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21. Marathon de Montréal - (Kanada - 25.9.11)Nordamerika mit französischem Akzent |
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von Ralf Klink
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Manchmal können Kleinigkeiten schon einen gewaltigen Unterschied machen, ein kleiner Strich über einen Buchstaben zum Beispiel. "Akzent" nennt man so ein Schriftzeichen, das eine Einfluss auf und Betonung des jeweiligen Wortes hat, auch wenn man diesem Begriff meist in etwas ande-rer Bedeutung benutzt. Oder im Französischen, das sich ihrer besonders häufig bedient, eben "accent". Doch sind diese Symbole nicht nur für die Intonation relevant. Sie können durchaus auch einen weit darüber hinaus gehenden Stellenwert haben. Exemplarisch dafür ist die kanadische Stadt, die man hierzulande in der Regel "Montreal" schreibt. Und auch in Kanada selbst benutzt man ihren Namen meist in dieser Form. Allerdings nur dann, wenn man nicht aus der Region stammt. Dort hat "Montréal" nämlich einen Akzent.
Einen französischen Akzent wohlgemerkt. Denn die Provinz Québec, in der die Stadt liegt, wird weitgehend von Kanadiern bewohnt, die Französisch als Muttersprache haben. Schließlich ist entgegen einer allgemein verbreiteten Ansicht das Land keineswegs komplett englischsprachig. Rund ein Viertel der Gesamtbevölkerung gehört zur auf Deutsch "Frankokanadier" genannten Gruppe. Und in ihrem Kernland Québec stellen sie rund achtzig Prozent der Einwohner. Nicht einmal ein Zehntel ist dagegen dort von Kindesbeinen an mit Englisch aufgewachsen.
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Vom Hausberg Mont Royal aus liegt dem Betrachter ganz Montréal zu Füßen |
Weit mehr als Lokalpatriotismus ist der kleine Strich über dem "e" allerdings. Genau jene englische Dominanz im Rest des Landes, die so viele außerhalb seiner Grenzen glauben lässt, dass diese Sprache in ganz Kanada gesprochen wird, macht ihn sehr wohl in gewissem Maß auch zu einem politischen Symbol.
Die Québecois wollen sich ihre eigene Identität eben unbedingt bewahren und keineswegs im anglophonen Einheitsbrei Nordamerikas aufgehen. Insbesondere, weil ihre Vorfahren ja als erste Europäer nach Kanada kamen und die Engländer erst viel, viel später auftauchten. Schon mehr als ein Jahrhundert vor dem britischen Union Jack flatterten die Lilien des Königs von Frankreich über dem Land.
Eine lange, wechselvolle gemeinsame und doch separate Geschichte prägt das Zusammenleben der zwei Bevölkerungsgruppen. Und nur mit viel Mühen konnten sich die Frankokanadier ihre Gleichberechtigung und die formale Zweisprachigkeit Kanadas erkämpfen. So macht es durchaus einen gewaltigen Unterschied, ob man den Namen der Stadt "Mo'reall" oder wie die Anglos "Monttrioal" ausspricht.
Nach Paris gilt Montréal als zweitgrößte frankophone Metropole. Beinahe zwei Millionen Menschen leben innerhalb ihrer administrativen Grenzen. In den direkt angrenzenden, formal selbstständigen, aber mit der Stadt völlig verwachsenen Vororten sind es noch einmal praktisch genauso viele. Rund ein Zehntel aller Kanadier und sogar fast die Hälfte aller Einwohner Québecs wohnen damit in Montréal und Umgebung.
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Über die gesamte Metropole reicht der Blick aus zweihundert Metern Höhe |
Nur der große Konkurrent Toronto im benachbarten Ontario erbringt mit über fünf Millionen Menschen in Kanada einen noch höheren Wert. Dagegen ist der auf dem dritten Platz der nationalen Rangliste einkommende Großraum Vancouver kaum halb so bevölkerungsreich. Auch bezüglich der Wirtschaftskraft ist Montréal - natürlich wieder hinter Toronto - im Lande die klare Nummer zwei.
Und im Hinblick auf Kunst und Medien geben sich die beiden ebenfalls nicht viel. Wenig überraschend sind sie im - zumindest für kanadische Verhältnisse - dicht besiedelten Osten die eindeutigen kulturellen Zentren. Fernsehsender, Verlage und Zeitungen, Theater, Museen und Konzerthallen ballen sich in ihnen. Tendenziell natürlich hauptsächlich für die jeweilige Sprachgruppe.
Doch eines hat man dem Erzrivalen voraus. Denn neben Calgary und Vancouver als Ausrichter von Winterspielen ist Montréal die einzige kanadische Stadt, in der bisher Olympischer Sommerspiele veranstaltet wurden. Das war zwar 1976, ist also bereits dreieinhalb Jahrzehnte her. Doch zumindest hat man spätestens seitdem einen auch in Europa einigermaßen bekannten Namen.
Man sollte eigentlich meinen, in so eine Metropole gehöre wie selbstverständlich auch ein traditionsreicher Marathon. Und tatsächlich wurde bereits drei Jahre nach den Spielen in Montréal das erste offene Rennen über zweiundvierzig Kilometer veranstaltet. Doch eine wirklich ununterbrochene Erfolgsgeschichte wurde nicht daraus. Gleich mehrfach gibt es Lücken in der Marathonhistorie der Stadt.
Die größte von ihnen klafft ausgerechnet zwischen 1997 und 2002 - also jener Zeit, in der hierzulande die Veranstaltungen wie Pilze aus dem Boden schossen. In der frankokanadischen Metropole findet dagegen erst wieder seit acht Jahren regelmäßig ein Marathon statt. Die offizielle Zählung kommt jedoch für den Lauf 2011 nicht etwa auf die Ordnungsnummer neun sondern auf einundzwanzig Austragungen. Einige - allerdings nicht alle - Vorgänger werden also noch mitgerechnet.
Einen Marathon hat man nun also wieder, doch sind die Teilnehmerzahlen für eine Stadt dieser Größenordnung nicht wirklich beeindruckend. Inzwischen ist man zwar über zweitausend Marathonis angekommen, allerdings bewegt sich Montréal damit gerade einmal in Bereichen, in die hierzulande deutlich kleinere Städte wie Düsseldorf oder gar Münster mit ihren Veranstaltungen vorstoßen.
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Alte und neue Gebäude bilden in Montréal eine bunte Mischung | Der Marché Bonsecours, die alte Markthalle prägt das Bild am früheren Hafen |
Ohnehin ist die kanadische Marathonszene eher dünn aufgestellt. Die Zahl der Läufe bewegt sich selbst unter Berücksichtigung sämtlicher Kleinstveranstaltungen nur im mittleren zweistelligen Bereich. Und im internationalen Größenvergleich muss man fast schon bis zu Rang einhundert blättern, bevor man überhaupt auf das erste Rennen aus dem Land mit dem Ahornblatt stößt.
Das ist sicher zum Teil auch wetterbedingt. Lange und in den meisten Regionen auch ziemlich kalte Winter machen Kanada eben nicht unbedingt zu einem klassischen Läuferland. Doch gilt es natürlich auch die Weite des Landes zu berücksichtigen. Nur ungefähr fünfunddreißig Millionen Menschen verteilen sich auf ein Areal, in dem man die gesamte Europäische Union gleich zweimal unterbringen könnte.
Die kanadische Bevölkerung ist zwar ziemlich ungleich verteilt. In den arktischen Territorien Yukon, Northwest und Nunavut, die rund ein Drittel der Landesfläche ausmachen, leben gerade einmal insgesamt hunderttausend Menschen. Aber selbst die am stärksten besiedelten Provinzen Ontario und Québec kommen nicht einmal auf ein Zehntel der deutschen Bevölkerungsdichte.
Einen Marathon gleich um die Ecke zu finden, ist also abgesehen von den Metropolen nicht wirklich einfach. Die größten zehn Städte besitzen allerdings inzwischen alle eine Veranstaltung. Jedoch ist die übliche Reihenfolge - Toronto vor Montréal - dabei ein wenig durcheinander geraten. Denn der teilnehmerstärkste Lauf findet seit Jahren in der Hauptstadt Ottawa statt, dicht gefolgt vom Rennen in Vancouver.
Die größere der beiden Veranstaltungen in Toronto, der Waterfront Marathon im Herbst landete zuletzt meist auf Rang drei, hat aber den zweiten Westküstenlauf in Victoria, der Hauptstadt von British Columbia noch dicht im Nacken. Erst dahinter balgen sich bisher Montréal und der - nun ins Frühjahr ausgewichene - zweite Toronto Marathon um die Plätze fünf und sechs.
Obwohl diese Reihenfolge in den letzten Jahren in schöner Regelmäßigkeit zu beobachten war, sind die Unterschiede eher gering. Denn selbst Ottawa und Vancouver bewegen sich nur im Bereich von drei- bis viertausend Marathonis. Von Werten wie beim südlichen Nachbarn USA, wo neben den Megamarathons in New York und Chicago sowie dem Klassiker in Boston inzwischen noch ein halbes Dutzend weiterer Veranstaltungen die Fünfstelligkeit erreichen, ist man in Kanada jedenfalls weit entfernt.
Kein einziger der kanadischen Stadtmarathons kommt deshalb ohne begleitenden Halbmarathon aus. Dieser ist - wie im deutschsprachigen Raum eigentlich auch immer zu beobachten - zudem oft das quantitativ weitaus stärker besetzte Rennen. In der Regel gibt es sogar noch weitere Nebenwettbewerbe wie Läufe über fünf und zehn Kilometer oder Kinderrennen. Und all diese hat man in Montréal ohne eine einzige Ausnahme tatsächlich im Programm.
Weit über zwanzigtausend Meldungen verkündet man deshalb dann auch insgesamt. Gerade einmal ein gutes Zehntel davon geht allerdings für den namensgebenden Marathon ein. Dennoch sind es auch auf der Königsstrecke wieder etliche hundert mehr als im Vorjahr, womit man seit dem Neustart im Jahr 2003 - angesichts der hierzulande weiter rückläufigen Werte ziemlich bemerkenswert - auch weiterhin ein kontinuierliches Wachstum hinlegt.
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Gleich mehrere Dutzend Wolkenkratzer wachsen in der Centre-Ville in den Himmel |
Mehr als dreitausend Läufer hätten sich dieses Mal für die längste Distanz eingeschrieben, wird der Sprecher am Start des Rennens stolz vermelden können. Ein neuer Rekordwert, der angesichts 2536 in den Ergebnissen aufgelisteter Zieleinläufe sogar einigermaßen glaubwürdig und keineswegs nur aus der Luft gegriffen erscheint.
Wie groß das Interesse für welche Strecke allerdings wirklich gewesen wäre, lässt sich kaum feststellen. Denn die Zahl der angenommenen Anmeldungen ist gedeckelt. Und so ist es nicht nur wegen der - allerdings eher moderat steigenden - Kostenstaffel ratsam, nicht zu lange mit der Registrierung zu warten.
Mit achtzig bis maximal einhundert kanadischen Dollar bewegen sich die Meldegebühren zudem für einen Großstadtmarathon noch in einem durchaus ganz akzeptablen Rahmen. Bei aktuellem Wechselkurs würden sich selbst im Falle einer Nachmeldung so nämlich nur etwa siebzig Euro ergeben.
Da erscheinen fünfundsechzig bis fünfundachtzig Dollar für den Halbmarathon, fünfunddreißig bis fünfundfünfzig Dollar für den Zehner und sogar fünfundzwanzig bis fünfundvierzig Dollar für den Fünfer schon deutlich happiger. Allerdings erhält man eben auch auf diesen Distanzen neben einem Funktionshemd auch noch eine Medaille. Die zusätzlichen Leistungen auf den jeweils längeren Strecken bestehen nur aus einigen weiteren Verpflegungsständen und Straßensperrungen.
Die Höchstsätze werden allerdings in keinem Fall erreicht. Bereits Anfang September, also mehrere Wochen vor der Veranstaltung und damit auch vor dem Beginn der teuren Nachmeldeperiode vermeldet die Internetseite "inscriptions fermées" und "registration closed". Man sei nämlich auf allen Strecken "complet" bzw. "sold-out".
Dass dies in zwei Sprachen geschieht und die Seite sowohl in Französisch wie auf Englisch jeweils mit allen Informationen vollständig zu Verfügung steht, hat natürlich zum einen mit der kanadischen Zweisprachigkeit zum anderen auch dem Schielen über die nahe Grenze nach Süden auf den US-amerikanischen Läufermarkt zu tun.
Doch spielt dabei auch die besondere Situation der Stadt Montréal eine Rolle. Denn im Gegensatz zum ländlichen Teil Québecs oder auch der ebenfalls Québec heißenden Provinzhauptstadt leben in ihr und ihrem Großraum deutlich mehr Englischsprachige als im Durchschnitt. Immerhin ein knappes Drittel beträgt deren Anteil an der Bevölkerung der Metropole.
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Viele Volksgruppen haben in Montréal ihre eigenen Viertel, auch ein Chinatown gibt es in der Metropole am Sankt-Lorenz-Strom |
Und so besteht dann auch einer der großen Reize Montréals genau darin, dass wohl nirgendwo sonst in Kanada die englische und die französische Sprache und ihre Sprecher so direkt aufeinander treffen. Nirgendwo sonst vermischen sich beide so unüberhörbar miteinander. Mal hat man englische Wortfetzen im Ohr und nur zwei, drei Schritte weiter schnappt man französische Brocken auf. Und manches Gespräch scheint gar in einer seltsam anmutenden Mischung von beiden abzulaufen.
Das "hi, bonjour" ist eine völlig normale Begrüßungsformel, mit der man auch gleich einmal abklopfen kann, welche Sprache dem Gegenüber lieber ist. In Geschäften und Hotels, in Restaurants und Cafés springen die Mitarbeiter danach meist völlig problemlos von Kunde zu Kunde zwischen Englisch und Französisch hin und her. Und laut offizieller Statistik geben weit über die Hälfte der Bewohner Montréals an, beides in zumindest brauchbarer Form zu beherrschen.
Ähnliches kann man zwar in der Provinz Québec durchaus auch anderswo oft beobachten, wenn Frankokanadier im Dialog mit anglophoner Kundschaft ins Englische hinüber wechseln. Bemerkenswert ist dabei vielmehr der umgekehrte Fall. Nämlich, dass auch viele der Anglos in Montréal ziemlich gut des Französischen mächtig sind.
