14.8.10 - Helsinki City Marathon (Finnland)

Zwischen Nurmi und Virén

von Ralf Klink

Zieht man auf der Karte Europas ungefähr dort einen dicken Strich, wo zwei Drittel des Weges vom Äquator zum Nordpol zurückgelegt sind - also bei sechzig Grad nördlicher Breite - stößt man dabei auf eine erstaunliche Städteansammlung. In einem nur knapp hundert Kilometer breiten Streifen liegen nahezu alle wichtigen Metropolen des Nordens aufgereiht wie die Perlen auf der Schnur.

Die Reihe beginnt mit Oslo, die norwegische Hauptstadt, in deren Ballungsraum über ein Drittel der Landesbevölkerung lebt. Einige hundert Kilometer weiter östlich nimmt Stockholm für Schweden eine fast genauso zentrale Rolle ein. Auf der anderen Seite der Ostsee findet sich ganz am Ende einer tief eingeschnittenen Bucht mit St. Petersburg auch die frühere russische Hauptstadt und das noch immer zweitwichtigste Zentrum des Riesenreiches.

Am Südrand dieser Bucht ist mit dem Tallinn dagegen eine Stadt auf der Karte eingezeichnet, die erst vor knapp zwei Jahrzehnten wieder zur Kapitale eines unabhängigen Staates geworden ist. Vielleicht liegt es auch daran, dass hierzulande eher wenige die Verbindung mit "Estland" richtig hin bekommen.

Die Stadt, die Tallinn am anderen Ufer des Finnischen Meerbusens genau gegenüber und damit übrigens als einzige in dieser Auflistung tatsächlich komplett nördlich der Sechzig-Gradlinie liegt, ist dann doch schon ein wenig bekannter. Wenn auch für eigentlich nahezu alle auch nur dem Namen nach. Denn ansonsten fällt zu Helsinki vermutlich den wenigsten etwas ein. Finnische Hauptstadt, na klar. Aber sonst?

Ja, in Paris da gibt es Eiffelturm, Triumphbogen und Champs-Elyseés. Bei London denkt man sofort an die Tower Bridge, den Buckingham-Palast und Big Ben. Rom hat den Petersdom, das Kolosseum und seine vielen Piazzas. Athen hat die Akropolis. Auch die Grachten von Amsterdam sind ein Begriff. Ober das Atomium von Brüssel. Falls einem bei Nennung der belgischen Hauptstadt nicht gleich der kleine Junge einfällt, der tagein und tagaus Wasser lassen muss.

Direkt neben dem Start des Marathons hat man Paavo Nurmi ein Denkmal gesetzt Bei sommerlichen Temperaturen lässt es sich auch gut im Freien auf den Startschuss warten Havis Amanda ist der bekannteste Brunnen von Helsinki und die finnische Variante der kleinen Meerjungfrau

Selbst bei den nordischen Nachbarn auf dem gleichen Breitengrad wird man mit etwas Nachdenken fündig. Zu Stockholm kann man dann zum Beispiel so etwas wie "Schären" in den Raum werfen. Und jeder Sportbegeisterte hat aus Oslo schon einmal eine Ski-Übertragung vom Holmenkollen verfolgt. Doch Helsinki? Da zucken praktisch alle mit den Schultern. Nun, eine mittelalterliche Altsstadt nennt die finnische Kapitale nicht ihr Eigen. Wie auch? Wurde doch erst 1550 auf königliche Anordnung überhaupt eine Siedlung in der Region gegründet. Und knapp hundert Jahre später zog der sich nicht richtig entwickelnde Handelsplatz - ebenfalls auf Geheiß des Herrschers - sogar noch einmal einige Kilometer von einer Flussmündung auf jene Halbinsel um, auf der sich heute das Zentrum von Helsinki befindet. Da kann also nicht viel sein.

Auch Prunkbauten aus dem siebzehnten oder achtzehnten Jahrhundert sucht man vergeblich. Denn zum einen sorgte im Jahr 1808 ein Großbrand dafür, dass von jener auch nach dem Umzug wieder zum größten Teil aus dem im Land reichlich vorhandenen Holz erbauten Stadt nicht mehr viel übrig blieb und sie nun schon zum zweiten Mal komplett neu aufgebaut werden musste.

Zum anderen musste Helsinki, nach seiner Gründung ohnehin fast drei Jahrhunderte warten, bis es wirklich zur Hauptstadt wurde. Und auch dann war es vorerst nicht der Regierungssitz eines eigenen finnischen Staates. Nur die Verwaltung eines unter der Herrschaft des russischen Zaren stehenden, halbautonomen "Großfürstentums Finnland" war seit 1812 in der Stadt beheimatet.

Russland hatte das seit vielen Jahrhunderten zwischen beiden Großmächten umstrittene Finnland drei Jahre zuvor endgültig von den Schweden - Helsinkis Gründer war nämlich ein schwedischer König mit Namen Gustav Vasa - erobert. Nun war Alexander I. der Meinung, dass Turku, das alte finnische Zentrum ganz im Westen des Landes viel zu nah am gerade bezwungenen Gegner zu finden sei.

