die Einwohnerzahl sogar einer vollen Million. Doch zum einen ist die Tendenz diesbezüglich in ganz Lettland durch Abwanderung und eine niedrige Geburtenrate deutlich fallend. Zum anderen zieht es immer mehr Menschen, die es sich leisten können, eben auch aus den eher trotzlosen Plattenbausiedlungen in die Gemeinden des Umlandes.

Auch in dieser Hinsicht lässt Riga also die Sowjetunion und den Sozialismus immer stärker hinter sich. Doch ihre architektonischen Spuren sind nicht nur im umgewidmeten Museum oder den Wohnblocks der Außenbezirke sichtbar. Im wahrsten Wortsinne herausragendes Beispiel ist vielmehr der Turm der Wissenschaftsakademie, der südlich von Altstadt und Hauptbahnhof in den Himmel ragt und in der Höhe mit den Spitzen der Rigaer Kirchen wetteifert.

Immerhin ist das Hochhaus - aus welchen Gründen auch immer - von seinen Baumeistern zum Glück nicht auch noch mitten zwischen den historischen Glockentürmen platziert worden. Denn mit seiner doch ziemlich bombastisch geratenen Architektur, die man inzwischen spöttisch als "stalinistischen Zuckerbäckerstil" bezeichnet, hätte es das markante Stadtpanorama Rigas wohl ziemlich entstellt.

Ähnlich wie sein großer Bruder, der noch einmal mehr als doppelt so hohe Kulturpalast von Warschau, ist der Bau ganz offiziell ein "Geschenk" Stalins. Doch sowohl die Letten als auch die Polen hätten - nicht nur angesichts des gewöhnungsbedürftigen Aussehens sondern gerade auch wegen des selbstverständlich darin unterschwellig enthaltenen Herrschaftsanspruches - vermutlich gerne auf diese Gabe verzichtet.

Der stufige Turm steht eigentlich recht passend in "Maskavas forštate" - ein Begriff, hinter dem man mit ein wenig Phantasie durchaus ein ursprünglich deutsches "Moskauer Vorstadt" erkennen kann. Doch mit dem Stalin-Geschenk hat der Name des Stadtteiles nichts zu tun. Er ist weit älter und hängt mit der Landstraße nach Moskau zusammen, die durch ihn hindurch und dann aus Riga hinaus führt. Noch immer ist der Bezirk allerdings weitgehend russisch bewohnt und gilt inzwischen auch als ein wenig herunter gekommen.

Neben der Wissenschaftsakademie ist er vor allen wegen der vielen noch erhaltenen alten Holzhäuser im Straßenbild bemerkenswert. Meist sind sie nur ein oder zwei Stockwerke hoch und fallen schon deswegen inmitten der in der Regel höheren Steinhäuser, zwischen die sie sich mischen, ein wenig aus dem Rahmen. Allerdings ist zum Beispiel auch die Jesuskirche mit ihrem fast vierzig Meter hohen Glockenturm komplett aus Holz erbaut.

Je weiter man die Stadt hinter sich lässt, umso ähnlicher wird die Straße einer Autobahn. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hatte der Ansager am Start mit seiner Aussage nicht auf diesen Teil der Strecke angespielt, aber dass er mit seinen Worten nicht einmal völlig unrecht hatte. das zeigt letzte Stück bis zur Wende. Immerhin sorgt der Gegenverkehr auf der anderen Spur dafür, dass ausreihend Abwechslung entsteht.

Die Umkehrpunkte sind für beide Rennen allerdings nicht identisch. Die Marathonis müssen einen vollen Kilometer weiter hinaus als die Läufer auf der Halbdistanz. Der hierzulande in vergleichbaren Konstellationen oft übliche fliegende Wechsel, der es ermöglicht, sich praktisch erst mit dem Zieldurchlauf nach einundzwanzig Kilometern für eine der beiden Distanzen zu entscheiden, ist in der lettischen Hauptstadt von den Organisatoren ist aber eigentlich sowieso nicht vorgesehen.

Die Halbmarathonläufer wenden ziemlich genau auf der Höhe des auf einer Insel in der Daugava stehenden Fernsehturmes von Riga. Mit seinen knapp dreihundertsiebzig Metern ist er nicht nur das eindeutig höchste Bauwerk in Lettland. Die Spitze der Dreieckspyramide überragt sogar die höchste natürliche Erhebung des ziemlich flachen Landes, den etwa hundert Kilometer östlich gelegenen "Gaizinkalns" um mehr als fünfzig Meter. Nirgendwo als an dieser Kuppe wird auf lettischem Territorium ansonsten überhaupt die Dreihundert-Meter-Linie übertroffen.