Nur wenn man ganz genau hin hört, lässt sich oft noch ein leichter Akzent - diesmal ist nicht der Strich über einem Buchstaben gemeint - entdecken, der Aufschluss darüber geben kann, was denn nun wirklich die Muttersprache des Gesprächspartners ist. Doch manchmal ist nicht einmal mehr dieser zu erkennen.
Auch haben sich in den Wortschatz der Anglo-Quebecer etliche französische Lehnwörter eingeschlichen. Das "autoroute" für eine Schnellstraße kommt da als gerne zitiertes Beispiel jedenfalls meist leichter über die Lippen als der etwas sperrige englische "expressway". Und manche in beiden Sprachen vorhandenen Begriffe bekommen bei ihnen gelegentlich ebenfalls einen leicht französischen Klang.
Dennoch ist das im offiziell zweisprachigen Kanada eine ziemliche Ausnahme. Jenseits der Grenzen Québecs nehmen die Französisch-Kenntnisse der Anglos ziemlich schnell ab. Da unterscheiden sich die Kanadier kaum von ihren südlichen Nachbarn in den USA, die Fremdsprachen ja ohnehin meist für ziemlich überflüssig halten, weil ihrer Meinung nach der Rest der Welt sowieso Englisch kann und es deshalb gefälligst auch zu sprechen hat.
Es ist durchaus bezeichnend, dass sich zum Beispiel auf den Internetseiten der Marathons von Vancouver und Victoria keine "version française" entdecken lässt. Doch nicht nur auf der anderen Seite des Kontinents in British Columbia verzichtet man auf diesen Service für immerhin ein Viertel der eigenen Landsleute. Auch bei einem der beiden Läufe von Toronto und dem ebenfalls über eintausend Marathonis anziehende Rennen im Toronto-Vorort Missisauga - also nur wenige hundert Kilometer vom frankophonen Québec entfernt - hält man sie nicht für nötig.
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Außentreppen sind ein für die Montréaler Wohnviertel absolut typisches Bauelement | Mit nächtlicher Beleuchtung wirkt das Gerichtsgebäude im Zentrum fast noch imposanter als bei Tageslicht |
Das gerade von den Anglos oft kritisierten Sprachgesetz der Provinz - es macht nicht nur Französisch zur einzigen Amtssprache, es regelt unter anderem auch, dass es auf Werbetafeln und -plakaten eindeutig dominieren muss, Englisch also maximal als Ergänzung in deutlich kleinerer Schrift erlaubt ist - wird angesichts solcher Ignoranz gegenüber den Frankokanadiern, die keineswegs ein Sonderfall sondern eher die Regel darstellt, sogar fast schon wieder nachvollziehbar.
Andererseits ist von der oft zitierten eigenen Kultur Québecs auf den ersten Blick kaum etwas zu entdecken. Nicht nur in Montréal, auch im Rest der Provinz pflegt man einen ziemlich nordamerikanischen Lebensstil. Französisch ist neben der Sprache ziemlich wenig. Und so mancher Québecois gibt das im Gespräch auch ganz offen zu. "Nous ne sommes pas des Français, nous sommes des Américains".
Man trägt Baseballkappe statt Baskenmütze. Man fährt spritfressende Pick-Ups anstelle verbeulter Kleinwagen. Und seinen Kaffee nimmt man nicht etwa gemütlich in einem Café zu sich. Man holt ihn sich in riesigen, fast schon eimergroßen Pappbechern aus einem der an fast jeder Ecke zu findenden Coffee-Shops. Dazu bestellt man sich noch einen Bagel oder einen Muffin. Am besten gleich aus dem Auto heraus. "Service au volant", heißt das dann zwar in Québec und nicht etwa "Drive-thru" wie im Rest des Landes. Aber natürlich ist da nicht der geringste Unterschied.
Fast-Food-Ketten werben gleich im Dutzend mit überdimensionalen Leuchttafeln für ihre Filialen. In den weitläufigen Gewerbegebieten mit ihren unzähligen Parkplätzen an den Ortseingängen tun direkt daneben Tankstellen und Motels das Gleiche. Man ist unverkennbar in Nordamerika. Ein nahezu identisches Bild könnte sich auch überall sonst in Kanada bieten. Oder auch ein Stück weiter im Süden in den Vereinigten Staaten. Nur wirkt es eben, als hätte jemand die falsche Tonspur für diesen Film erwischt.
Immerhin sieht man in Bäckereien und Supermärkten überall frisch gebackene Baguettes, die man sonst wohl weder in Kanada noch in den USA mit großem Erfolg und in diesen Mengen unter die Leute bringen könnte. Und irgendwie scheint auch die Auswahl an unterschiedlichen Weinen, die man in den Lebensmittelläden bietet, deutlich größer zu sein als im übrigen Land. Es sind solche Kleinigkeiten, in denen am Ende dann doch noch eine etwas andere Lebensart, der französische Akzent durch schimmert.
Auch Montréal wirkt auf den ersten Blick wie eine ganz beliebige nordamerikanische Metropole. Breite Autobahnen führen mitten in die Innenstadt hinein und zum Teil sogar durch sie hindurch. Und die - je nachdem, bei welcher Meterzahl man die untere Grenze setzt - Dutzende oder gar Hunderte von Hochhäusern sind längst über die Türme der Kirchen hinaus gewachsen. Bis über die Marke von zweihundert Meter reichen sie hinauf.
Irgendwo zwischen ihnen soll es auch die Startnummern für den Marathon geben. Auf der Place Bonaventure an der Rue de la Gauchetière, so kann man in den Unterlagen nachlesen, würde man die Marathon-Expo finden. Doch die Freifläche des vermeintlichen Platzes lässt sich auf dem Stadtplan einfach nicht entdecken. Es dauert einen Moment bevor klar wird, dass mit diesem "Place" etwas ganz anderes gemeint ist.
Denn gerade in Kanada werden mit diesem Begriff eben auch gerne einmal Gebäude bezeichnet. Und tatsächlich die Startnummern kann man nicht "auf der" Place Bonaventure sondern "in der" Place Bonaventure abholen. Es handelt sich nämlich um einen riesigen Büro-, Hotel und Ausstellungskomplex. Gleichzeitig ist dieser vielleicht auch das hässlichste Bauwerk des Montréaler Stadtzentrums. Von außen sieht das Ganze jedenfalls einfach nur wie ein gigantischer Bunker aus.
"Brutalismus" nennt man jenen insbesondere während der Sechziger verbreiteten Baustil, in dem er errichtet ist. Das kommt zwar nicht direkt von "brutal" sondern leitet sich vom französischen "béton brut", was "roher Beton" bedeutet ab. Aber man muss wohl schon wirklich einen ganz besonderen Architekturgeschmack haben, um sich für die für ihn typischen kahlen, groben und weitgehend fensterlosen Wände begeistern zu können.
Ohne die Ausschilderung für den Marathon würde man sich in dem weitläufigen Bauwerk mit seinen Treppen, Rampen und Zwischenstockwerken unweigerlich verlaufen. Mitten ins Gebäude führen sie, wo in einem großflächigen, aber eher niedrigen Messesaal die recht überschaubare Marathon-Expo aufgebaut ist. Lange muss man sich also dort eigentlich nicht mehr aufhalten, wenn man seine Startnummer und das bereits vorher verteilte T-Shirt in Empfang genommen hat.
Der Marathon de Montréal ist keine Veranstaltung der kurzen Wege, doch nicht etwa wegen des eher unübersichtlichen Anmarsches durch die Place Bonaventure. Denn während die dortige Startnummernausgabe eigentlich noch relativ zentral gelegen und für Lauftouristen von außerhalb, die in einem der Hotel im Stadtzentrum Quartier bezogen haben, zu Fuß zu erreichen ist, finden sich Start und Ziel an nicht nur zwei ganz anderen Stellen sondern beide auch deutlich weiter außerhalb.
Während der Zieleinlauf im Parc Maisonneuve direkt neben dem Olympiastadion und damit ein halbes Dutzend Kilometer nordöstlich von der Centre-Ville liegt, hat man sich für den Start eine Brücke über den Fleuve Saint-Laurent ausgesucht. Dass dies kein Zufall ist sondern die Wahl durchaus ein wenig in Anlehnung an den Marathon von New York vorgenommen wurde, lässt sich zumindest vermuten.
Auch wenn "Fleuve" eine gewisse Ähnlichkeit mit dem deutschen "Fluss" besitzt, ist damit eigentlich "Strom" gemeint. Also ein großer, breiter Wasserweg, der zuerst einmal viele kleinere Flüsse - die heißen auf französisch "Rivière" - aufnimmt und dann nach vielen, vielen Kilometern direkt ins Meer mündet.
Der Sankt-Lorenz-Strom, an dem Montréal gegründet wurde, hat dann auch nur noch wenig damit zu tun, was man sich hierzulande unter einem Fluss vorstellt. Denn schon unter normalen Bedingungen ist die von ihm geführte Wassermenge ungefähr fünf- bis zehnmal so hoch wie die von Rhein oder Elbe.
Eigentlich ist das wenig verwunderlich, schließlich entwässert der "Saint Lawrence River" - im Englischen ist erstens die Unterscheidung von Fluss und Strom nicht ganz so scharf und zweitens die bei oberflächlicher Betrachtung denkbare Übersetzung "stream" eine gefährliche Sprachfalle, denn damit ist in der Regel nur ein kleiner Bach gemeint - die fünf Großen Seen im Nordosten des amerikanischen Kontinents.
Selbst an der schmalsten Stelle ist der Strom in diesem noch weit vom offenen Ozean entfernten Abschnitt dann auch bereits mehr als einen Kilometer breit. Und die Brücke, die man genau dort über ihn geschlagen hat, kommt inklusive ihrer Rampen schon alleine auf ungefähr drei Kilometer Länge. Da sie außerdem nicht direkt in der Innenstadt endet, ist das nun wahrlich nichts für einen kurzen, gemütlichen Spaziergang vom Hotel zum Start.
Allerdings ist von den Veranstaltern auch kein Transport zum Startpunkt organisiert. Vielmehr erhält man den Rat, für die Anfahrt die U-Bahn zu benutzen. "Métro" heißt sie in Montréal. Und auch die Anglos nutzen diesen Begriff und nicht etwa "subway" oder "underground", wie man in New York und Toronto oder London sagen würde.
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Typisch gelborange Schulbusse werden für die Gepäckabgabe und -transport eingesetzt | danach geht es langsam hinauf zum Start auf dem Pont Jacques-Cartier |
Die Métro de Montréal rollt auf Gummireifen wie ihr Pariser Gegenstück. Dass bei der Wahl dieses Systems eine gewisse Verbundenheit mit Frankreich eine Rolle gespielt hat, wird von kaum jemandem bestritten. Und einer der Eingänge zur Station "Square-Victoria" - ursprünglich englische Begriffe mit französischer Grammatik - ist mit seinem Jugendstil-Bogen und -Geländer sogar genauso gestaltet wie in der "capitale de la France".
Doch gibt es auch deutlich handfestere Gründe für den Einsatz dieses Radtyps. Denn nicht nur die Fahrt wird dadurch deutlich ruhiger, man kann zudem auch deutlich größere Steigungen bewältigen. Im doch leicht welligen Montréal ist das sehr wohl ein Vorteil. Und gerade für die nur aus drei Stationen bestehende, im Netzplan mit der Farbe gelb versehene Stummelstrecke, mit der die Marathonis zum Start kommen, ist es auch wirklich nötig. Schließlich unterquert sie den Sankt-Lorenz-Strom und muss dazu auf relativ kurzer Distanz doch einiges an Höhe gewinnen.
Während die zwei Endstationen der Linie an den beiden Ufern zu finden sind, liegt die mittlere, nach dem langjährigen Bürgermeister Jean Drapeau benannte Haltestelle auf oder genauer gesagt unter der Île Sainte-Hélène mitten im Strom. Fast schon ein wenig paradox ist dabei, dass diese Insel ausgerechnet durch den beim U-Bahn-Bau angefallenen Erdaushub deutlich vergrößert wurde.
Jedenfalls ist sie am frühen Sonntagmorgen das erste Ziel der Läufer. Denn sie ist nicht nur mit der Métro erreichbar, von ihr aus kann man auch über eine Zwischenrampe hinauf auf die Brücke zum Start gelangen. Selbst wenn nahezu alle diese Art der Anreise wählen, ist die Benutzung der U-Bahn am Renntag übrigens nicht im Startgeld enthalten. Drei kanadische Dollar für die Einzelfahrt oder acht für die auch danach noch zu nutzende Tageskarte werden dafür zusätzlich fällig.
Nicht nur die Métro wurde unter Bürgermeister Jean Drapeau gebaut, neben den Olympischen Spielen holte er auch die Weltausstellung 1967 in die Metropole am Fleuve Saint-Laurent. Die Pavillons wurden auf der Île Sainte-Hélène sowie der komplett neu aufgeschütteten Nachbarinsel Île Notre-Dame errichtet.
Doch wie meist bei dieser Art der Veranstaltung, deren Konzept sich angesichts immer stärkerer weltweiter Vernetzung wohl langsam auch überholt hat und die deshalb eigentlich nicht mehr als ein teures Prestigeobjekt für die Stadtväter darstellt, ist Jahre später kaum noch etwas davon übrig. Längst ist die Heleneninsel wieder in weiten Teilen nichts als ein großer Park. Sein Name lautet wenig überraschend "Parc Jean Drapeau".
So legen die Marathonis dann auch den letzten knappen, gut ausgeschilderten
Kilometer bis zum Start weitgehend unter Bäumen zurück. Für die
freiwilligen Helfer, die "bénévoles" im Startbereich
und den ersten, ebenfalls mit der U-Bahn am besten zu erreichenden Verpflegungsstellen
gibt es Richtungspfeile. Und so steht am Ausgang der Station ein regelrechter
Schilderbaum, bei dem man sich erst einmal zurecht finden muss.
Schatten spenden muss das gerade erste Spuren herbstlicher Verfärbung zeigende Laub noch nicht. Zum einen ist es gerade erst langsam hell geworden, denn der Marathonstart ist bereits für 8:30 angesetzt. Zum anderen ist der Himmel noch weitgehend mit Wolken bedeckt. Böse sind darüber eigentlich die wenigsten, denn auch ohne die Strahlen der Sonne ist es warm genug. Fünfzehn oder mehr Grad werden es bereits sein.