Helsinki lag da von St. Petersburg aus gesehen einfach ein bisschen günstiger. Wie so oft in der Geschichte sorgte also auch in diesem Fall wieder hauptsächlich ein Zufall dafür, dass es zu einschneidenden Veränderungen kam und aus einem eigentlich recht unbedeutenden Städtchen eine wichtige Metropole wurde.

Noch einmal über hundert Jahre vergingen, bevor Helsinki eine "richtige" Hauptstadt eines selbstständigen Staates war. Als das frühere Zarenreich 1917 in den Wirren der Oktoberrevolution versank, erklärte Finnland seine Unabhängigkeit. Lenin, der durch den russischen Bürgerkrieg erst einmal andere Sorgen hatte, willigte ein. Und so regierten sich die Finnen nach vielen Jahrhunderten der Fremdherrschaft zum ersten Male vollkommen alleine.

Eigene Olympiasieger hatte man da allerdings schon. Denn bei den Spielen von 1912 in Stockholm durfte man bereits mit einer separaten Mannschaft - aber noch unter russischer Flagge - antreten. Und prompt holte zum Beispiel der Läufer Hannes Kolehmainen gleich dreimal Gold für Finnland. Neben einem Doppelerfolg über fünf- und zehntausend Meter siegte er auch im damals olympischen Geländelauf. Eine vierte goldene Medaille fügte er seiner Sammlung 1920 in Antwerpen als Sieger im Marathon hinzu.

Der Hauptbahnhof von Helsinki gilt als typisches Beispiel für die finnische Variante des Jugendstils

Auf den kürzeren Strecken hatten da bereits andere Landsleute seine Nachfolge angetreten. Ville Ritola zum Beispiel, dessen Bilanz am Ende fünf Gold- und drei Silbermedaillen betrug und der ebenfalls sowohl über fünf als auch über zehn Kilometer - im Gegensatz jedoch zu Kolehmainen bei zwei verschiedenen Spielen - Olympiasieger wurde. Dass er allerdings 1924 in Paris außerdem auch noch über die Hindernisse erfolgreich war, macht seine Leistung ebenfalls einzigartig.

In den Zwanziger- und Dreißigerjahren gab es sogar eine fast schon unglaubliche Dominanz der Läufer aus dem kleinen Land im Norden Europas. Jeweils über ungefähr drei Jahrzehnte wurden die Weltrekorde auf den beiden Bahnlangstrecken nur von ihnen immer weiter verbessert. Mehr als ein halbes Dutzend herausragender Athleten ließen in dieser Ära den Begriff der "fliegenden Finnen" entstehen, der sich ursprünglich keineswegs auf jene Skispringer bezog, für die er heutzutage oft verwendet wird.

Mit Taisto Mäki war es auch einer von ihnen, der 1939 als Erster die fünfundzwanzig Stadionrunden unter 30 Minuten zurück legte. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und der damit verbunden Ausfall zweier Olympischer Spiele nahmen ihm jede Chance zu noch höherem Ruhm. Wohl auch deshalb sagt er heutzutage den meisten genauso wenig wie Lauri Lehtinen, Ilmari Salminen oder Viljo Heino, die alle ebenfalls in den Weltrekordlisten auftauchen.

Einer thront jedoch über allen. Neben etlichen Weltrekorden erlief er sich nämlich neunmal olympisches Gold sowie dreimal Silber. Sowohl über fünfzehnhundert wie auch über fünftausend und zehntausend Meter oder im Gelände. Und deshalb gilt er nicht nur als größter finnischer Läufer, sondern zusammen mit Emil Zátopek - und vielleicht inzwischen Haile Gebrselassie - sogar als der Größte in diesem Sport überhaupt.

Der Name dieser Sportlegende lautet Paavo Nurmi. Noch zu Lebzeiten hat man ihm zu Ehren vor dem Olympiastadion von Helsinki eine Statue errichtet. Und direkt daneben gehen nun jedes Jahr mehrere Tausend seiner Nachfolger auf die gut zweiundvierzig Kilometer des Helsinki City Marathons.

Wenn man ehrlich ist, muss man allerdings zugeben, dass das so ganz gar nicht stimmt. Denn Nurmis Marathonbilanz ist eher dürftig. Bevor er 1932 einen Anlauf nehmen konnte, auch über diese Distanz einen Olympiasieg zu erreichen, wurde er wegen eines Verstoßes gegen den Amateurparagraphen nämlich lebenslang gesperrt. Er solle bei einem Sportfest zu hohe Reisekosten akzeptiert haben, wurde ihm vorgeworfen.