Dagegen laufen die Marathonis an ihm vorbei noch ein ganzes Stück weiter geradeaus. Erst einen Kilometer später, auf dem abgesehen von einigen relativ neuen Großmärkten, Autohäusern und Bürogebäuden wenig am Rand der inzwischen ein Stück vom Ufer entfernt verlaufenden Straße zu sehen gibt, dürfen auch sie wenden, um sich bald darauf dann noch einmal - nun allerdings deutlich weiter hinten - in das Feld der weitaus zahlreicheren Teilnehmern über die halbe Distanz einzureihen.

Auch nachdem der Fernsehturm endgültig aus dem Blickfeld geraten ist, gibt es gute optische Orientierungspunkte am Horizont. Neben dem schon aus größerer Distanz sichtbaren Turm der Wissenschaftsakademie zählen dazu auch die fünf Stahlbögen von "Dzelzceja tilts", was in der bereits gewohnten Nüchternheit lettischer Benennungen nichts anderes als "Eisenbahnbrücke" bedeutet. Es handelt sich wegen des ziemlich grobmaschigen Bahnnetzes in Lettland allerdings auch tatsächlich um die einzige Daugava-Brücke im Großraum Riga, über die Züge rollen.

Eine andere weithin sichtbare Landmarke ist die neue Nationalbibliothek, Wie ein riesiger dreieckiger Eisberg ragt sie zwischen Eisenbahn- und Steinbrücke am linken Ufer des Stromes fast siebzig Meter in die Höhe. Ob "Gaimas pils", das "Schloss des Lichts" wirklich gelungen ist, darüber kann man durchaus geteilter Meinung sein. Auffällig und unübersehbar ist es jedoch auf jeden Fall.

Als eine der ersten Aktionen des Kulturjahres wurde "Latvijas Nacionala biblioteka" im Januar offiziell eingeweiht. Und auch dabei bildeten tausende Menschen eine kilometerlange Kette zwischen dem alten Domizil und dem Neubau, in der Bücher symbolisch von Hand zu Hand weiter gereicht wurden. Bis tatsächlich alle Bände umgezogen sind und die Bibliothek ihre volle Funktionsfähigkeit erreicht hat, wird es allerdings noch einige Monate dauern.

Erst unter der "Eisenbahnbrücke" und dann unter der "Steinbrücke" hindurch geht es dem Ziel entgegen, das für die Marathonläufer natürlich erst einmal nur eine Zwischenmarke darstellt. Nur wenige Meter voneinander entfernt stehen eine rote "23" und jene grüne "21", an der Helfer die Läufer wieder auseinander dividieren. Wer eine grüne Nummer auf dem Bauch hat, wird nach rechts gewunken und kann aufhören, links muss - oder darf - man weiter laufen.

Der Erste, der nach einundzwanzig Kilometern wieder am Ausgangspunkt ankommt, ist Ibrahim Mukunga Wachira aus Kenia, der nach einem Blitzstart schon früh ganz alleine vor dem Feld her läuft. Ein wenig lässt er auf der zweiten Hälfte aber nach, kann seinen auf den ersten Kilometer heraus gelaufenen Vorsprung nicht weiter ausbauen und bleibt mit 1:05:56 am Ende etwas mehr als eine Minute vor dem 1:07:08 laufenden Letten Janis Girgensons. Renars Roze benötigt dahinter 1:09:17 für seinen dritten Rang.

Der Kenianer kann am Ende sogar froh sein, dass die Marathonis unterwegs zu einem etwas weiteren Bogen ausholen. Denn die Spitzenläufer auf der langen Distanz halten ihr am Anfang angeschlagenes Tempo weitaus besser und passieren deswegen ihrer Halbzeitmarke sogar noch einige Sekunden, bevor Wachira den Helferinnen am Ziel das hingehaltene Siegerband aus den Händen reißen kann.