Und weit über zwanzig Grad sollen es nach den Vorhersagen der Wetterkundler an diesem Tag werden. Und ein Aufklaren bis zum Mittag haben sie ebenfalls angekündigt. Ähnlich warme, angenehme, fast schon sommerliche Bedingungen wie über das gesamte Wochenende und auch an den Folgetagen. Zumindest, wenn man nur die Stadt besichtigen will. Für einen Marathon dürfte das Ganze dann aber vermutlich doch ein wenig zu angenehm, warm und sommerlich werden.
Die Prärieprovinzen Manitoba, Saskatchewan und Alberta melden in diesen Tagen allerdings noch höhere Werte. Eine für diese Jahreszeit doch eher ungewöhnliche Hitzewelle hat das Quecksilber bis an die Marke von dreißig Grad klettern lassen. Im Vergleich dazu kann man sich über die Temperaturen in Montréal, Québec also eigentlich nicht einmal beschweren.
Die im Complexe aquatique, einem Schwimmbad mitten im Park angebotenen Umkleidekabinen finden deshalb dann auch eher weniger Zuspruch. Die meisten bereiten sich unter freiem Himmel auf den Start vor. Nicht direkt auf der Brücke sondern ein Stück entfernt, dort wo neben einer großen Wiese die Busse für den Transport der Kleiderbeutel bereit stehen.
Diese sehen aus wie alle Schulbusse auf dem nordamerikanischen Kontinent, ganz egal ob USA oder Kanada. Sie haben die gleiche gelborange Farbe, sie sind vom gleichen Typ, haben die gleiche markanten Schnauze wie überall sonst. Und doch haben sie einen französischen Akzent. Denn anstelle von "School Bus" steht auf ihnen "Écoliers".
Startgruppe für Startgruppe - sie sind durch ein kleines farbiges Feld auf der Nummer angezeigt - wird von dort aus einzeln auf die Brücke gebeten. Natürlich geschieht das jedes Mal gleich in zwei Sprachen. Durchaus interessant wäre sicher die Beantwortung der Frage, ob sich ähnliches auch in Toronto beobachten ließe. Bei Städten in den anglophonen Provinzen noch weiter im Westen kann man dagegen wohl kaum davon ausgehen.
Nötig wäre dieses separate Hinaufbitten nach Farben eigentlich nicht. Denn die seitliche Auffahrtsrampe ist für einen Anmarsch absolut breit genug. Oben auf der Brücke sind zudem nicht alle Spuren für die Startaufstellung abgesperrt. Jeweils eine komplette Spur auf beiden Seiten lässt mehr als genug Raum den richtigen Block zu finden. Und Zuschauer, die sie versperren könnten, gibt es um diese Zeit und an diesem Ort nicht allzu viele.
Und auch dann wenn man seine Startposition gefunden hat, gibt es keineswegs Gedränge um den besten Platz. Die Netto-Zeitmessung mit einem in der Nummer integrierten Einmalchip spielt dabei sicher eine Rolle. Doch lässt sich gerade in Nordamerika diesbezüglich immer wieder eine ziemlich entspannte Haltung entdecken. Und die Frankokanadier stellen sich ebenfalls in bester britischer Tradition hinten an. Weder Eingangskontrollen zu noch Abtrennung zwischen den Startblöcken existieren deshalb.
Eigentlich wird mit Aussagen wie "dernier appel" oder "last call" für die gelbe, grüne oder blaue Gruppe nur viel Wind um nichts gemacht und gar nicht nötige Hektik verbreitet. Beim fast dreimal so großen Halbmarathonfeld, dass zwei Stunden später an gleicher Stelle auf die Strecke gehen wird, mag das allerdings schon ein wenig anders aussehen.
Direkt neben der Zufahrt zur Insel steht ein kleines Denkmal für Jacques Cartier, dem Namensgeber der Brücke. Das ist durchaus passend, denn Cartier war der Erste, der 1535 den Fleuve Saint-Laurent hinauf fuhr und ihm auch seinen Namen gab. Bis zum heutigen Montréal, also ziemlich genau auf die Höhe der Brücke gelangte er bei seiner Erkundungsreise. Dann musste er wegen der Stromschnellen, die ihm flussaufwärts den Weg verstellten, umkehren.
Wirklich ungewöhnlich ist diese Namenswahl nun allerdings wahrlich nicht. Gäbe es nämlich eine Rangliste darüber, wer in der Provinz Québec am häufigsten zur Benennung von Straßen, Plätzen und Brücken oder auch Bergen, Seen und Flüssen heran gezogen wird, hätte Cartier darin ein Spitzenplatz sicher.
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Eine Schleife auf der Île Sainte-Hélène eröffnet erste Blicke auf die Stadt | Nicht über die Cartier-Brücke führt die Strecke der Marathonis, sie laufen unter ihr hindurch |
Selbst wenn man berücksichtig, dass es mit George-Étienne Cartier - Mitte des neunzehnten Jahrhunderts einer der Gründerväter des modernen Staates Kanada - noch eine weitere Persönlichkeit dieses Nachnamens gibt, kann da eigentlich nur noch Samuel de Champlain, der Anfang des siebzehnten Jahrhunderts die Kolonie Neufrankreich und auch die Stadt Québec gründete, mithalten.
Der Grundstein für die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz wurde übrigens bereits 1608 gelegt und damit nur ein Jahr, nachdem sich die Engländer in Jamestown, Virginia erstmals auf dem amerikanischen Kontinent dauerhaft niederließen, aber mehr als ein Jahrzehnt vor der Landung der legendären Pilgerväter in der Nähe von Boston.
Direkt neben dem Cartier-Kopf lässt sich am Geländer auch der Name der Brücke finden. "Pont Jacques Cartier Bridge" steht da zu lesen, wobei das "Jacques Cartier" deutlich größer geschrieben ist. Ein eigentlich simples System, das man in Montréal auf allen Straßenschildern entdecken kann und das beide Sprachgruppen zufrieden stellt.
Dass aufgrund der unterschiedlichen Grammatik die "Rue" vor dem eigentlichen Namen eingefügt werden muss, die "Street" aber dahinter, passt dabei ganz gut. Zwar ist das eher zufällig, aber absolut passend, denn die geforderte Vorrangigkeit der französischen Bezeichnung wird dadurch absolut eingehalten.
Vergleichbares lässt sich allerdings nicht nur in Montréal und dem Westen von Québec entdecken. Auch ganz im Osten von Ontario, wo es nahe der gemeinsamen Grenzen nicht nur einen relativ großen frankokanadischen Bevölkerungsanteil - immerhin eine halbe Million Menschen - sondern sogar noch einige mehrheitlich französischsprachige Gemeinden gibt, sieht man ähnliches. Auch dort steht - die Grammatik will es eben so - die "Rue" zuerst.
Und während man in Québec durchaus häufiger auch einmal Ortsnamen begegnet, die eindeutig englischen Ursprungs sind, stößt man in der Provinz Ontario gerade im östlichen Teil regelmäßig auf französische Benennungen. Aus manchem "Rivière", den man dort überquert, ist eben noch kein "River" geworden. Ganz so klar getrennt, wie man vermutet und einige Hitzköpfe auf beiden Seiten es vermutlich gerne hätten, sind die zwei Bevölkerungsgruppen eben doch nicht.
Denn nicht nur in Ontario gibt es eine größere Zahl Frankokanadier. In der im Südosten an Québec grenzende Provinz New Brunswick beträgt ihr Anteil immerhin ein volles Drittel. Deshalb hat Nouveau-Brunswick nicht nur einen amtlichen französischen Namen sondern hat als einziger Landesteil offiziell die Zweisprachigkeit eingeführt.
Montréal ist das zwar nur inoffiziell, doch natürlich erfolgen
die Ansagen vor dem Start weiterhin sowohl in Französisch wie auch in Englisch.
Schließlich hat man ja nicht nur Teilnehmer aus allen zehn kanadischen
Provinzen sondern zudem viele ausländische Gäste. Mehr als vierzig
Nationen seien diesmal in der Meldeliste verzeichnet, wird in beiden Sprachen
nicht ohne Stolz verkündet.
Und Läufer aus genauso vielen US-Bundesstaaten seien dabei. Doch einige davon sind auch kaum mehr als einen Katzensprung von Montréal entfernt. Schließlich liegt die Stadt im südlichsten Zipfel der Provinz Québec. Nur etwa fünfzig Kilometer sind es von dort aus hinüber nach Ontario. Und der US-Staat Vermont ist auch nicht wirklich weiter entfernt. Die Metropole von Neufrankreich ist also praktisch direkter Nachbar von Neuengland - oder Nouvelle-Angleterre, wie man als Frankokanadier zu sagen pflegt.
Bis zu "twenty seconds" erfolgt das Durchgeben der bis zum Start verbleibenden Zeit auch noch auf Englisch. Die letzten Sekunden werden dann aber - Pech für völlig fremdsprachenfreie Anglos - dann doch nur noch "en français" herunter gezählt. "Cinq, quatre, trois, deux, un". Zumindest einen kleinen französischen Akzent setzt man damit also beim Marathon de Montréal. Genau wie mit dem Schriftzug "Départ" über dem Startgerüst, das man wenig später durchläuft.
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Zwischen den Achterbahnen des Vergnügungsparks "La Ronde" wird ein kurzes Begegnungsstück absolviert |
Vor den Läufern erhebt sich die imposante Stahlgerüstkonstruktion des Pont Jacques Cartier. Doch so sehr sie auch lockt, die Marathonis dürfen nicht über sie hinweg laufen. Dieses Recht bleibt dem Halbmarathon zwei Stunden später vorbehalten. Die lange Distanz biegt dagegen nur wenige Meter hinter der Linie nach links ab.
Es geht mit viel Schwung genau jene Rampe hinunter zur Heleneninsel, die man vor nicht allzu langer Zeit herauf marschiert war. Vorbei an der Stelle, an der die inzwischen abgefahrenen Gepäckbusse gestanden hatten, steuert man auf direktem Weg das Ufer des Sankt-Lorenz-Stromes an. Nach etwa einem Kilometer ist es schon erreicht. Und auch für die nächsten Kilometer wird der Marathonkurs weiter auf dem kleinen Eiland im großen Strom bleiben.
Doch nicht nur die Île Sainte-Hélène ist eine Insel, auch die Metropole Montréal selbst ist rundherum von Wasser umgeben. Zusammen mit dem Fleuve Saint-Laurent bilden zwei Mündungsarme des Ottawa River - oder "Rivière des Outaouais", wie er auf Französsich heißt - eine bumerangförmige Insel, deren nach Westen und Nordosten zeigende Enden mehr als einen Marathon voneinander entfernt sind.
Neben der Île de Montréal, die allerdings die mit Abstand größte ist, haben sich an der Mündung des Ottawa River in den Sankt-Lorenz-Strom noch zwei- bis dreihundert weitere Inseln unterschiedlichster Größe und einige Seen gebildet, der sogenannte Hochelaga-Archipel. Kaum mehr als dieser Name ist von jener Irokesenstadt übrig geblieben, die von den ersten europäischen Entdeckern Mitte des sechszehnten Jahrhunderts an dieser Stelle angetroffen wurde.
Denn natürlich waren die Vorfahren der Québecois nicht die Allerersten, die in der Region siedelten. Als sich allerdings - erst rund hundert Jahre nach der Erkundungsreise Cartiers - die ersten Franzosen wirklich auf dem Gebiet der heutigen Millionenmetropole niederließen, war die Insel wieder unbesiedelt und von Hochelaga bereits nichts mehr übrig. Warum das Dorf aufgegeben wurde und wo es genau lag, ist deshalb bis heute ungeklärt. Nur die Aufzeichnungen Cartiers bezeugen seine einstige Existenz.
Einige aber bei weitem nicht alle der Inseln des Archipel d'Hochelaga gehören zu Montréal. Die Île Jésus, die zweitgrößte unter ihnen, die den Innenbogen des Bumerangs ausfüllt, wird zum Beispiel von der selbständigen, immerhin fast vierhunderttausend Menschen zählenden Nachbarstadt Laval eingenommen.
Longueuil, mit zweihundertfünfzigtausend Einwohnern die zweite aus formalem Blickwinkel unabhängige Großstadt in direkter Nachbarschaft zu Montréal sowie der Endpunkt der Cartier-Brücke und der gelben Métro-Linie, liegt zwar südlich des Sankt-Lorenz-Stromes auf dem "Festland". Und rund um den Hochelaga-Archipel ist sogar ein regelrechter Ring von Vororten entstanden.
Doch der Hauptteil der Bevölkerung des Montréaler Großraumes hat sich - selbst wenn man es in der Regel gar nicht bemerkt - tatsächlich auf Inseln nieder gelassen. Und die Île de Montréal ist trotz der eher geringen Größe mit ihren ungefähr zwei Millionen Einwohnern nicht nur die bevölkerungsreichste Insel Kanadas. Man sagt ihr sogar nach, dass es keine stärker besiedelte Binneninsel weltweit gibt.
Eine Hundertachtzig-Grad-Kurve lässt die Läufer wieder in Richtung Brücke einschwenken. Doch geht es nicht zu ihr hinauf sondern unter ihr hindurch. Immer wieder gibt die lockere Baumreihe am Fluss dabei auch den Blick auf das gegenüberliegende Ufer frei, wo die Stadt mit ihrer dichten Ansammlung von Wolkenkratzern die Marathonis erwartet.
Fast direkt unter der immerhin mit einer Durchfahrtshöhe von mehr als sechzig Metern ausgestatteten Brücke wird der zweite Kilometer erreicht. Doch ist es schon die dritte Markierung, die man passiert. Denn zusätzlich sind die Entfernungen auch noch durchgängig in Meilen angegeben. Unter den großen Zahlen gibt auf dem Schild jeweils eine kleine "42" oder "26" an, auf welche der beiden Skalen, es sich bezieht.
Hauptsächlich ist das wohl ein Service für die US-Amerikaner, die in einer fast schon an Sturheit grenzenden Hartnäckigkeit an ihren eigenen Maßeinheiten festhalten, während die übrige Welt sich auf ein einheitliches, durchgängiges System verständigt hat. Kanada ist dagegen trotz einiger Widerstände offiziell schon 1973 auf die metrischen Einheiten gewechselt.