Was aus heutiger Sicht angesichts der inzwischen im Sport bezahlten Gagen ziemlich lächerlich erscheint, beendete Paavo Nurmis Karriere vor ihrer vielleicht absoluten Krönung. Dass ausgerechnet ein schwedischer Funktionär - der Präsident der IAAF und spätere IOC-Chef Sigfrid Edström - den Ausschluss voran trieb, goss nur noch zusätzliches Öl ins Feuer. Erst als Nurmi zwanzig Jahre später in seinem Heimatland das olympische Feuer entzünden durfte, waren die Gemüter endgültig beruhigt.

Der vielleicht andere ganz große finnische Läufer, an den man sich auch heutzutage noch erinnern kann, hat zumindest einen Olympiamarathon auf seinem Konto. Selbst wenn er dabei nur Fünfter wurde und deshalb neben Hannes Kolehmainen nur Albin Stenroos 1924 für Finnland noch Marathongold gewinnen konnte, war alleine die Tatsache, dass er 1976 in Montréal überhaupt an den Start ging, schon eine ziemliche Überraschung.

Denn am Vortag hatte Lasse Virén zum zweiten Mal in Folge über fünftausend Meter die Goldmedaille gewonnen und damit den bisher einmaligen doppelten Doppelsieg auf den beiden Bahnlangstrecken vollendet. Der Versuch, Emil Zátopeks Leistung bei den Spielen von Helsinki zu wiederholen und dann auch noch auf der Straße zu gewinnen, um damit einen kompletten Durchmarsch und einen Dreifacherfolg hinzulegen, misslang jedoch.

Zum Abschluss der Einführungsrunde ist das Zuschauerspalier natürlich besonders dicht Kurz nach dem Start wird das neue Fußballstadion der Stadt passiert

Ein gewisser Waldemar Cierpinski stahl ihm damals die Schau und siegte. Nebenbei bemerkt mit einer Zeit von 2:09:55. Und Virén lieferte mit 2:13:10 ebenfalls ein Ergebnis ab, an das im Jahr 2009 - also dreiunddreißig Jahre später - kein einziger seiner Landsleute auch nur annähernd heran reichen konnte.

Dass Virén immer wieder einmal mit - dem zu jener Zeit keineswegs verbotenen - Blutdoping in Verbindung gebracht wird, hat die Finnen natürlich nicht gehindert, auch ihm schon zu Lebzeiten ein Denkmal zu setzen. Es findet sich keine fünfzig Meter entfernt von der Statue Nurmis auf der anderen Seite der Straße. Im Gegensatz zu diesem ist Viréns Abbild übrigens bekleidet.

So geben die zwei größten finnischen Läufer für den Helsinki City Marathon eigentlich ziemlich passende Eckpunkte ab. Und "zwischen Nurmi und Virén" gilt dabei nicht nur im übertragenden Sinne. Die Start- und später auch die Ziellinie bildet nämlich - zwar recht grob, aber eben doch ungefähr - die Verbindung zwischen den beiden.

Wenig überraschend ist der Marathon von Helsinki auch der größte Lauf des Landes über diese Distanz. Allerdings ist es bei weitem nicht der einzige. Mit über hundert Rennen pro Jahr hat das gerade einmal fünf Millionen Einwohner zählende Finnland eine der höchsten Marathondichten weltweit zu bieten.

Die wenigsten von ihnen kommen jedoch über zwei bis drei Dutzend Teilnehmer wirklich hinaus. Nur in den beiden Nachbarstädten von Helsinki Vantaa und Espoo sowie in der Geburtsstadt Paavo Nurmi Turku, wo nicht nur eine weitere Kopie der Statue steht sondern der Lauf sogar nach dem vermutlich bekanntesten Sohn der Stadt benannt ist, gelangt man in den Bereich von fünfhundert oder mehr Startern.

Da kann der Helsinki City Marathon, der im Normalfall recht konstant zwischen fünf- und sechstausend Läufern landet, natürlich in ganz andere Regionen vorstoßen. Und im ganzen Norden ist man damit unangefochtene Nummer zwei. An das mehr als doppelt so große Gegenstück der schwedischen Hauptstadt Stockholm können die Finnen damit allerdings nicht im Entferntesten heran reichen.

Zwei Jahre älter ist die Konkurrenz auf der anderen Seite der Ostsee zudem. Doch gehören beide definitiv zur gleichen - nämlich der allerersten - Generation von Stadtmarathons. Schließlich haben sie bereits das für Laufveranstaltungen doch schon etwas gesetztere Alter von dreißig und mehr Austragungen erreicht. Da macht der kleine Unterschied irgendwann auch nichts mehr.

Während die Schweden schon 2008 ihr Jubiläum begehen und danach ins vierte Jahrzehnt des Bestehens ihres Marathons gehen konnten, ziehen die Finnen - wie sich auch ohne größere mathematische Kenntnisse leicht errechnen lässt - nun also 2010 mit ihrer dreißigsten Auflage nach. Doch wirklich groß heraus gehoben oder gar - wie es anderswo vielleicht geschehen würde - werbemäßig ausgeschlachtet wird das nicht.