Bei den Damen ist die schon erwähnte Jelena Prokopcuka wenig überraschend eine Klasse für sich. Nur sieben Männer überqueren die Ziellinie, bevor die New-York-Siegerin in 1:14:53 einläuft. Auch noch unter den ersten Zwanzig im Gesamteinlauf landen die mit der Siegerin den Vornamen teilende Jelena Abele mit 1:19:09 und die aus Polen stammende Berglaufspezialistin Anna Celinska mit 1:20:15.

Die schon bekannte Innenstadtrunde vorbei an Freiheitsdenkmal und Rathausplatz schließt die Strecke ab und bringt die Läufer zum Ziel am Flussufer

Diejenigen, die auf der linken Spur weiter gelaufen sind, begeben sich erst einmal auf jene eineinhalb Kilometer, die sei schon aus der Startphase kennen. Doch danach bleibt man diesmal wesentlich länger auf "Hanzas iela" und läuft deswegen erst einmal an den Jugendstilhäusern von Centrs vorbei, um die etwa fünf Kilometer lange Zusatzschleife durch genau jenen Außenbezirk in Angriff zu nehmen, den man schon von der Abholung der Startunterlagen kennt.

Deren erster Abschnitt wird dabei ebenfalls wieder im Begegnungsverkehr absolviert. Doch als man die letzten älteren Gebäude hinter sich gelassen hat und das weiträumig angelegte, neue Gewerbegebiet erreicht hat, kommen die etwas schnelleren Läufer gerade aus einer Seitenstraße zurück auf die Strecke gebogen, während der Hinweg die Marathonis noch einen Kilometer weiter geradeaus führt.

Fast zwei Dritteln der Distanz hat man nun hinter sich. Und in dieser Phase, in der es doch langsam etwas zäher wird, könnte so mancher ein wenig zusätzlichen Schwung gut gebrauchen. Aber die langen und breiten Geraden, die man auf diesem Schlenker unter den Füßen hat, sind genauso wenig motivierend wie das längst ausgedünnte und in seine Einzelteile zerfallene Feld oder der zwischen den meist unbewohnten Zweckbauten natürlich ziemlich überschaubare Publikumszuspruch.

Selbst aus den - ihrem Aussehen nach erst wenige Jahre alten - Wohnhochhäusern, die entferntesten Punkt der Wendeschleife markieren, haben sich nicht unbedingt viele Menschen an den Marathonkurs verirrt. Immerhin kann der Discjockey, der zu ihren Füßen mit - diesmal polnischer - Musik für Abwechslung sorgt, dank der auf den Nummern verzeichneten Vornamen auch einige zusätzliche persönliche Anfeuerung einstreuen.

Und nicht anders macht es auch sein Kollege mit den schwedischen Hits an der Verpflegungsstelle vor der großen Eishockeyhalle, die man kurz nach dem ebenfalls passierten Sportzentrum erreicht. Dass er die Nummer seines Versorgungspostens, an dem man seinen Worten zufolge doch bitte reichlich zugreifen solle, allerdings mit "this is number thirteen" verkündet, stimmt nicht ganz. Er hat sich ein wenig verzählt. Denn nach achtundzwanzig Kilometern hat man bei ihm erst zum elften Mal die Möglichkeit, Getränke zu fassen.

Der dreißigste Tausend-Meter-Abschnitt bringt die Läufer auf schon bekannte Pfade zurück. Denn nun biegen sie von der anderen Seite kommend dann doch noch in die Neustadt und auf jenen ersten Schlenker ein, der zur Vanšu-Brücke führt. Und während sich das Hauptfeld auf dieser noch ein weiteres Mal auf den Weg hinüber nach Kipsala macht, haben weiter unten nur ein kleines Stück flussaufwärts bereits die Zieleinläufe der Schnellsten begonnen.

Obwohl auch in Riga kein Europäer um den Sieg mitkämpfen kann, geht der erste Platz dabei trotzdem nicht in eines jener beiden Länder in Ostafrika, die ansonsten meist die Sache unter sich ausmachen. Ein Mann aus Ostasien schnappt den erfolgsgewohnten Kenianern und Äthiopiern nämlich die dickste Prämie weg. Und da Yu Chiba aus Japan mit 2:13:44 außerdem auch einen neuen Veranstaltungsrekord auf den lettischen Asphalt legt, dürfte sie sogar noch ein paar Euro höher ausgefallen sein.