Und langsam hat man sich auch tatsächlich an sie gewöhnt, selbst wenn insbesondere bei der älteren Generation doch gelegentlich noch einmal die alten britischen Maße, die man südlich der Grenze ja noch benutzt, durchkommen. Die bereits mit dem Meter - oder zum Beispiel auch dem Grad Celsius anstelle der in den USA üblichen Fahrenheitskala - aufgewachsenen Jüngeren haben ohnehin keine Probleme mehr damit.
Dass die Umstellung in der Provinz Québec noch um einiges leichter als in den anderen Landesteilen vonstatten ging, hat auch damit zu tun, dass die Meile ja als durch und durch englisch gilt, während dagegen der Meter - wenn auch erst lange nach der Abtretung Kanadas an die Briten eingeführt - eine französische Erfindung ist.
Hinter der Brücke tauchen auf einmal seltsam verdrehte und ineinander verwundene Metallkonstruktionen auf. Es sind die Achterbahnen des Vergnügungsparks "La Ronde", der die nördlichste Spitze der Heleneninsel einnimmt. Seit der Weltausstellung befindet er sich dort. Doch von damals ist nach mehr als vier Jahrzehnten nicht mehr viel übrig. Der menschliche Drang zu "höher, schneller, weiter" hat im Laufe der Zeit für immer neue Bahnen gesorgt.
Einer dieser "montagnes russes" - wörtlich übersetzt "russische Berge", denn die Ursprünge der Achterbahn liegen vermutlich in künstlichen Schlittenbahnen in Russland - ragt über das eigentliche Gelände auf den dazu gehörenden Parkplatz hinaus. Direkt unter ihren buntlackierten Wellen ist nahe der Marken "3 - 42" und "2 - 26" der Wendepunkt eines Begegnungsstückes in die Marathonstrecke eingebaut. Und auch der nächste Kilometer wird mit der Umrundung dieses "Parc d'attractions" verbracht.
Nach der zweiten Unterquerung der Cartier-Brücke, diesmal auf der Longueuil zugewandten Seite, wird es an der Strecke wieder deutlich grüner. Über die Bäume ragt nun wieder jene ungewöhnliche offene Kuppel aus Drahtgeflecht, die man schon nach dem Aussteigen aus der U-Bahn bewundern konnte.
Während der Weltausstellung, von der sie eines der wenigen übriggebliebenen Bauwerke ist, war das Stahlskelett noch mit durchsichtigen Platten verkleidet und der Pavillon der Vereinigten Staaten. Nach einem Brand blieb einige Jahre später allerdings nur noch das Gerippe übrig. In dem nun hohlen Innenraum wurde mit der "Biosphère" ein interaktives Naturkundemuseum über das Ökosystem des Sankt-Lorenz-Stromes errichtet, das längst zu einem Wahrzeichen zumindest der Île Sainte-Hélène, wenn nicht von ganz Montréal geworden.
Hinter dem Biosphère-Museum und gut fünf Kilometern über die Heleneninsel geht es auf einer kurzen, flachen Brücke ohne Höhenunterschied hinüber zur Île Notre-Dame. Und wenig später ist man schon auf der nächsten Besonderheit der Montréaler Marathonstrecke gelandet. Nach der Passage im Vergnügungspark führen nun nämlich gleich mehrere Kilometer über eine Formel-Eins-Rennpiste.
Der Circuit Gilles Villeneuve ist nach einem frankokanadischen Rennfahrer benannt, der aufgrund eines schweren Unfalls mit seinem überzüchteten Boliden gerade einmal zweiunddreißig Jahre alt wurde. Dass sein Sohn trotzdem ebenfalls dieser - von manchen doch tatsächlich als "Sportart" bezeichneten - Beschäftigung nachging, muss man wohl wirklich nicht unbedingt verstehen.
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Mit dem Circuit Gilles Villeneuve beläuft man für einige Kilometer auch eine Formel-Eins-Rennpiste |
Zumindest in diesem Abschnitt ist der selbst für nordamerikanische Verhältnisse - die aus europäischer Sicht ohnehin miserabel sind - als extrem schlecht berüchtigte Asphalt der Straßen von Montréal absolut eben. Von jenen Rillen und Schlaglöchern, denen man im späteren Verlauf des Rennens häufiger begegnen wird, ist jedenfalls nicht das Geringste zu spüren. Ungefähr vier Kilometer bleibt der Kurs auf der Auto-Rennstrecke und umrundet dabei auch diese zweite Insel fast vollständig.
Rund ein Viertel der Distanz hat man schon in den Beinen, als die Strecke eine Dreivierteldrehung erst unter einer Brücke hindurch und dann auf sie hinauf vollführt. An der Unterführung kann man nach gerade einmal zehn Kilometern schon zum dritten Mal Getränke fassen. Insgesamt vierzehn Verpflegungsstellen sind an der Strecke aufgebaut, was einen selbst bei den doch eher warmen Bedingungen eigentlich vollkommen ausreichenden Durchschnittsabstand von etwa drei Kilometern ergibt.
Mit Wasser und Elektrolytgetränken sowie an einigen von ihnen auch Bananen und Gel ist die Auswahl ebenfalls durchaus in Ordnung. Allerdings könnten einige der Versorgungsposten doch ein paar Helfer mehr vertragen. Denn insbesondere in der Anfangsphase und später noch einmal, wenn sich die Voll- und Halbmarathonfelder vereinigen, kommen sie mit dem Einschenken manchmal kaum hinterher.
Neben der Strecke spielt nicht zum ersten Mal eine Jazz-Combo. Man wird unterwegs auch andere Musikrichtungen zu hören bekommen, doch ist dieser Stil durchaus typisch für Montréal. Schließlich wird in der Stadt das "Festival International de Jazz" veranstaltet, das jeden Sommer Hunderttausende von auswärtigen Touristen anzieht. Mehrere hundert Konzerte gibt es dabei, nicht nur in Hallen sondern auch auf Freiluftbühnen mitten im Zentrum. Und nimmt man alle Einzelveranstaltungen zusammen, werden bis zu zwei Millionen Besucher gezählt.
Die halbe Stadt wird durch das zehntägige Musikfest, das als das größte seiner Art gilt, lahm gelegt. Der Marathon ist im Vergleich dazu dann doch ein eher kleines Ereignis. Und selbst wenn der Lauf von den Anwohnern in manchen Vierteln durchaus ganz gut angenommen wird, sind die Zuschauerzahlen bei realistischer Betrachtung wohl mindestens um den Faktor einhundert kleiner.
Montréal steht ohnehin in dem Ruf, sich deutlich mehr als das angelsächsisch geprägte und doch eher ökonomisch nüchterne Toronto für Kultur begeistern zu können. Das Jazz-Festival ist beileibe nicht die einzige Veranstaltung in dieser Hinsicht. Und der längst auch international bekannte Cirque du soleil, bei dessen Vorstellungen sich Artistik und Theater zu einer modernen Variante von Zirkus vermischen, wurde zum Beispiel in Montréal von frankokanadischen Künstlern ersonnen.
Über einen Kilometer ist die Brücke lang, auf der die Marathonis, nachdem sie bereits ein Viertel der Gesamtdistanz abseits bewohnter Gebiete absolviert haben, endlich der Stadt entgegen streben. Noch einmal berühren sie dabei die Südspitze der Île Sainte-Hélène. Aber eigentlich läuft man auf dem breiten Pont de la Concorde dann doch eher über sie hinweg, ohne es richtig zu bemerken.
Neben einem halben Dutzend Fahrspuren ist auf der Brücke auch ein durch eine Betonbarriere vom Autoverkehr abgetrennter Radweg angelegt, auf dem man die Marathonstrecke abgesteckt hat. In der Stadt selbst sind ebenfalls etliche Radrouten ausgeschildert und sie werden für nordamerikanische Verhältnisse erstaunlich gut angenommen.
Und zwar nicht nur zum Freizeitvergnügen, sondern genauso als ganz normales Verkehrsmittel. Gerade im morgendlichen Berufsverkehr sieht man so manchen Zweiradfahrer auch mit Anzug und Schlips seinem Arbeitsplatz entgegen strampeln. In diesem Fall unterscheidet man sich sowohl ein wenig von den doch ziemlich autofixierten US-amerikanischen Ballungszentren wie auch vom sonstigen Vorbild Frankreich.
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Die Leitplanken werden auf der Rennstrecke bei der deutlich niedrigeren Geschwindigkeit allerdings nicht gebraucht | Über die lange Gerade des Pont de la Concorde geht es der Stadt entgegen |
Nicht alle nutzen dazu das eigene Fahrrad. Überall in Montréal gibt es nämlich Stationen für Leihräder. Und nicht nur von den Touristen, die sich damit schneller von einer Sehenswürdigkeit zu nächsten bewegen können, wird dieses System angenommen. Die Einheimischen nutzen es ebenfalls recht häufig, ob für einen schnellen Einkauf im Supermarkt oder auf dem Weg zu einem Geschäftstermin. Jedenfalls sind die Ständer doch meist eher leer, während überall um einen herum Einheitsräder unterwegs zu sein scheinen.
Schnurgerade steuert die Brücke scheinbar genau auf die Hochhausansammlung des Stadtzentrums zu. Dahinter erhebt sich der Mont Royal, der 233 Meter hohe Hausberg der Stadt. Seinen Namen "königlicher Berg" hat er bereits seit der Erkundungsfahrt von Cartier. Und seinerseits ist er - in der älteren, ursprünglichen Sprachform - auch Namensgeber für die später zu seinen Füßen gegründete Stadt.
Und in der lateinischen Variante "Mons Regius" findet man ihn auch in den "Montérégie-Hügeln" wieder, zu denen er gehört. Wie der Mont Royal selbst ragen die anderen Vertreter dieser Kette ebenfalls ziemlich unvermittelt und vollkommen isoliert aus der Ebene heraus, die sich südlich und östlich der Stadt erstreckt. Aufgrund ihres harten Gesteins haben sie der Erosion, die das Gebiet um sie herum weitgehend abgetragen hat, nämlich deutlich besser widerstanden.
So kann man von den Aussichtspunkten des nahezu unbebauten und von einem Landschaftspark bedeckten Mont Royal nicht nur die ganze Metropole überblicken, bei gutem Wetter reicht die Sicht Dutzende Kilometer weit praktisch bis zur amerikanischen Grenze und den von dort nach Kanada hinein reichenden Ausläufern des Appalachen-Gebirges.
Damit der Montréaler Hausberg auch in Zukunft seine herausragende Stellung behält, gibt es übrigens eine gesetzliche Vorgabe, dass kein Wolkenkratzer der Stadt höher sein darf als sein Gipfel. Und so bleiben eigentlich alle diese Bürotürme - auch ein wenig abhängig von ihrem Standort und dem sich daraus ergebenden Basisniveau - unter zweihundert Metern oder haben maximal eine Höhe knapp darüber.
Einen Kilometer lang werden sie mit jedem Schritt, den man sich ihnen nähert größer. Doch als die Marathonis nur noch einige hundert Meter von den ersten entfernt sind, wird klar, dass sie wirklich nur scheinbar direkt auf sie zugelaufen sind. Denn zwischen der Landzunge, die man am Ende der langen Gerade über den Pont de la Concorde erreicht hat und der Innenstadt erstrecken sich noch die Hafenbecken des Vieux Port.
Dort legen allerdings inzwischen hauptsächlich noch Passagierschiffe und -fähren an. Weiter flussabwärts erstrecken sich jedoch die neuen Containerterminals kilometerlang am Ufer des Sankt-Lorenz-Stromes. Trotz seiner Lage weit im Landesinneren ist Montréal nach Vancouver nämlich der zweitwichtigste Hafen des Landes.
Denn weil der Fleuve Saint-Laurent ausreichend breit und tief ist und zudem bis Montréal aufgrund des geringen Höhenunterschiedes keine einzige Schleuse benötigt wird, kann er auch von größeren Seeschiffen befahren werden. Die wenigen Brücken über den Strom sind entsprechend hoch ausgelegt. Fracht für die Bevölkerungszentren in Québec und Ontario muss deshalb nicht an der Ostküste gelöscht und über Land weiter transportiert werden sondern kann praktisch direkt zum Bestimmungsort gebracht werden.
Obwohl sie also nicht direkt ins Stadtzentrum vorstoßen dürfen, können die Marathonis mit dem Erreichen der Landspitze "Cité du Havre" ein Gebäude bewundern, dass eine Zeit lang vielleicht sogar das bekannteste Bauwerk Montréals war. Inzwischen ist der Ruhm von "Habitat 67" jedoch ein bisschen verblasst. Und auch das Äußere des anlässlich der Weltausstellung errichteten Komplexes ist nach über vierzig Jahren nicht mehr völlig makellos.
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Direkt am bekannten Wohnkomplex "Habitat 67" führt die Strecke vorbei | ... die Wolkenkratzer der Innenstadt darf man dagegen nur aus der Ferne bewundern | bevor man sich dann der Altstadt nähert |
Dennoch ist der aus mehreren hundert einzelnen Betonquadern bestehende Wohnblock architektonisch weiterhin hoch interessant. Wie überdimensionale Bauklötzchen sind die Einzelteile stufenförmig und auf den ersten Blick offenbar willkürlich übereinander gesetzt. Dazwischen ergeben sich immer wieder größere Lücken, durch die Licht auch in die unteren Wohneinheiten gelangen kann. Einige der Elemente weiter oben scheinen sogar regelrecht in der Luft zu schweben.
Zwei weitere, deutlich weniger spektakuläre Wohnanlagen werden auf dem Radweg, den man immer noch beläuft, der inzwischen allerdings von einem Grünstreifen umgeben ist, passiert. Danach ändert sich das Bild schlagartig. Denn plötzlich sind die Marathonis mitten in einem Hafen- und Gewerbegebiet gelandet. Hohe Getreidesilos stehen dort neben niedrigen Lagerhallen.
Nach einem Rechtsschwenk an einem großen Parkplatz führt der Kurs sogar ein Stück im Brachland unter einer Autobahntrasse entlang. Es sind zwei optisch eher wenig ansprechende Kilometer, die allerdings bei diesem oder ähnlichem Streckenkonzept kaum zu vermeiden sind. Vom Pont de la Concorde zur Centre-Ville gibt es nämlich praktisch keinen anderen Weg als mitten durch dieses Gelände.