Die offizielle Internetpräsenz ist jedenfalls eher nüchtern gestaltet. Und während man sich anderswo durchaus größere Mühe gibt, Informationen in möglichst vielen verschiedenen Sprachen bereit zu stellen - und dabei aufgrund nicht gerade muttersprachlicher Kenntnisse gelegentlich auch im besten Fall zum Amüsement, im schlechtesten Fall aber eher zu noch mehr Verwirrung ausländischer Teilnehmer beiträgt - muss man auf der Seite des Helsinki Marathons schon regelrecht suchen, um überhaupt den kleine Union Jack zu finden, mit dem man das Ganze von Finnisch auf Englisch umstellen kann.

Immer wieder begegnet man architektonisch interessanten Neubauten Das Finnische Nationalmuseum erinnert dagegen fast an mittelalterliche Burg

Dabei wäre es gerade dort geboten. Schließlich ist das Finnische selbst für Menschen mit etwas Fremdspracherfahrung, die sich sonst zumindest im europäischen Sprachraum eigentlich überall gut zu Recht finden können, nahezu unverständlich. Denn während nahezu alle anderen Sprachen miteinander verwandt sind und zu einer einzigen Großfamilie - nämlich der sogenannten indo-europäischen - gehören, stammt das Finnische aus einer völlig anderen der finno-urgrischen Gruppe.

Schon beim einfachen Zählen lässt sich da zum Beispiel ein deutlicher Unterschied zum Rest von Europa bemerken. Denn ganz egal ob man dabei "one, two, three", "un, deux, trois", uno, dos, tres", "uno, due, tre" beginnt, nirgendwo lässt sich die Beziehung zum Deutschen "eins, zwei, drei" nicht verleugnen. Auch die nordischen Nachbarn der Finnen zählen "en, to, tre" bzw. "ett, två, tre".

Selbst in den keltischen und slawischen Sprachen, mit deren aus deutscher Sicht doch oft eher ungewöhnlichen Buchstabenkombinationen man sich ansonsten recht schwer tut, kann man in diesem Bereich relativ leicht Ähnlichkeiten entdecken. Das bekannte russische Dreiergespann "Troika" ist dafür nur ein Beispiel. Wie anders sind zu all dem dann doch die finnischen Gegenstücke "yksi, kaksi, kolme"?

Engster Verwandter - und bis zu einem gewissen Grad auch für Finnen verständlich - ist noch das Estnische, das als Landessprache im nahen Estland immerhin von einer guten Million Menschen benutzt wird. Andere ähnliche Sprachen wie das früher in Lettland beheimatete Livisch und das ursprünglich in der Region von Sankt Petersburg benutzte Wepsisch stehen - da ohne offiziellen Status - dagegen kurz vor dem Aussterben.

So schlimm steht es um Karelisch, das man in der östlich von Finnland gelegenen, politisch zu Russland gehörenden Region Karelien spricht, zwar noch nicht. Aber es wird langsam ebenfalls vom Russischen verdrängt. Bleiben noch die Dialekte der Samen, also jenes als Rentierzüchter bekannten Volkes hoch im Norden, das man früher auch unter "Lappen" kannte. Die unterscheiden sich vom Finnischen allerdings dann doch schon wieder recht deutlich.

Sprachlich gesehen ist es um die Finnen also ziemlich einsam. So richtig verstehen kann sie eigentlich niemand. Denn mit der oft zitierten Nähe zum Ungarischen ist es auch nicht weit her. Das gehört zwar tatsächlich noch zur gleichen Sprachgruppe. Doch ist es vom Finnischen noch wesentlich weiter entfernt als zum Beispiel Deutsch von Russisch.

Schon aus diesem Grund bleibt ihnen eigentlich auch gar nichts anderes übrig, als mit Ausländern zum Beispiel auf Englisch in Kontakt zu treten. Da dieses von den meisten Finnen wenigstens in Ansätzen beherrscht wird und gelegentlich sogar ganz gute Deutschkenntnisse vorhanden sind, hat man am Ende als Besucher trotzdem relativ wenige Schwierigkeiten mit der Verständigung. Sogar viele Schilder sind zusätzlich noch englisch beschriftet.

Die Startunterlagen, die man als Ausländer vom Helsinki Marathon zugeschickt bekommt, sind sowieso nur in dieser Sprache. Auf eine finnische Variante verzichtet man wohl im Wissen darum, dass sie sich von den Nicht-Finnen sowieso niemand durchliest, völlig. Verglichen mit den schön gedruckten Prospekten anderer Veranstalter haben sie bei allem Umfang und Informationsgehalt allerdings eine gewisse äußerliche Schlichtheit. Statt hochtechnisierter Druckerstraße war bei ihrer Erstellung wohl eher ein simpler Farbkopierer im Einsatz.