Zusammen mit dem Äthiopier Desta Beriso Morkama hat sich der Mann aus dem Land der aufgehenden Sonne früh an die Spitze des Rennens gesetzt und einen kleinen Vorsprung auf Geoffrey Gikuni Ndungu und den Vorjahressieger und Streckenrekordhalter Duncan Koech heraus gelaufen. Doch auf der zweiten Schleife über die Daugava-Insel kann das kenianische Duo die maximal zwanzig Sekunden große Lücke kurz vor Rennende wieder schließen, so dass alle vier gemeinsam auf den Schlussabschnitt durch Stadtzentrum gehen.

Auch fünf Kilometer später, am Wendepunkt auf dem Freiheitsboulevard ist die Situation noch unverändert. Und erst als es zum vierten und letzten Mal unter den Bändern am Monument der lettischen Unabhängigkeit hindurch geht, hat es der das Tempo forcierende Chiba geschafft, eine kleines Loch gegenüber seinen Begleitern zu reißen und diese auf dem Weg durch die Altstadt bis ins Ziel zu verteidigen.

Geoffrey Gikuni Ndungu, der neben zwei Siegen beim Dublin Marathon und einem beachtlichen Hausrekord von 2:08:33 auch schon einen ersten Platz beim völlig anders profilierten Jungfrau Marathon in seinen Meriten stehen hat, folgt mit 2:13:50 gerade einmal sechs Sekunden später. Auch der nun entthronte Duncan Koech knackt nach 2:13:59 knapp die Marke von 2:14. Und Desta Beriso Morkama bleibt - selbst wenn auf zwei Kilometern noch eine Dreiviertelminute verliert und in 2:14:32 gestoppt wird - ebenfalls klar unter dem alten Rigaer Bestleistung.

Weit weniger eng geht es bei den Frauen zu. Nach der Halbmarathonmarke kann sich die Äthiopierin Tigist Teshome Ayanu nämlich deutlich von Naomy Chepkosgei Chebone, die sie bis dahin begleitet hatte, absetzen und in 2:36:51 ebenfalls mit einem neuen Streckenrekord gewinnen. Die Kenianerin lässt einer 1:17 auf der ersten Hälfte eine 1:29 im zweiten Streckenteil folgen und muss nach 2:46:42 sogar nur mit Rang drei vorlieb nehmen.

Die langsamer startende Amerikanerin Ariana Hilborn fängt die Ostafrikanerin nämlich mit ihrer 2:40:23 noch sicher ab. Zumindest einen halben Treppchenplatz können die Letten so für sich verbuchen. Denn die Eltern der Zweitplatzierten stammen aus Lettland. Bis allerdings die erste "echte" Einheimische einläuft, vergeht dann wirklich viel Zeit - und das obwohl Liene Bernsone immerhin Vierte wird. Doch werden für sie eben trotzdem nur 3:02:16 notiert. Da sind die 2:17:44 von Valerijs Žolnerovics, der bei den Männern Fünfter wird, doch von ganz anderer Qualität.

Dass auf den kürzeren Distanzen weit mehr lettische Namen auf den vorderen Positionen der Ergebnislisten zu finden sind, erstaunt nicht unbedingt. Den Zehner, der auf der Innenstadtrunde inklusive doppelten Brückenüberquerung, aber ohne Wendeschleife durch die Wohngebiete von Kipsala ausgetragen wird, gewinnt zum Beispiel Dmitrijs Serjogins in 30:07 vor dem 30:47 laufenden Andrejs Dmitrijevs und ihrem 31:08 benötigenden Landsmann Normunds Boks.

Über die halb so lange Strecke ist Alberts Blajs in 14:43 der Schnellste. Eigentlich sind die fünf Kilometer für ihn allerdings beinahe schon eine Überdistanz. Denn im Normalfall zieht der achtzehnjährige Junior noch kürzere Rennen auf der Bahn vor. Kaum älter als der Sieger - nämlich zwanzig und einundzwanzig - sind seine Vereinskameraden Reinis Hartmanis und Dmitrijs Serjogins, der in 14:52 und 15:15 die folgenden beiden Plätze belegen.

Eindeutig die Jüngste, die bei der Siegerehrung aufs Podest gerufen wird, ist dann aber doch Patricija Eiduka. Denn die Dritte in der Gesamtwertung bei den Frauen - ein in diesem Fall eventuell nicht ganz zutreffender Begriff - gehört dem Jahrgang 2000 an. Ihr reichen allerdings 20:25 für den Treppchenplatz. Und auch die 19:04, die Liga Girgensone auf Rang zwei bringen, und die 18:38, die Diana Panovska für den Sieg genügen, sind vom sportlichen Wert deutlich schwächer als die Ergebnisse bei den Herren.