Nachdem man auch noch eine Eisenbahntrasse unterquert hat, steigt die Straße zu einer Brücke leicht an. Es sind nur wenige Meter, die nicht vergleichbar sind mit dem riesigen Pont Cartier. Und dennoch überläuft man auch auf ihr eine wichtige Schifffahrtsverbindung. Allerdings liegt die Zeit als der Lachine-Kanal zuletzt eine gewisse Bedeutung hatte, schon ein halbes Jahrhundert zurück.
Seinen Namen hat er von den "Rapides de Lachine", die den Fleuve Saint-Laurent oberhalb von Montréal für Schiffe unpassierbar machen. Und deren Bezeichnung beruht analog dem Begriff "Indianer" - der ja entstand, weil man sich in Indien wähnte - auf einem simplen Missverständnis. Cartier, der die Stromschnellen als erster Europäer zu Gesicht bekam, ging nämlich davon aus, dass irgendwo dahinter China - auf Französisch "la Chine" - liegen musste.
Um sie zu umgehen grub man im neunzehnten Jahrhundert einen knapp fünfzehn Kilometer langen Kanal durch die Südspitze der Île de Montréal, die Krümmung im Mittelteil des Bumerangs. Trotz mehrmaliger Erweiterung wurde der Canal de Lachine in den Fünfzigern dann doch für den immer stärker wachsenden Bedarf einfach zu klein.
Und so einigten sich Kanada und die USA auf den gemeinsamen Bau des Sankt-Lorenz-Seeweges. Eine Reihe von Kanälen, Dämmen und Schleusen, dank denen zusammen mit den schiffbaren Abschnitten des Stromes eine durchgehende Passage von Seeschiffen vom Atlantik bis zum Ontariosee möglich wurde.
Der neue Kanal orientiert sich nun im Bereich von Montréal am anderen, dem südlichen Ufer des Fleuve Saint-Laurent. Seine Einfahrt findet sich direkt unter der stadtabgewandten Seite des Pont Jacques-Cartier - also genau an der Stelle, an der sich inzwischen die Halbmarathonläufer langsam auf ihren Start vorbereiten. Von dort verläuft er erst einmal zwischen der Île Notre-Dame und Longueuil und schlägt dann einen Viertelkreis um die Rapides de Lachine zur Westspitze des Bumerangs.
Der alte Lachine-Kanal wurde dagegen zu einem viele Kilometer langen Grüngürtel umgestaltet, der sich zieht. Neben dem Wasser zieht sich jetzt ein Radweg quer über die Insel. Und natürlich nutzen auch die im ziemlich grünen Montréal ohnehin mit relativ großen Streckenangebot ausgestatten Läufer ihn eifrig zum Training.
Da auch die Niagarafälle zwischen Erie- und Ontariosee bereits mit einem Kanal, dem Welland Canal, umgangen wurden, waren mit der Eröffnung des Sankt-Lorenz-Seeweges nun nicht nur alle Großen Seen miteinander verbunden, auch der Weg zum Atlantik war damit frei. Waren konnten also ohne sie umzuladen auf dem Wasserweg bis in die Mitte des nordamerikanischen Kontinents transportiert werden oder von dort zum Ozean gelangen.
Montréal hat seine Bedeutung als Hafen dennoch nicht verloren. Denn wie alle Kanäle gibt es eben auch beim "Saint Lawrence Seaway" - oder beim "Voie maritime du Saint-Laurent", wie man in Québec sagt - natürlich eine Größengrenze für die einfahrenden Schiffe, die durch die Breite, Länge und Tiefe der Schleusenanlagen festgelegt ist.
Und diese sogenannte Seawaymax-Klasse ist eben bei weitem nicht mehr das Größte, was im Schiffbau möglich ist. Sogar auf den Großen Seen selbst verkehren ja Schiffe, die sogenannten "Lakers", die wegen ihrer Maße den Sankt-Lorenz-Seeweg nicht passieren können und deshalb regelrecht im Binnenland gefangen sind.
Erneut scheint die Strecke für einen kurzen Moment genau ins Stadtzentrum hinein zu führen. Noch einmal läuft man auf die inzwischen deutlich größer gewordenen Wolkenkratzer zu. In einigen von ihnen residieren tatsächlich Banken und Versicherungen. Doch obwohl Montréal früher eindeutig das wirtschaftliche Zentrum des Landes und damit auch der logische Sitz der Finanzinstitute war, sind die meisten mit ihren Zentralen inzwischen nach Toronto abgewandert.
Selbst die Bank of Montréal - nicht nur die älteste Bank im Land, sondern in den Anfangsjahren Kanadas auch mit den Funktionen einer Zentralbank versehen - hat zwar noch ihren offiziellen Sitz in der Stadt, deren Namen sie trägt. Das eigentliche operative Hauptquartier findet sich allerdings fünfhundert Kilometer westlich in der Metropole am Lake Ontario.
Dabei hatte Toronto erst in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts Montréal endgültig den Rang abgelaufen. Und nicht ganz unbeteiligt daran war das erstarkende nationale Selbstbewusstsein der Québecois. Denn auch in der Millionenmetropole am Sankt-Lorenz-Strom gaben bis dahin die Englischsprachigen für fast zwei Jahrhunderte den Ton an, beherrschten Handel und Gewerbe, bildeten praktisch die alleinige Oberschicht der Stadt. Für die Frankokanadier blieben meist nur die Plätze in der zweiten oder dritten Reihe.
Spätestens nach Einführung der Sprachgesetze, mit denen ja gerade auch die absolute Vorherrschaft des Englischen in den Führungsetagen zurück gedrängt werden sollte, wanderten vermehrt Firmen ab. Das ständig drohende Damoklesschwert der Abspaltung Québecs - bei einem Referendum 1995 stimmten gerade einmal 50,5 Prozent für den Verbleib im kanadischen Staatsverband - tat ein Übriges, um diesen Trend zu verstärken.
Doch inzwischen hat sich die Lage wieder einigermaßen beruhigt. Von Unabhängigkeit der Provinz ist - zumindest kurzfristig - nicht mehr die Rede. Und das Pendel schlägt in wirtschaftlicher Hinsicht wieder in die andere Richtung aus. Der Standort Montréal zieht neue Firmen an. Und einige waren ja auch nie weggegangen.
Ein Beispiel ist der aufgrund seiner deutschen Werke hierzulande hauptsächlich als Waggonhersteller bekannte Technologiekonzern Bombardier, der außerdem der vermutlich nach Airbus und Boeing drittgrößte Flugzeugproduzent weltweit ist. Doch wurde er ja auch von einem Frankokanadier gegründet.
Ursprünglich produzierte Joseph-Armand Bombardier passend zu den doch oft rauen Witterungsbedingungen in seiner Heimat jedoch Schneemobile. Erst nach und nach kamen andere Verkehrsmittel dazu. Und wenn man bei der Autofahrt durch Québec mit schöner Regelmäßigkeit neben der Straße Schilder entdeckt, die vor kreuzenden Motorschlitten warnen, kann man sich vorstellen, dass es in Kanada durchaus einen Markt für diese Geräte gibt.
Auch die Telefonfirma Bell Canada hat ihren Sitz in Montréal. Und unweit der Firmenzentrale existiert zudem ein Sportstadion, das den Namen des Unternehmens trägt. Im Centre Bell, von dem die Marathonis nun nicht einmal mehr einen Kilometer entfernt wären, tragen die Canadiens de Montréal ihre Heimspiele aus.
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Auf dem Boulevard Saint-Laurent verlässt man die Uferpromende mit einem kurzen aber heftigen Anstieg | In Vieux-Montréal findet man noch einiges an alter Bausubstanz |
Wenn es um die Canadiens geht, sind sich Anglo- und Frankokanadier jedenfalls vollkommen einig. Und das sogar trotz des französischen "e" im Namen. Denn die "Kanadier" spielen "Hockey", den absoluten Nationalsport des Landes. Damit ist natürlich Eishockey gemeint. Denn die in kanadischen Augen ziemlich exotische Sportart, die in Europa unter diesem Begriff bekannt ist, bekäme stets den Zusatz "Field".
Mit den Canadiens fiebern jedenfalls Englisch- und Französischsprachige gleichermaßen. Sogar eine eigene Straße, nämlich diejenige, die zu ihrer Arena führt, hat man ihnen in Montréal zugestanden. Doch sind sie mit dem Gewinn von bisher vierundzwanzig Stanley Cups ja auch der absolute Rekordmeister der NHL.
Auch diese National Hockey League wurde in der Metropole am Fleuve Saint-Laurent gegründet, wohlgemerkt ursprünglich als rein kanadische Meisterschaft. Erst später folgte die Süderweiterung in die Vereinigten Staaten. Umso mehr schmerzt es die Kanadier, dass der Meisterpokal seit fast zwei Jahrzehnten jenseits der Grenze steht. Die Canadiens waren 1993 das letzte siegreiche Team aus dem Lande des Ahornblattes.
Und dass man während des Marathonwochenendes gleich mehrere Vorbereitungsspiele gegen den aktuellen Titelträger Boston Bruins verliert, trägt auch nicht dazu bei, die Anhänger aufzubauen. Die aus neutralem Blickwinkel eigentlich ziemlich unbedeutenden Tests nehmen in den Medien jedenfalls einen weitaus größeren Platz ein als der Marathon. Doch hierzulande hat man ja im Fußball auch schon solche Probekicks live im Fernsehen übertragen.
Immerhin stammen jedoch sieben von dreißig Teams der NHL aus Kanada, seit die Winnipeg Jets zu dieser Saison nach Manitoba zurück gekehrt sind. In den amerikanischen Baseball und Basketball-Ligen MLB und NBA dürfen die Kanadier zwar auch mitmachen, doch mangels Interesse spielt dort nur noch jeweils eine einzige Mannschaft aus Toronto. Einen echten Markt für diese Sportarten gibt es im Hockeyland anscheinend nicht.
Das in Montréal einmal beheimatete Baseball-Team der Expos ist jedenfalls aufgrund mangelndem Zuschauerzuspruch und sportlichem Erfolg inzwischen nach Washington weiter gezogen. Dass die Zeitungen in ihren Sportteilen dennoch ziemlich ausführlich und an hervorgehobener Stelle über die Saison beim südlichen Nachbarn berichten, gehört zu den vielen Merkwürdigkeiten im kanadisch-amerikanischen Verhältnis.
Bliebe am Ende noch die Frage offen, was aus den Canadiens werden würde, sollten die Separatisten Québec irgendwann doch einmal in die Unabhängigkeit führen. Denn Kanadier wären sie dann ja eigentlich gar keine mehr.
Nur zwei, drei Straßenblöcke darf man darauf hoffen, in die Hochhausschluchten der Innenstadt hinein zu laufen. Doch dann vollführt der Kurs in den weitgehend im rechten Winkel zueinander angeordneten Montréaler Straßen zwei Neunzig-Grad-Kehren direkt hintereinander und steuert in genau umgekehrter Richtung wieder aufs Wasser zu. Und wenig später ist man dann unweit der Stelle, an der er vom Vieux-Port abzweigt, auch wieder am Lachine-Kanal angekommen.
Die Wolkenkratzer von Centre-Ville wird man während des Rennens nicht mehr aufsuchen. Man muss sie sich vorher oder hinterher aus der Nähe betrachten. Da hält man es am Saint-Laurent ebenfalls wieder wie weiter südlich am Hudson, wo beim Marathon in New York ja auch weder Downtown noch Midtown auf dem Streckenplan vorkommt. Doch immerhin nähert sich der Kurs in Montréal nach fast siebzehn absolvierten Kilometern nun langsam dem historischen Zentrum.
Parallel zur zum Teil parkähnlich ausgestalteten Hafenpromenade verläuft die Straße. Auch sie ist selbst ohne die Fortsetzung über den Radweg am Kanal ein ideales, vollkommen kreuzungsfreies Läuferrevier direkt neben dem Stadtzentrum. Nimmt man jeden der weit in den Fluss hinaus ragenden Piers mit, kommen für eine vollständige Runde schon ein paar Kilometer zusammen. Gleich an mehreren Stellen wird gewerkelt, um diese Visitenkarte der Stadt, an der kaum ein Besucher vorbei kommt, weiter zu modernisieren.
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Die Rue Notre-Dame mit Rathaus (links) und Place Vauquelin (mitte) gehört zum Pflichtprogramm beim Stadtbummel |
Die Häuserreihe auf der anderen Straßenseite ist dagegen weitgehend älteren Datums, wenn auch der Zeitraum ihre Errichtung angesichts recht unterschiedlicher Baustile wohl durchaus eine längere Spanne der Stadtgeschichte abdeckt. Da würde der Neubau des Museums Pointe-à-Callière ohnehin auffallen, die ungewöhnliche schmale Dreiecksform hätte es da überhaupt nicht gebraucht.
Diese ist nicht nur den in ziemlich spitzen Winkeln aufeinander treffenden Straßen geschuldet. Sie erinnert zudem an jene Landzunge Pointe-à-Callière, die an dieser Stelle einst von einem Bach bei seiner Mündung in den großen Strom gebildet wurde und an der die Keimzelle der Stadt Montréal lag, das Fort Ville-Marie. Im Jahr 1642 gründete Paul Chomedey de Maisonneuve mit ungefähr vierzig Kolonisten diese kleine Siedlung.
Zum dreihundertfünfzigsten Stadtjubiläum erbaute man nicht nur das neue Museum, das sich unterschiedlichsten Aspekten der Geschichte Montréals und seiner Umgebung widmen sollte. Man entdeckte unterhalb des Vorplatzes auch Mauerreste aus der Gründungszeit, die in die Ausstellungsräume integriert wurden. Sie bilden eine unterirdische Verbindung zum ebenfalls zum Museum gehörenden früheren Zollgebäude.
Was fast überall sonst sehr wohl erwähnenswert wäre, die Verbindung
mehrere Gebäude unter dem Straßenniveau nämlich, lässt
den Montréaler nur mit den Schultern zucken. Er ist es nicht anders gewöhnt.
Denn die halbe Innenstadt ist untertunnelt. Und zwar keineswegs nur für
die U-Bahn und einige abgesenkte Durchgangsstraßen.
Während des Métrobaus begann man auch, einige Gebäude direkt an die Stationen anzubinden, so dass man nicht mehr ins Freie hinaus musste, um sie zu erreichen. Die Idee wurde gut angenommen. Und so entstanden nach und nach nicht nur Zugänge zu den Bahnhöfen sondern auch Verbindungsgänge inner- und unterhalb der Wolkenkratzer und Einkaufszentren in der Innenstadt. In ihnen siedelten sich Geschäfte und Restaurants an.