Einen ähnlich einfachen, schmucklosen Eindruck vermittelt auch die Startnummernausgabe. Dafür ist alleine schon die ein wenig in die Jahre gekommene Töölö-Sporthalle verantwortlich, in der sie aufgebaut ist. Diese stammt ursprünglich wie das nahe gelegene Olympiastadion schließlich bereits aus den Dreißigern. Denn eine Zeit lang war Helsinki als Austragungsort für die dann ausgefallenen Spiele von 1940 vorgesehen.

Mit dem wuchtigen Parlamentsgebäude endet der erste kurze Besuch im Stadtzentrum Die orgelähnliche Skulptur, an der man nach sechs Kilometern vorbei läuft, soll an den Komponisten Jean Sibelius erinnern

Doch nicht nur mit der wenig zeitgemäßen Ausstattung des Halle sondern auch in der Art, wie die "Töölön kisahalli" von ihnen genutzt wird, können, die Marathonorganisatoren - neben mehreren Sportvereinen aus Helsinki ist dort in federführender Position auch der finnische Leichtathletik-Verband vertreten - keinen großen Eindruck schinden.

Die dort im Normalfall herumstehenden Geräte hat man einfach in die eine Hälfte geräumt. Und in der anderen sind ein paar Tische zum Verteilen der Unterlagen aufgebaut. Nicht einmal ein Vorhang, nur ein Ballfangnetz trennt beide Seiten. Verglichen mit dem Aufwand, der anderswo getrieben wird, um sich ansprechend zu präsentieren, hat das etwas ziemlich spartanisches. Zumal auch die Marathonmesse für einen Lauf dieser Größenordnung eher dürftig ausgefallen ist.

Mit Startgebühren zwischen fünfundfünfzig und fünfundachtzig Euro liegt man jedoch sehr wohl in den Regionen der Mitbewerber aus anderen europäischen Metropolen. Wobei das Preisniveau in Finnland ganz allgemein noch ein wenig über dem - im europäischen Vergleich aber insbesondere bei Lebensmitteln auch recht niedrigen - deutschen liegt.

Der Vergleich ist einfach. Das mühsame Umrechnen entfällt im Gegensatz zu den Nachbarländern. Denn die Finnen haben als einzige Nordeuropäer ihre Markka - auf einem der Scheine war übrigens Paavo Nurmi abgebildet - abgelöst und den Euro eingeführt, während sowohl Schweden als auch Dänemark noch weiter an ihren alten Kronen festhalten und Norwegen ja bisher nicht einmal EU-Mitglied ist.

Eine kleine Besonderheit gibt es allerdings trotz der Gemeinschaftswährung. Ein- und Zwei-Cent-Stücke sind nämlich eigentlich nicht im Umlauf. Preise werden bei Barzahlung grundsätzlich gerundet. Mit kleinen Münzen hat man es traditionell im gesamten Norden nicht so. Und die wenigen aufgrund der Mindestvorgaben der Europäischen Zentralbank ursprünglich geprägten finnischen "sentti" sind längst bei den Sammlern verschwunden.

Die Töölö-Halle ist jedenfalls so etwas wie das universelle Zentrum des Helsinki Marathons. Nur wenige Meter vom Start liegt sie entfernt. Mehr oder weniger direkt davor scheint der bronzene Lasse Virén ständig im Bestreben zu sein, von ihr weg zu laufen. Wirklich gelingen will es ihm aber nicht. Schließlich ist seine Position seit langem gänzlich unverändert.

Während sich am Samstagmittag die Letzten unten noch ihre Unterlagen und das im Startgeld enthaltene Funktions-T-Shirt abholen, haben sich auf der oben um die ganze Halle herum laufenden Empore die Ersten schon nieder gelassen, um langsam mit den ersten Vorbereitungen zu beginnen. Denn auch als Umkleide und später als Massageraum dient das Gebäude.

Nur freitags und am Samstag bis ein Uhr gibt es dort die Nummern. Schließlich wird bald darauf vor der Halle der Marathon gestartet. Deutsche Verbandsfunktionäre würden angesichts einer Startzeit von fünfzehn Uhr mitten im Sommer wohl laut aufjaulen und sofort die Wettkampfordnung mit ihren Hitzeschutzbestimmungen hervor holen.

Ihren finnischen Kollegen ist das nicht nur egal, sie haben die Konditionen als Mitveranstalter ja sogar selbst festgelegt. Doch ist das keineswegs ein Einzelfall. Die aus mitteleuropäischer Sicht recht ungewöhnliche Uhrzeit teilt man sich zum Beispiel mit dem ebenfalls an einem Sommersamstag ausgetragenen Marathon von Stockholm auf der anderen Seite der Ostsee.

Vom Balkon des naturhistorischen Museums scheinen zwei Plastikgiraffen den Läufern Beifall zu spenden

Wer nun der Meinung ist, so weit im Norden sei das kein Problem, dort könne es doch gar nicht so warm werden, irrt sich gewaltig. Die Sommer mögen dort vielleicht ein wenig kürzer sein als hierzulande, heftig sind sie dennoch. Die Durchschnittstemperaturen in Helsinki zwischen Juni und August sind kaum anders als die von Berlin oder Hamburg. Auch dreißig Grad sind keine Seltenheit.