Der Sieg über zehn Kilometer geht bei den Damen allerdings ins benachbarte Lettland. Liina Luik heißt die in 32:48 erfolgreiche Athletin. Wer das Rennen von außen verfolgt, wird sich eine Viertelminute später des Gefühls, dass da gerade jemand eine Wiederholung eingespielt hat, nur schwerlich erwehren können. Denn die Läuferin, die in 33:05 auf Platz zwei herein kommt, sieht absolut identisch aus. Dass sie Leila Luik heißt und genau das gleiche Geburtsdatum hat, genügt dann aber als Erklärung für das Déjà-vu.

Nach den vielen positiven Rückmeldungen wird der "Kulturkilometer" wohl auch in Zukunft Bestandteil des Rigaer Marathons sein
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Nun sind Zwillinge auch im Sport nichts absolut ungewöhnliches. Doch muss die lettische Dritte Jolanta Liepina angesichts ihrer 36:55 froh sein, dass die beiden nicht auch noch ihren dritten Drilling Lily mit nach Riga gebracht haben. Deren Leistungen waren zuletzt zwar ein klein wenig schwächer als die ihrer Schwestern. Aber es reicht, um in der estnischen Marathon-Bestenliste des Vorjahres drei der ersten vier Plätze zu belegen. Und die Reihenfolge über zehn Kilometer auf der Straße hat das Trio 2013 sogar komplett unter sich alleine ausgemacht.

Die klug gewählten Startzeiten sorgen dafür, dass die Zehner in den Schwanz des Marathonfeldes hinein laufen. Wer länger als viereinhalb Stunden unterwegs ist, bekommt deswegen von hinten zusätzliche Gesellschaft und kann die Spitzenathleten bewundern, während sie an ihm vorbei rauschen. Doch bald darauf wird die gerade in diesem Bereich und zu diesem Zeitpunkt ziemlich dünn gewordene Läuferschlange einfach durch das neue Rennen wieder aufgefüllt und weiter verlängert.

Die oft erschreckende Abwanderungsbewegung, die bei den meisten anderen Veranstaltungen mit einem gemeinsamen Start der Läufe über einundzwanzig und zweiundvierzig Kilometer einsetzt, wenn die Halbmarathonis alle im Ziel angekommen sind und nur noch das Mittel- und Hinterfeld des Marathons auf der Strecke ist, lässt sich so verhindern oder zumindest durch neu hinzu kommende Sportler und Zuschauer unmerklich ausgleichen.

Auch die Schnellsten auf der Fünf-Kilometer-Distanz müssen sich später zwischen den Langsamsten der doppelt so langen Strecke hindurch kämpfen. Das mag zwar aus sportlicher Sicht vielleicht weniger ideal sein, sorgt dann aber endgültig dafür, dass rund um das Unabhängigkeitsmonument, in der Altstadt und am Daugava-Ufer ein ununterbrochenes sechs- bis siebenstündiges Läuferfest gefeiert werden kann.

Die Rückmeldungen auf diese neue Streckenführung und die Atmosphäre in Medien und Internet sind so durchgehend positiv, dass den Ausrichtern wohl auch ohne Kulturhauptstadtstatus in Zukunft etwas anderes übrig bleiben dürfte, als den "Kulturkilometer" auf dem Freiheitboulevard weiter fortzuführen. Schließlich ist eindeutig der Höhepunkt eines - trotz der einen oder anderen weniger eindrucksvollen Streckenabschnitts - ziemlich abwechslungsreichen, freundlich-fröhlichen und ausgezeichnet organisierten Laufes.

Noch ist Riga eine eher unbekannte Metropole in einer Region Europas, die man irgendwie nicht wirklich im Blickfeld hat, obwohl sie gar nicht weit entfernt ist. Und der Marathon alleine wird daran auch erst einmal wenig ändern können. Doch vielleicht kann er ja ein wenig dazu beitragen zumindest in Läuferkreisen den Status dieser einerseits recht großen und doch irgendwie eher kleinen, dieser neuen und doch so alten Hauptstadt zu verbessern.

Bericht und Fotos von Ralf Klink

Info & Ergebnisse www.nordearigasmaratons.lv

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