Nach und nach entstand eine ganze Stadt unter der eigentlichen Stadt, die "ville souterraine". Mehr als dreißig Kilometer soll alleine das Gangsystem inzwischen lang sein. An manchen Punkten weitet es sich allerdings auch zu großen Plätzen, in ihnen stehen sogar Bäume, plätschern Springbrunnen, rauschen Wasserfälle. Es gibt inzwischen sogar eine Kirche mit einem unterirdischen Zugang.
Wer nicht will, muss überhaupt nicht mehr nach draußen. Gerne erzählt man sich die vermutlich zwar frei erfundene, aber gar nicht so unrealistische Geschichte von dem Touristen, der im dicksten Winter mit Sommergarderobe in Montréal ankam und nach zwei Wochen - der ville souterraine sei Dank - wieder abreiste, ohne auch nur einen einzigen Pullover erstanden zu haben.
Zwar ist es am Anfang ein wenig ungewohnt. Und wenn man in dem Labyrinth nicht richtig aufpasst und den falschen Ausgang einer Métrostation erwischt, kann man durchaus auch einmal mitten in der Lobby eines Hotels oder der Eingangshalle eines Bankenturms anstatt in der gewünschten Straße landen. Doch bei schlechtem Wetter - und die Winter in Montréal werden bitterkalt, zwanzig Grad unter Null sind völlig normal - hat die unterirdische Stadt durchaus ihre Vorteile.
So kann man nach der Arbeit auch schnell noch einmal zum Einkaufbummel abtauchen. "Magasiner" heißt das im französischsprachigen Kanada. Ein Begriff, den es im einstigen Mutterland jenseits des Atlantiks so überhaupt nicht gibt und der nichts anderes als die wortwörtliche Übersetzung von "shopping" darstellt.
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Die Gerichtsgebäude und das direkt benachbarte Rathaus bilden das administrative Zentrum der Stadt in der Rue Notre-Dame |
Genau wie das "économisez", mit dem man auf Kundenfang geht, dem im restlichen Nordamerika bei Werbeleuten so beliebten "save" entspricht. Mancher Reklame im Fernsehen begegnet man in absolut identischer Form auch je nach Programm einmal auf Französisch und beim nächsten Sender dann auf Englisch. Denn bei ihren Einkaufsgewohnheiten unterscheiden sich die Frankokanadier nicht wirklich von ihren anglophonen Landsleuten. Nur in der Wortwahl gibt es einen kleinen französischen Akzent.
Schräg hinter dem Gebäude der Ancienne-Douane ragen zwei Kirchtürme auf. Sie gehören zur knapp zweihundert Jahre alten, neugotischen Basilika Notre-Dame de Montréal an der Place d'Armes. Doch trotz ihrer sechzig Meter Höhe bestimmen sie dort keineswegs vollständig das Bild. Denn um sie herum erheben sich noch deutlich höhere Gebäude. Der frühere Paradeplatz der Stadt bietet nämlich einen absoluten Querschnitt durch ihre Baugeschichte.
Neben der Kirche steht zum Beispiel das Sulpizianerseminar aus dem späten siebzehnten Jahrhundert, das als ältestes, noch erhaltenes Gebäude der Stadt gilt. Auch die klassizistischen Säulen und die flache Kuppel des Stammsitzes der Bank of Montréal gegenüber passen dazu noch einigermaßen. Und in der Platzmitte erinnert ein Denkmal an den Stadtgründer Maisonneuve.
Eine weitere Seite des Platzes wird allerdings von einem Art-Déco-Hochhaus aus den Dreißigern dominiert, das die Türme der Basilika noch einmal um dreißig bis vierzig Meter überragt. Auf der letzten Kante des Quadrats erreicht der moderne Wolkenkratzer der Banque Nationale du Canada dann sogar mehr als hundertdreißig Meter.
Wirklich harmonisch ist die Bebauung der Place d'Armes sicher nicht. Doch interessant ist sie allemal. Und schon alleine die Vielzahl der Souvenirläden in den Straßen rund um den Platz ist ein ziemlich guter Beleg dafür, dass er eines der absoluten touristischen Zentren von Montréal darstellt. Irgendwie ist er sogar durchaus repräsentativ für diese Metropole, in der Altes und Neues meist wild durcheinander gemischt daher kommen.
Mitten zwischen den Hochhäusern, deren Baujahre inzwischen ja selbst ein volles Jahrhundert abdecken, duckt sich gelegentlich einmal eine viktorianische Villa. In nagelneuen, im Sonnenlicht glitzernden Glasfassaden spiegeln sich die Fronten niedriger, hundert Jahre älterer Backsteingebäude gegenüber. Und mancher Bankenturm wirft inzwischen seinen Schatten auf den einst ziemlich hohen, nun aber eher niedrig wirkenden Kirchturm direkt daneben.
Wenig später verlässt der Marathonkurs die Uferstraße. Doch nicht etwa deshalb wird es mit dem Abbiegen nach links ein wenig unangenehm. Denn praktisch direkt hinter dem alten Hafen wächst parallel zum Ufer ein kleiner, schmaler aber lang gezogener Hügel aus dem Boden, den die Gassen von Vieux-Montréal hinauf streben.
Und damit wartet die erste wirklich spürbare Steigung auf die Läufer. Es mögen vielleicht knappe zwanzig Höhenmeter sein, eigentlich nichts wirklich Beeindruckendes. Doch man muss sie eben auch innerhalb von nur ungefähr dreihundert Metern überwinden. Ganz flach ist das Profil der Strecke nicht. Und in der zweiten Hälfte geht es auch noch deutlich höher hinauf. Zwischen tiefstem und höchstem Punkt liegen rund siebzig Meter.
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Hinter dem imposanten Rathaus | wird die Altstadt allerdings bald wieder verlassen | Auf der zweiten Hälfte der Distanz stoßen die Läufer das später gestarteten Halbmarathons dazu |
Der Boulevard Saint-Laurent, den man dabei beläuft, ist die Mittelachse von Montréal. Er trennt die Stadt in "Ouest" und "Est". In den längeren Straßenzügen, die ihn kreuzen, unterscheidet man nämlich bei der Nummerierung der Häuser noch einmal, ob diese westlich oder östlich davon zu finden sind und ergänzt einen entsprechenden Zusatz. Je höher die Zahlen werden, umso weiter ist man vom Boulevard Saint-Laurent entfernt.
Doch trennte die Straße, die gar nicht so prachtvoll aussieht, wie ihr Name sich anhört, eben auch - und tut es zumindest tendenziell noch immer - zwischen Anglo- und Frankokanadiern. Während die englischsprachigen "Montrealer" sich hauptsächlich im westlichen Teil der Insel nieder gelassen haben, leben im Osten fast ausschließlich französischsprachige "Montréalais".
An einer für die Stadt alles andere als untypischen Kreuzung - auf einer Ecke steht ein kleines kolonialfranzösisches Feldsteinhäuschen, diagonal gegenüber ragt ein Hochhaus nach oben - ist die Kuppe erreicht. Geradeaus, am Fuße des Hügels spannt sich ein chinesischer Torbogen über den Boulevard, dahinter beginnt Chinatown, das Viertel der Chinesen, denen man fünf Jahrhunderte nach Jacques Cartier tatsächlich unterhalb des Mont Royal begegnen kann.
Schließlich gibt es nicht nur franko- und anglophone Bewohner. Die amtliche Statistik kennt auch noch die sogenannten "Allophonen", nämlich jene Bewohner, die weder Französisch noch Englisch als Muttersprache haben. Und das sollen immerhin etwa ein Fünftel der Bewohner der Stadt sein. Neben einem chinesischen Bezirk gibt es auch unter anderem ein italienisches, ein griechisches und ein portugiesisches Viertel.
Und auch die Gruppen der Englisch- und Französischsprecher präsentieren sich keineswegs ethnisch einheitlich, bestehen nicht nur aus Menschen, deren Vorfahren seit vielen Generationen im Lande des roten Ahornblattes leben. Denn gerade aus der Karibik gibt es auch weiterhin eine starke, in Montréal durchaus erkennbare Zuwanderung nach Kanada.
Doch nicht über die Kuppe hinweg führt der Kurs die Marathonis, sie bleiben auf dem Hügelkamm und biegen in die Rue Notre-Dame ein, die bei jedem Montréal-Besuch zum Pflichtprogramm gehört. Sicher nicht unbedingt wegen des Hochhauses, das zwar zu den "trois palais de la justice" zählt, gegen die beiden daneben und schräg gegenüber liegenden klassizistischen Vorgängerbauten optisch jedoch eher schlecht bestehen kann.
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Über eine langgezogen Steigung verlässt man die Innenstadt | und absolviert den Rest der Strecke meist in Wohngebieten |
Der zum Fleuve Saint-Laurent abfallende Platz, der sich kurz hinter dem Gerichtsgebäudetrio öffnet, ist aber neben der Place d'Armes der zweite wichtige Anlaufpunkt für Touristen. Auch hierbei liefern die Souvenirläden, die sich hauptsächlich in den von ihm abzweigenden Gassen Vieux-Montréals drängeln, einen guten Maßstab.
Gerade rund um diese Freifläche haben die kopfsteingepflasterten Sträßchen sogar ein ziemlich einheitliches Gesamtbild. Und so fühlt man sich in ihnen gelegentlich hundert oder noch mehr Jahre auf der Zeitachse zurück versetzt. Auch dieser Platz ist nebenbei bemerkt nach Jacques Cartier benannt, dem man wie schon erwähnt in Québec nahezu überall begegnen kann.
Neben der Rue Notre-Dame steht auf der obersten Stelle der Place Cartier allerdings eine Säule, die einen ganz anderen Seefahrer zeigt. Den britischen Admiral Horatio Nelson nämlich, der also nicht nur auf dem Londoner Trafalgar Square auf den Trubel unter ihm herunter schaut. Schon lange vor ihrem europäischen Gegenstück wurde sie im Jahr 1809 errichtet. Zu diesem Zeitpunkt standen Montréal und Neufrankreich gerade erst ein halbes Jahrhundert unter britischer Herrschaft.
Dass Nelson am Kap Trafalgar ausgerechnet die Franzosen besiegte, machte sie in frankokanadische Augen endgültig zu einer reinen Provokation. Und wenig überraschend wurde das Monument auch öfter einmal beschädigt. Besonnenere, aber genauso trotzige Montréalais stellten gut hundert Jahre später auf dem kleinen Plätzchen auf der anderen Seite der Rue Notre-Dame ein Denkmal für Jean Vauquelin auf, der die französische Kolonie im achtzehnten Jahrhundert lange erfolgreich gegen die angreifenden britischen Truppen verteidigt hatte.
Ziemlich bezeichnend für die Situation ist auch die völlig unterschiedliche Benennung dieses Teils des in Europa als Siebenjähriger Krieg bekannten Konfliktes. Denn in der englischsprachigen Literatur insbesondere in den USA, gelegentlich aber auch in Kanada firmiert er unter "French and Indian War", als "Franzosen- und Indianerkrieg". Die Québecois sprechen aus ihrem Blickwinkel dagegen meist ein wenig verbittert vom "Guerre de la Conquête", dem "Eroberungskrieg".
Den Place Vauquelin, dessen ohnehin im Vergleich zur Nelsonsäule deutlich bescheidener ausgefallenes Denkmal, sich auch noch hinter einem Springbrunnen versteckt, begrenzt auf der einen Seite einer der Justizpaläste. Die andere nimmt dagegen das Rathaus der Stadt Montréal ein, das mit ein wenig Phantasie durchaus ein bisschen etwas von einem Schloss hat.
Vom Balkon des Hôtel de Ville herunter rief der französische Präsident Charles de Gaulle, der Kanada 1967 anlässlich dessen hundertjährigen Bestehens besuchte, bei einer Rede der versammelten Menschenmenge die Worte "vive le Québec libre" - "es lebe das freie Québec" - zu und löste damit fast eine Staatskrise aus.
Denn obwohl nie wirklich abschließend geklärt wurde, wie dieser Satz gemeint war - de Gaulle ließ sich später nicht festnageln ob er damit die völlige Loslösung von Kanada oder nur eine größere Autonomie der Provinz angesprochen hatte - fassten in die Separatisten natürlich als eindeutige Unterstützung für ihre extremen Positionen auf. Die kanadische Regierung war dagegen ziemlich verärgert. Und im Streit reiste der Gast aus Frankreich am Ende vorzeitig ab.
Im nordamerikanischen Vergleich wäre dieses Québec zwar ein absoluter Winzling, doch in Europa gibt es zwei Dutzend Staaten, die weniger als seine sieben bis acht Millionen Einwohner haben. Und nicht nur das einstige Mutterland sondern auch noch Deutschland und Spanien hätten in der Fläche Québecs locker Platz.
Jedenfalls wurde wohl hauptsächlich durch diese deutlichen Unabhängigkeitsbestrebungen der Québecois in den Sechzigern Französisch - übrigens zwei Jahre nach de Gaulles Besuch - schließlich zur zweiten offiziellen Sprache des Landes erklärt. Und auch das Ahornblatt war erst kurz zuvor zur Nationalflagge erklärt worden. Vorher führte Kanada eine Flagge, die - ähnlich wie die noch heute aktuellen von Australien und Neuseeland - den Union Jack in der Ecke zeigte.
Die vor und auf dem Hôtel de Ville flatternde Fahne von Montréal bekommt dagegen hauptsächlich dadurch eine gewisse Neutralität, dass es die Symbole der verschiedenen Bevölkerungsgruppen vereint. Das Grundmuster ähnelt zwar ein wenig der englischen - die man nicht mit der britischen verwechseln sollte - Flagge mit dem roten Georgskreuz.
Doch im linken oberen Viertel ist da eben auch die französische Lilie - die "fleur de lys" - zu sehen. Die drei anderen Viertel werden von einer Rose für den englischen, einer Distel für den schottischen und einem Kleeblatt für den irischen Teil der Einwohnerschaft eingenommen. Auch die letzten beiden haben nämlich einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung der Stadt genommen.
So hatten Kaufleute aus Schottland Ende des achtzehnten Jahrhunderts als Konkurrenz zur bis dahin nahezu allmächtigen Hudson's Bay Company in Montréal die Pelzhandelsgesellschaft North West Company gegründet und damit für einen erheblichen wirtschaftlichen Aufschwung gesorgt. Und in den Folgejahren wanderten zudem viele Iren in die neue britische Kolonie in Nordamerika aus und ließen sich hauptsächlich rund um den Mont Royal nieder. Mit den Franzosen teilten sie nicht nur den katholischen Glauben sondern auch die Abneigung gegen Engländer.