Und eigentlich ist die Witterung in Finnland aufgrund des schon leicht kontinentalen Klimas sogar deutlich stabiler als in Mitteleuropa. So spielt sich dann auch in diesen Monaten ziemlich viel im Freien ab. Die Straßencafés sind stets gut gefüllt. Und der Veranstaltungskalender quillt regelrecht über. Fast hat man das Gefühl, die Finnen wollen die kurze Zeit der Wärme in jeder nur denkbaren Art auskosten.

Ob man allerdings einen Marathon tatsächlich um diese Uhrzeit starten muss, darüber kann man sicher diskutieren. Doch dass die Läufer tatsächlich den heftigen Gewitterregen vorgezogen hätten, der ausgerechnet an diesem Samstagmorgen zur "normalen Marathonstartzeit" um neun Uhr über der Stadt niedergegangen war, steht dann mindestens genauso im Zweifel.

Die Temperaturen sind dadurch zwar etwas gesunken, liegen jedoch auch nach dem großen Guss noch immer deutlich über der Marke von zwanzig Grad. Und die leichte Abkühlung hat man mit etwas anderem bezahlt, was Marathonis im Normalfall noch deutlich weniger schmeckt als pure Hitze, nämlich einer ziemlich hohen Luftfeuchtigkeit.

Trainingsanzüge sind also eigentlich nicht nötig. Auf dicke Bekleidung, um sich vor dem Start warm zu halten kann man verzichten. So laufen schon lange vor dem Startschuss viele im Wettkampfdress herum. Unter den T-Shirts, die manche tatsächlich über die Strecke tragen, andere aber noch ausziehen werden, bevor es tatsächlich los geht, dominieren natürlich das rote des dies- und das grüne des letztjährigen Helsinki Marathons.

Doch noch ein weiteres begegnet dem aufmerksamen Beobachter ziemlich oft, das schwarze des Stockholm Marathons von Anfang Juni. Ob darin jeweils ein finnischer oder ein schwedischer Sportler steckt lässt sich zwar nicht entscheiden, ist aber eigentlich auch egal. Denn so wie die Finnen das mit Abstand größte Kontingent in der Hauptstadt von Sverige stellen, kommt umgekehrt eine große Zahl von Schweden in Suomis Kapitale.

Knapp neunhundert der deutlich über sechstausend eingegangenen Meldungen stammen aus dem Ausland. Und abgesehen von den Esten, für die es mit der Fähre von Tallin nur ein Katzensprung herüber ist, den man auch noch am Lauftag in Angriff nehmen kann, und den durchaus vertretenen Russen - wobei es allerdings sehr wohl davon abhängt aus welcher Region ihres Landes sie stammen - haben darunter natürlich die Skandinavier die kürzeste Anreise.

Das könnte man jetzt fast so lesen, als ob Finnland nicht zu Skandinavien gehören würde. Und tatsächlich lässt sich darüber auch trefflich streiten. Im ganz engen Sinn, nämlich im geographischen versteht man unter diesem Begriff schließlich nur die vom Skandinavischen Gebirge durchzogene Halbinsel, auf der sich Norwegen und Schweden finden.

Aus kulturellen und historischen Gründen wird oft auch noch Dänemark mit hinzu gerechnet, obwohl dieses ja eigentlich von der Lage her eher zu Mitteleuropa gehört. Mit Norwegern und Schweden verbindet die Dänen schließlich eine lange gemeinsame Geschichte, in der sich die Grenzen zwischen den einzelnen Ländern immer wieder einmal verschoben und zwischen ihnen auch Unionen unterschiedlichster Art existierten.

Oft verläuft die Strecke direkt am Wasser entlang Auch etliche Brücken werden dabei überquert

Sprachlich gehören sie ohnehin zusammen. Gehen doch Dänisch, Schwedisch und Norwegisch mehr oder weniger fließend ineinander über, sind größtenteils durchaus auch gegenseitig verständlich. Ihre Abgrenzung zum aus einer völlig anderen Gruppe stammenden Finnisch könnte dagegen eindeutiger gar nicht sein.

Die inzwischen davon etwas weiter entfernten Sprachen Isländisch und das Färöisch sind ebenfalls aus dem Altnordischen entstanden. Schließlich wurden Island und die Färöer - ohne den üblichen Zusatz "Inseln" ist die Bezeichnung korrekt, denn die Endung "-öer" bedeutet bereits genau dies - von zumeist aus Norwegen stammenden Wikingern besiedelt. Je nach Blickwinkel landen also auch diese beiden oft im Topf "Skandinavien".

Andererseits ist die Landschaft der Skandinavischen Halbinsel der von Finnland sicher wesentlich ähnlicher als der dänischen und deshalb sehr wohl skandinavisch. Überkorrekte benutzten dann zwar das Wort "Fennoskandinavien". Aber die Unterscheidung, ob ein Foto mit einem See, einem Birkenwäldchen darum und einem bunten Holzhaus mittendrin in Schweden, Norwegen oder Finnland aufgenommen wurde, ist eigentlich fast nicht möglich.

Und als langjähriger Bestandteil des Schwedischen Königreichs haben die Finnen ja durchaus auch historisch enge Kontakte. Mit voller Absicht haben sie deshalb bei Staatsgründung eine Flagge mit dem sogenannten skandinavischen Kreuz gewählt, das all die aufgezählten Länder in unterschiedlichen Farbkombinationen verwenden. Im Nordischen Rat arbeiten man nun auch schon mehr als ein halbes Jahrhundert mit diesen gut zusammen.

Ganz egal, welche Definition man also verwendet und ob man Finnland also tatsächlich zu "Skandinavien" rechnet, eine enge Bindung hat man unter den nordischen Nationen auf jeden Fall. Während zum Beispiel in Mitteleuropa erst Mitte der Neunziger mit dem Wegfall von Grenzkontrollen begonnen wurde, gibt es diese im Norden seit über fünf Jahrzehnten schon nicht mehr.

Unter den ungefähr zwei Dutzend Läufern, die bisher an allen Helsinki Marathons teilgenommen haben und vor dem Start noch einmal einzeln vorgelesen werden, finden sich dann auch einige Schweden. Es ist eine der wenigen kleinen Momente, in denen das ansonsten eher wenig betonte Jubiläum, wirklich heraus gestellt wird. Doch stellen dreißig Jahre ununterbrochen Teilnahme ja auch eine wirklich erstaunliche und erwähnenswerte Konstanz der nun besonders geehrten "Gründungsmitglieder" dar.

Schon lange bevor man mit der Startaufstellung begonnen hatte, waren sie nämlich auch einzeln vorgestellt und zum Gruppenfoto gebeten worden. Paavo Nurmi, den man dazu eigentlich ziemlich gut mit hinzu hätte nehmen können, fehlt darauf allerdings. Denn mit dem sportlichen Nationalhelden ist man am Marathontag nicht gerade pfleglich umgegangen.

Weder dem Start noch dem Zieleinlauf, die doch beide nur wenige Meter entfernt stattfinden, kann er zuschauen. Man hat ihn nämlich hinter einem Großbildschirm versteckt. Und auch von den anderen Seiten ist er vollkommen zugebaut. Wer keine Ahnung hat, wo er zu suchen ist, hat an diesem Tag eigentlich nicht die geringste Chance, ihn überhaupt zu entdecken.

Rund um Lasse Virén gegenüber stehen auch Sanitätszelte und Toilettenhäuschen. Doch immerhin kommt man an ihn noch heran. Warum das alles unbedingt so sein muss, ist nur schwer zu verstehen. Denn Freiflächen wären vor dem Olympiastadion eigentlich mehr als genug vorhanden. Und zumindest die dem Asphalt des Stadionvorfeldes stehende Nurmi-Statue könnte man durchaus irgendwie besser einbeziehen.

Ein kurzer Abstecher in die Nachbarstadt Espoo führt durch ein modernes Bürogebiet

Seit der Ehrung für die Stammgäste redet der Streckensprecher- nur unterbrochen von gelegentlichen Musikeinlagen einer Jazzband - praktisch ohne Pause und widerlegt damit ein wenig das Klischee von der finnischen Schweigsamkeit. Wenn es eine typische Charaktereigenschaft gibt, die eigentlich überall auf der Welt mit den Finnen verbunden wird, dann ist es diese. Selbst ihre auch nicht gerade als besonders offen und gesprächig geltenden skandinavischen Nachbarn haben da doch noch einen etwas kommunikativeren Ruf.

Wortkarg, verschlossen, ja fast mürrisch wirken finnische Sportler in Fernseh-Interviews - die Gelegenheit, bei der man vermutlich am häufigsten einmal einem von ihnen begegnet - zumeist. Jede Antwort muss mühsam heraus gequetscht werden. An einen gegenüber dem Reporter gleich wild ins Mikrofon quasselnden Finnen werden sich die wenigsten irgendwie erinnern können.

Dass ausgerechnet in diesem Land eine der größten Handy-Dichten weltweit vorhanden ist, scheint dazu nicht ganz passen zu wollen. Doch nicht nur in der Fremd- sondern auch in der Selbsteischätzung sieht man sich als ein Volk von Schweigern. Natürlich mit ein wenig Selbstironie erzählt man da gerne auch einmal, dass zwei finnische Angler, von denen der eine morgens behauptet, dass es noch regnen wird, und der andere mittags widerspricht, sich den ganzen Tag gestritten hätten.