Alleine sieht man die Flagge in der Stadt allerdings eher selten wehen. In der Regel tritt sie in Gemeinschaft mit dem roten Ahorn Kanadas und dem blauem, mit vier Lilien verzierten Tuch Québecs - kurz "Fleurdelisé" genannt - auf. Eine Kombination, die eigentlich recht gut die Einstellung der meisten Bewohner dieser vielleicht kanadischsten aller kanadischen Städte widerspiegelt. In Montréal hat der Separatismus jedenfalls sicher keine Mehrheit.
Recht schnell ist der Besuch in der Altstadt dann allerdings doch wieder beendet. Vorbei am "Château Ramezay", der früheren Residenz des französischen Stadtgouverneurs, und dem "Lieu historique national de Sir-George-Étienne-Cartier", dem inzwischen zum kanadischen Nationaldenkmal erklärten Wohnsitz des schon erwähnten zweiten Cartier, die heutzutage beide als Museum dienen, führt die Rue Notre-Dame schon nach kaum zwei Kilometern wieder aus Vieux-Montréal hinaus.
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Der Parc Maisonneuve muss zum Abschluss noch komplett umrundet werden |
Um den Höhenunterschied des ziemlich abrupt endenden Hügels auszugleichen, wird sie noch ein Stück wie auf Stelzen als Brückenkonstruktion weiter geführt. Eine Rampe bringt die Marathonis, die sich nun langsam der Halbzeitmarke nähern, eine Ebene nach unten. Doch die zweite Hälfte wird insgesamt deutlich weniger "touristisch" ausfallen als die gerade absolvierte Passage.
Nach der Überquerung der Stadtautobahn, die mitten durchs Zentrum schneidet und dabei zwar zum Teil, aber eben nicht überall im Tunnel verläuft, hält sich die Strecke jedenfalls erst einmal für mehrere Kilometer in Wohnvierteln auf. Diese sind zwar durchaus typisch und bieten das eine oder andere interessante Detail - wie die in Montréal so häufig vor die Häuser gesetzten Außentreppen, die einen direkten Zugang zu den separaten Wohnungen im ersten Stock ermöglichen. Doch wirklich spektakulär sind sie nicht.
Ein wenig erinnert die Kurssetzung dabei an einen abgewinkelten Arm. Es geht eine lange Gerade aus der Innenstadt hinaus und dann neunzig Grad nach links. Nach einer weiteren nicht ganz so langen Gerade folgen innerhalb von gerade einmal hundert Metern zwei Linksschwenks direkt hintereinander, so dass man in der Parallelstraße plötzlich genau in entgegen gesetzter Richtung unterwegs ist.
Und am "Ellenbogen" dreht die Strecke dann wieder zum Zentrum hin ab, hinein in den Boulevard Maisonneuve, eine direkte Parallelstraße jener Rue Saint-Catherine, die man hinaus gelaufen war. Nach Ende der insgesamt fünf Kilometer langen Schleife befinden sich die Marathonis jedenfalls nur einen einzigen Straßenblock von der Ecke entfernt, an der sie diesen Ausflug begonnen hatten.
In der Nähe des Ellenbogens piepen zum Abschluss der ersten Hälfte auch die Zwischenzeitmatten. Und wie kaum anders zu erwarten sind bei der Halbmarathonmarke die Afrikaner an der Spitze längst unter sich. Es ist kein dichter Pulk mehr. Nur die beiden Führenden Luka Kipkemoi Chelimo und Thomas Omwenga laufen in 1:06:10 gemeinsam durch. Ihre kenianischen Landsleute Peter Nkaya, Lamech Mokono und Julius Kirwa Choge folgen dahinter mit Zeitabständen von jeweils einer halben bis ganzen Minute zueinander.
Bei den Frauen hat die äthiopische Vorjahressiegerin Serkalem Abrha sich in Begleitung ihres Landsmanns Genna Tufa schon einen deutlichen Vorsprung vor der Konkurrenz erarbeitet. Mit 1:16:27 liegt sie schon mehr als zwei Minuten vor der ebenfalls aus Äthiopien stammenden, nun aber in New York ansässigen Alemtsehay Misganaw.
Gleich doppelt wird auf dem Zusatzschlenker die noch immer hoch über den Läufern hängende Zufahrtsrampe des Pont Jacques Cartier unterquert. Einmal auf den Hin- und einmal auf dem Rückweg. Und mit der zweiten Passage wird es zumindest für die etwas langsameren Marathonis plötzlich deutlich belebter auf der Straße. Denn das zwei Stunden später gestartete und über die Brücke von der Île Sainte-Hélène herüber gekommene Halbmarathonfeld stößt nun dazu.
Angesichts eines Größenverhältnisses von fast eins zu drei - 2534 Zieleinläufen beim Marathon stehen 7098 auf der halb so langen Strecke gegenüber - ist dieser Ansatz vielleicht gar nicht so schlecht. Genau dann nämlich, wenn es auf der Königsdistanz einsam zu werden beginnt, weil sich die Läuferreihe immer weiter auseinander zieht, werden die Lücken dadurch wieder geschlossen.
Dank des geschickt gewählten Zeitabstandes bleiben die schnelleren Halbmarathonis nicht im noch zu dichten Pulk langsamerer Langstreckler hängen. Und durch die drei Kilometer lange Anlaufphase vor dem Zusammenführen beider Strecken ist das Feld auf der Halbdistanz auch entzerrt genug, um seinerseits den Marathon nicht wirklich zu behindern.
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Rund vier Kilometer geht es um den Park herum |
Es ist eine Variante, über die man bei manchem notleidenden Marathon hierzulande vielleicht einmal nachdenken sollte. Eventuell wäre so der Teufelskreis von immer weniger Startern zu durchbrechen und dem mehr und mehr zum Randereignis verkommenden Namensgeber neues Leben einzuhauchen.
Und im Gegensatz zu einem gemeinsamen Start würden die Sieger auf der langen Distanz beim Zieleinlauf dann auch nicht irgendwo zwischen unzähligen kaum halb so schnellen Hobby- und Gelegenheitsläufern aus dem Mittel- und Hinterfeld des Halbmarathons untergehen, sondern angemessen empfangen werden können.
Noch einmal nähert sich die Strecke dem Zentrum. Doch bevor man wirklich wieder in die Centre-Ville hinein läuft, dreht sie an einer von modernen Zweckbauten besetzten Kreuzung endgültig ab. Auf einer davon sind die "Bibliothèque et Archives nationales du Québec" untergebracht - die "Nationalbibliothek" und die "Nationalarchive" von Québec. Die Frage, ob man für Québec und die Québecois den Begriff "Nation" verwenden soll und darf, sorgt - ähnlich wie bei den Katalanen in Spanien - immer wieder für Diskussionen.
Sie selbst tun es jedenfalls ziemlich oft. Es gibt in der frankokanadischen Provinz einen "Nationalfeiertag", die "Fête nationale" am Johannistag im Juni. Das Provinzparlament firmiert unter "assemblée nationale", also "Nationalversammlung". Diese hat ihren Sitz in der Stadt Québec, das sich als "capitale nationale" bezeichnet.
Und nicht nur die von der Bundesregierung verwalteten Schutzgebiete werden als "Nationalpark" bezeichnet sondern auch die der eigenen Naturbehörde. Darum gibt es neben den "Parcs nationaux du Canada" eben auch die "Parcs nationaux du Québec", deren Status überall sonst im Land jedoch nur der eines "Provincial Parks" wäre.
Die Gebäude auf der anderen Straßenecke gehören zur UQÀM. Hinter diesem seltsamen Kürzel inklusive französischen Akzent versteckt sich die "Université du Québec à Montréal", eine der beiden frankophonen Hochschulen der Stadt - die andere ist die Université de Montréal, die ihren Sitz auf der stadtabgewandten Seite des Mont Royal hat.
Wie die altehrwürdige, englischsprachige McGill University - vom Schotten James McGill gegründet - nordwestlich des Hochhausbezirks findet man die UQÀM dagegen direkt am Rande der Innenstadt. Und das Studentenviertel um sie herum heißt wie sein Pariser Gegenstück "Quartier Latin". Doch während sich in den stimmungsvollen Nachbarsträßchen Cafés, Restaurants und Musikkneipen aneinander reihen, ist die Rue Berri, die der Marathonkurs einschlägt, eher eine breite Ausfallstraße.
Zuerst langsam, dann aber immer spürbarer steigt sie zwischen Kilometer fünfundzwanzig und sechsundzwanzig an. Fast die Hälfte des Unterschiedes zwischen tiefstem und höchstem Punkt gilt es dabei zu überwinden. Erst mit dem Abbiegen in eine Querstraße wird die Laufstrecke wieder wirklich flach.
Innerhalb weniger Meter hat sich damit jedoch das Bild ziemlich geändert. Denn nun ist man wieder in ein Wohnviertel eingetaucht, das für Montréal typischer kaum sein könnte. Fast jedes der zwei- oder dreistöckigen Häuser besitzt nämlich eine jener offenen Treppen an der Außenfront, die bei weitem nicht nur als bloße Zugänge dienen.
Beim Schlendern durch die Straßen der Stadt bemerkt man nämlich immer wieder, wie viel Leben sich zumindest bei schönem Wetter auf ihnen abspielt. Nachbarn sitzen dann zum Schwätzchen auf ihnen beisammen. Kinder spielen um sie herum. Man nimmt sich einfach etwas Zeit. Beobachtungen, die irgendwie doch ein wenig den französischen Akzent Montréals zu unterstreichen scheinen.
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Nicht nur Einheimische hat man am Start, über vierzig Nationen nehmen teil, sogar aus dem fernen Südafrika sind Marathonis angereist |
Die Straße endet an einem Park und der Marathonkurs orientiert sich nun erst einmal an ihm. Tendenziell geht es auch weiterhin leicht bergauf. Einen Kilometer später scheint man dann sogar genau auf den Mont Royal zuzulaufen. Dieser hat seine steilste, die südöstliche Flanke zwar direkt der Stadt zugewendet, was seine Rolle als natürlicher Aussichtsbalkon nur noch bestärkt, doch auch von der Seite wirkt er noch immer imposant und abschreckend genug.
Nahe der nächsten Marke am Straßenrand, inzwischen der neunundzwanzigsten, gibt es dann aber Entwarnung. Man muss nicht wirklich den Hausberg der Stadt hinauf. Denn ein weiterer Knick des Kurses führt wieder von ihm weg. Dank dieser regelmäßigen Zickzacksprünge läuft man im - wie in den meisten nordamerikanischen Städten - praktisch vollkommen rechtwinkligen Straßensystem Montréals dennoch nie allzu lange stur geradeaus.
Zwei Kilometerschilder kurz hintereinander hat man passiert. Nicht nur die Meilen sind nämlich inzwischen gesondert gekennzeichnet. Seit einiger Zeit treten die Markierungen mit kurzem Abstand zueinander im Doppelpack auf. Das ist natürlich dem Halbmarathon geschuldet, dessen Kilometerpunkte ja jeweils um knapp hundert Meter versetzt sind.
Verwirrung kommt nicht nur wegen der natürlich völlig unterschiedlichen Zahlen keine auf. Die Schilder sind vielmehr schon aus großer Entfernung zu erkennen und auseinander zu halten. Sie haben nämlich auch verschiedene Farben. Das auch anderswo anzutreffende Konzept, einer Distanz eine durchgängige Farbe zuzuordnen, nutzt man in Montréal ebenfalls.
Schon die Startnummern sind unterlegt. Rot hat man als Marathoni, grün tragen die Läufer des Halben, während sie beim Zehner an gelb zu erkennen sind. Und genauso sind dann auch die Kilometerschilder gehalten. Sogar das Band der Marathonmedaille hat zur Unterscheidung die Farbe rot. Nur die blaue Linie auf dem Asphalt, die angeblich den idealen, den kürzesten Weg kennzeichnen soll, ist auch in der Metropole am Sankt-Lorenz-Strom weiterhin blau.
Den Weg zu Kilometer dreißig absolviert man übrigens wieder auf der Mittelachse der Stadt, dem Boulevard Saint-Laurent. Doch natürlich merkt man davon nicht das Geringste. Und bis zur Stadtgrenze wären es ohnehin auch nur noch ein paar Blocks. Nicht etwa weil man bereits die absoluten Außenbezirke erreicht hätte. Doch muss sich die Ville de Montréal die Insel mit einigen anderen Gemeinden teilen.
Und insbesondere rund um den Hausberg gibt es mitten im Stadtgebiet sogar einige richtige Enklaven. Das nach dem Berg benannte Mont Royal, das nun nicht mehr allzu weit entfernt ist, gehört dazu. Das englischsprachige Villengebiet Westmount auf der anderen, seiner Schauseite ist vielleicht noch bekannter und vom Stadtzentrum kaum mehr als einen kleinen Spaziergang entfernt. Und obwohl die Orte vollkommen mit der Stadt verwachsen sind, haben sie formale Eigenständigkeit.
Früher waren es sogar noch etliche mehr. Aber in einer großen Gebietsreform - ähnlich der auch in einigen deutschen Bundesländern durchgezogenen - wurden in Quebéc 2001 zahlreiche Gemeinden zusammen gelegt. Auf dem Land entstanden dabei - wie hierzulande auch - oft aus mehreren weit entfernten Städtchen großflächige Retortengemeinden ohne echte Identität und Zusammenhalt.
Doch ausgerechnet auf der Île de Montréal, wo man die zuvor rund zwei Dutzend selbständigen, aber eigentlich vollständig miteinander verwachsene Verwaltungseinheiten unter dem Dach der Metropole zusammen fasste, regte sich der stärkte Widerstand. Er kam hauptsächlich aus den anglophonen Gebieten im Westen, die so in einer Stadt mit französischsprachiger Mehrheit aufgegangen wären.
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Vorbei am früheren olympischen Dorf geht es der letzten Kilometermarke entgegen |
Bei Referenden, die dann drei Jahre später in den eingemeindeten Orten abgehalten wurden, sprachen sich in vielen die Einwohner wieder gegen die Stadt Montréal aus. Und so gibt es insbesondere im Südwesten der Insel, im auch unter Französischsprachigen als "West Island" bekannten Gebiet, nun wieder einen Flickenteppich kleiner und kleinster "Municipalities". Doch immerhin gehört der frankophone Osten der Île de Montréal nun administrativ fast vollständig zur Metropole.
Ein Dutzend Kilometer vor dem Ziel ist dann aber nicht nur der höchste Punkt erreicht, die Strecke beginnt sich auch wieder ein wenig in Richtung Stadt und Fluss zu wenden. Doch bekommt sie auch eine immer stärkere Tendenz nach Nordosten, wo sich das Ziel befindet. Dem Zentrum Montréals wird sie dabei nicht mehr wirklich nahe kommen.
Eine als große Ausnahme einmal nicht schnurgerade sondern in leichten Bögen verlaufende Straße führt zum Startpunkt des Zehn-Kilometer-Rennens. Schon um 8:45 waren hier über fünftausend Läufer und Walker gestartet worden. Die Uhrzeit, zu der sie auf die Strecke gegangen sind, verhindert, dass sie dem Marathon wirklich in die Quere kommen, selbst wenn die Sieger der langen Strecke kurz vor dem Ziel tatsächlich noch einige Nachzügler aufrollen.
Den Zehner gewinnt nach 31:05 Ali-Hadji Said vor dem in der Ergebnisliste mit exakt einer Zehntelsekunde unter vierunddreißig Minuten geführten Jacques Mongeau. Schon als Gesamtdritte läuft Frauensiegerin Aselefech Ayane nach 35:08 über die Ziellinie. Auch die Zweite Nathalie Goyer liefert mit 37:57 noch eine achtbare Zeit ab.
Doch bereits nach zwanzig Läufern, also nicht einmal einem halben Prozent des Feldes, springt die erste Ziffer auf eine vier, was sich nicht nur mit der durchaus leicht welligen Strecke begründen lässt. Auch ein Blick in die übrigen Ergebnisse zeigt, dass in Nordamerika deutlich langsamer gelaufen wird als in Europa. Und mit Frankreich, wo der Leistungsgedanke doch noch ein wenig stärker verwurzelt ist als im deutschsprachigen Raum, lässt sich Montréal schon gar nicht vergleichen. "Nous ne sommes pas des Français, nous sommes des Américains".
Rund zwei Kilometer lang ist die leicht abfallende Gerade, auf der man sich - wieder einmal durch Wohngebiete - näher an den Fleuve Saint-Laurent heran arbeitet. Sie ist größtenteils baumbestanden und das ist inzwischen durchaus von Vorteil. Denn längst bricht die Sonne gelegentlich durch die Wolken und treibt die ohnehin schon hohen Temperaturen noch ein wenig weiter nach oben.
Die Sirenen der Ambulanzen sind nun doch etwas häufiger zu hören. Und die Sanitäter haben unübersehbar an diesem Tag gut zu tun. Eine ganze Reihe Läufer wird wegen Kreislaufproblemen behandelt, rund zwei Dutzend von ihnen landen deshalb sogar im Krankenhaus. Überschattet wird die Veranstaltung jedoch vor allem davon, dass ein Halbmarathonläufer kurz vor dem Ziel mit einem Herzinfarkt zusammenbricht und diesem wenig später dann auch erliegt.
Links abbiegen muss man nahe der Schilderkombination "35 - 14 - 3" und nimmt damit endgültig das Ziel ins Visier. Denn abgesehen von einem kleinen Ausflug, bei dem man auf der einen Seite einer Grünanlage einen Straßenblock hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter läuft, strebt die Strecke nun geradewegs dem Olympiaturm entgegen, der gelegentlich in der Ferne schon sichtbar wird.
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Ein kleiner Absatz kann nach so vielen Metern noch einmal eine echte Herausforderung darstellen ... | ... dann ist das Ziel im Blick |
Was in München das Zeltdach war, sollte vier Jahre später in der kanadische Metropole dieser schräge Turm über dem an eine Muschel oder auch an eine fliegende Untertasse erinnernden Stadion werden. Doch wegen technischer und finanzieller Probleme war er zur Eröffnung der Spiele noch gar nicht fertig gestellt. Erst 1987 also mit elf Jahren Verspätung wurde er eingeweiht. Eine Mischung aus Seilbahn und Aufzug befördert seitdem Besucher zur Aussichtsplattform an seiner Spitze hinauf.
So lief der erste und einzige deutsche Olympiasieger im Marathon dann auch nicht in seinem Schatten zur ersten seiner zwei Goldmedaillen. Waldemar Cierpinski gewann damals das direkte Duell gegen seinen Vorgänger, den US-Amerikaner Frank Shorter. Der Finne Lasse Virèn, der zuvor über fünf- und zehntausend Meter erfolgreich war, kam beim Versuch, es Emil Zatopek nachzutun und alle drei Langstrecken zu gewinnen, immerhin auf Rang fünf. Heutzutage wäre das angesichts der Leistungsdichte ziemlich undenkbar.
Cierpinskis Siegerzeit vor mehr als dreieinhalb Jahrzehnten betrug übrigens 2:09:55. Sicher nicht das schlechteste Argument gegen die angebliche genetische Überlegenheit der Ostafrikaner, die nur ihnen solche Leistungen erlauben soll. Eine Generation später sind Cierpinskis Nachfolger in Deutschland trotzdem beinahe zehn Minuten langsamer. Kein einziger von ihnen konnte in diesem Jahr bisher die Zeit von 2:19 unterbieten.
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Halb- und Vollmarathonis werden noch einmal auseinander sortiert | bevor sie am Fuße des Olympiaturmes einlaufen |
Während das einstige Velodrom neben dem Olympiastadion inzwischen zum sogenannten "Biodôme" umgebaut wurde, in dem unterschiedliche Ökosystem von den Tropen und bis zur Arktis mit ihrer Fauna und Flora nachgebildet und zu besichtigen sind, steht das Stadion selbst dagegen meist leer.
Seit die Baseballer der "Éxpos" nicht mehr existieren, nutzen es einzig die "Alouettes de Montréal" - die Lerchen von Montreal, die Canadian Football, eine mit leicht anderen Regeln versehenen Variante der amerikanischen Sportart spielen - gelegentlich. Doch können sie es eigentlich nur in der Endrunde füllen. Die meisten Begegnungen absolvieren sie in der deutlich kleineren Arena der McGill Universität. Übrigens taucht auf den Trikots der Alouettes trotz des in Großbuchstaben geschriebenen Stadtnamens ein kleiner französischer Akzent auf. "MONTRÉAL" steht dort.
Angesichts der noch zu absolvierenden Distanz kommt der anfangs so weit entfernt erscheinende Turm allerdings dann doch etwas zu schnell näher. Denn als man ihn fast schon greifen kann, sind immer noch mehr als vier Kilometer zurück zu legen. Der Parc Maisonneuve, in dem sich nicht nur das Stadion sondern auch das Ziel befindet muss vorher als echte Schikane noch praktisch komplett umrundet werden.
Die Zuschauer sind nun allerdings doch ziemlich zahlreich geworden. An dieser Ecke kann man die eigenen Verwandten, Freunde und Bekannten schließlich noch einmal anfeuern und hat dann noch genügend Zeit zum nahegelegen Ziel hinüber zu eilen, um auch den Einlauf nicht zu verpassen. Eine U-Bahn-Station macht es zudem recht einfach, hierher zu gelangen.
Wie schon auf der ganzen Strecke sind die Anfeuerungen bunt gemischt. Mal sind
es englische und mal französische Aufmunterungen, die den Läufern
zugerufen werden. Ein "courage" ist da genauso zu hören wie ein
"great job" oder "looking good", was zu diesem Zeitpunkt
des Rennens allerdings nur noch bedingt ernst gemeint sein kann. Daran dass
gelegentlich Englisch mit französischem Akzent erklingt, oder manchmal
auch umgekehrt, daran hat man sich in Montréal selbst als Besucher ohnehin
längst gewöhnt.
Diese Zweisprachigkeit sollte auch bei der Eröffnungsfeier der Spiele betont werden, als man das olympische Feuer von zwei Teeangern entzünden ließ. Sandra Henderson aus Toronto vertrat dabei die Anglos, Stéphane Préfontaine - ein Namensvetter des tödlich verunglückten amerikanischen Mittelstrecklers Steve Prefontaine - aus Montreal stand für die Frankokanadier. Erst bei dieser Übertragung wurde vielen jenseits des Atlantik und südlich der Grenze zu den USA wohl klar, dass in Kanada nicht nur Englisch gesprochen wird.
Noch einmal gilt es bei der Umrundung des weitläufigen Parks auch ein paar Meter zu erklettern, denn die erste Gerade steigt wieder an. Und auch die zweite Kante des Vierecks ist leicht wellig. Erst die dritte führt dann endgültig nur noch leicht bergab. Sie endet am ehemaligen Olympischen Dorf mit seinen pyramidenartigen Hochhaustürmen, wo die Strecke wenige hundert Meter vor dem Ziel in den Park hinein abbiegt.
Zwar geht es danach weiter geradeaus, eine echte Zielgerade gibt es aber dennoch nicht. Das Schild mit der "42" ist nämlich schon passiert, als die Strecke noch einmal nach rechts weg knickt. Nicht in der breiten, den Park in Richtung Stadion durchschneidenden Straße findet sich nämlich der Einlauf sondern auf einem deutlich schmaleren Parkweg. Der kleine Bordstein, den es noch zu überwinden gilt, um ihn zu erreichen, kann dabei nach zweiundvierzig Kilometern fast schon zu einer echten Herausforderung für die müde Muskulatur werden.
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Vor und hinter dem Ziel ist die Stimmung nicht schlecht |
Für Sieger Luka Kipkemoi Chelimo, der sich erst auf den letzten Kilometern von seinem Begleiter Thomas Omwenga absetzen kann, gilt das allerdings wohl eher nicht. So schnell wie er mit seinen 2:13:45 wurde in Montréal jedenfalls schon lange nicht mehr über die Marathondistanz gelaufen. Der in Kanada ziemlich bekannte und auch schon oft erfolgreiche Omwenga kommt mit 2:14:37 eine knappe Minute dahinter allerdings sicher auf Rang zwei.
Peter Nkaya folgt in 2:18:06 dann doch schon in gebührendem Abstand, hält Lamech Mokono (2:18:53) jedoch einigermaßen deutlich sicher auf Distanz. Der mit Startnummer "1" auf die Strecke gegangene Vorjahressieger Julius Kirwa Choge erwischt dagegen absolut nicht seinen besten Tag und wird mit 2:25:02 nur Fünfter.
Sein weibliches Gegenstück Serkalem Abrha kann mit Startnummer "2" ihren Erfolg dagegen wiederholen. Nach 2:33:21 überläuft sie jubelnd die Zeitmessmatte. Immerhin als Gesamtsechste, denn zwischen das Keniaquintett und die schnellste Frau schiebt sich kein einziger Einheimischer. Michel Lavoie aus Laval braucht als bester Kanadier mit 2:38:57 noch einmal mehr als fünf Minuten länger.
Auch vor Alemtsehay Misganaw, die mit 2:45:56 Zweite wird, positionieren sich nicht wirklich viele Männer. Gesamtrang zwölf steht für sie am Ende zu Buche. Und selbst die in 2:52:12 auf Platz drei laufende Myriam Grenon aus Longueuil am anderen Ufer des Fleuve Saint-Laurent kommt noch unter die ersten Fünfundzwanzig. Genau zweiundvierzig Zeiten unter drei Stunden werden notiert. Und bis die Hälfte des Feldes im Ziel ist, muss man vier Stunden und siebzehn Minuten warten.
Nicht viel anders ist auch das Bild beim Halbmarathon, wo weit mehr als die Hälfte zwei Stunden und darüber für die Distanz benötigt. Da ist Gilbert Kiptoo schon lange geduscht, schließlich braucht der Kenianer doch nur 1:07:55 für die Strecke. Philip Samoei Kipchumba als Zweiter ist zwei Minuten und zwei Sekunden langsamer, damit jedoch trotzdem noch unter der Marke von siebzig Minuten. Der Drittplatzierte Amor Dehbi bleibt mit 1:10:37 dann allerdings schon klar darüber.
Bei den Frauen siegt Catherine Cormier, eine "Québecoise de Québec", also eine Frankokanadierin aus der Stadt Québec nach 1:17:34 noch wesentlich deutlicher. Denn Josianne Aboungono liegt mit 1:22:32 schon fünf, Marie-Soleil Samson in 1:24:40 sogar bereits sieben Minuten hinter ihr zurück.
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Im weitläufigen Parc Maisonneuve gibt es mehr aus genug Platz für die Versorgung der Läufer nach dem Rennen |
Nicht ganz zufällig klingen - abgesehen von den ostafrikanischen Laufprofis - fast alle der erwähnten Namen französisch. Beim Durchblättern der Ergebnislisten stellt man nämlich nicht nur fest, dass eben doch bei der großen Mehrzahl der Teilnehmer unter Nation das Kürzel "CAN" zu finden ist. Der Wohnort - Vereine sind in Nordamerika nicht wirklich interessant und werden deshalb auch nicht genannt - findet sich zudem meist in Québec.
Trotz aller Bekundungen ist der Marathon de Montréal am Ende nämlich doch eher eine lokale - oder wie man in der frankokanadischen Provinz wohl sagen würde "nationale" - Angelegenheit.
Anglos aus dem Rest des Landes oder gar Ausländer zieht es jedenfalls noch nicht in Scharen nach Montréal.Vielleicht ändert sich das ja zumindest in Bezug auf die US-Amerikaner, wenn der Marathon zur in den Staaten so erfolgreichen Rock'n Roll-Veranstaltungsserie stößt, die sich nun auch auf andere Länder ausdehnen möchte.
Doch auch ohne die zukünftig nun wohl deutlich lautere Beschallung an
der Marathonstrecke, hat Montréal als Laufreiseziel durchaus seinen Reiz.
Denn wohl nirgendwo treffen die französischen, die britischen und die amerikanischen
Einflüsse in Kanada so direkt aufeinander. Montréal ist Kanada und
Nordamerika mit einem kleinen französischen Akzent. Und der ist mehr als
nur ein kleiner Strich über einem Buchstaben.
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Bericht und Fotos von Ralf Klink Ergebnisse und Infos www.marathondemontreal.com Zurück zu REISEN + LAUFEN aktuell im LaufReport HIER |
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