Natürlich kann man so etwas nicht absolut verallgemeinern. Doch nüchtern betrachtet gibt es tatsächlich deutliche Unterschiede zu den Kommunikationsstilen anderer weiter im Süden gelegener Länder. Manche Firmen sind deshalb sogar dazu übergegangen, ihre nach Finnland versetzen Mitarbeiter in Seminaren darauf vorzubereiten.

Der sogenannte Smalltalk ohne größeren Sinn ist eben nicht üblich. Man kommt auch einmal mit längerer Stille im Raum klar, die überall sonst als unangenehm empfunden und deshalb tunlichst vermieden wird. Man redet nicht um des Redens willen. Wenn Finnen den Mund aufmachen, haben sie in der Regel tatsächlich etwas zu sagen.

Dass auch Paavo Nurmi nicht gerade als Plaudertasche bekannt war, hat seiner Popularität in der Heimat deshalb sicher eher genutzt als geschadet. Große Worte waren sein Ding jedenfalls Ding nicht. Er machte mit Ergebnissen auf sich aufmerksam. Nurmi wird auch der Satz in den Mund gelegt, dass man durch Reden schließlich keine einzige Sekunde schneller würde. Und so wird er - wie auch viele andere seiner Landsleute - weiterhin in nahezu allen Veröffentlichungen mit den Attributen "schweigsam" und "rätselhaft" belegt.

Während die rund sechstausend Läufer langsam auf der Straße hinter dem blauen Bogen mit der Aufschrift "Lähtö" - mehr als vermuten, dass es "Start" bedeutet kann man eigentlich nicht - Aufstellung nehmen, plappert der Ansager von seinem Lastwagen herunter fleißig weiter und springt dabei ständig zwischen verschiedenen Sprachen hin und her. Fast alles wird zumindest in Finnisch, Englisch und Schwedisch durchgegeben. Der eine oder andere deutsche Satz fällt aber auch dazwischen.

Deutsche - und natürlich auch Österreicher und Schweizer, wie der Sprecher bei seiner deutschsprachigen Begrüßung betont - sind nämlich durchaus in dreistelliger Zahl am Start. Und auch deutsche Sieger gab es schon. Die Premiere im Jahr 1981 gewann der leider inzwischen nicht mehr lebende Günter Mielke. Dreizehn Jahre später war bei den Frauen Sylvia Renz erfolgreich. Übrigens heißt "Deutschland" im Finnischen "Saksa". Irgendwie hat man da schon eine leise Ahnung, wo dieser Begriff ursprünglich her kommt.

Zwischen einer Schnellstraße und einer Meeresbucht wird Espoo wieder verlassen

Startblöcke gibt es zwar keine. Doch sind an den Absperrgittern zur besseren Einordnung Markierungen mit den voraussichtlichen Zeiten angebracht. Zudem kann man sich ja auch noch an den in größerer Zahl und in leuchtendem Gelb vorhandenen, zuvor ebenfalls einzeln vorgestellten Schrittmachern orientieren. Deshalb funktioniert die Startaufstellung, selbst wenn die Straße im ersten Moment nicht gerade breit erscheint, angesichts meist vernünftiger Selbsteinschätzung auch ohne Kontrollen und großes Gedränge einigermaßen gut.

Es sind ja auch einzig und allein Marathonläufer, die hinter der Linie stehen. Denn man hat die Veranstaltung - wie hierzulande längst üblich - auch weiterhin nicht durch irgendwelche kürzeren Strecken verwässert und aufgebläht. Einzig und allein die bereits am Morgen beginnenden Schülerläufe über einen und zwei Kilometer ergänzen das Programm. Doch ist Helsinki in Finnland damit auch eine absolute Ausnahme. Die übrigen deutlich kleineren Marathons des Landes brauchen dagegen in der Regel die Halbdistanz, um finanziell über die Runden zu kommen.

Längst hat der Ansager beim Countdown mit Französisch nun auch noch eine fünfte Sprache dazu genommen. Und bis er die gesamte Liste durch gearbeitet hat, kann er deshalb mit der nächsten Zeitansage gleich wieder von vorne beginnen. Neben ihm steht ein Mann im Sportdress mit der Pistole in der Hand. Kurz zuvor hatte der finnische Finanzminister Jyrki Katainen, denn um diesen handelt es sich, noch ein Interview gegeben und war dabei ebenfalls völlig selbstverständlich zwischen Finnisch, Englisch und Schwedisch hin und her gewechselt.

Das eigentlich aus ethnischer Sicht ziemlich homogene Land hat nämlich mehr als nur eine Amtssprache. Schwedisch ist die zweite. Denn gut fünf Prozent der Bevölkerung - also knapp dreihunderttausend der insgesamt fünf Millionen Finnen - haben es als Muttersprache. Und alle finnischen Kinder lernen es in der Schule als Pflichtfach. Selbst Helsinki hat mit - dem eigentlich älteren - Helsingfors eine schwedische Namensvariante.

Natürlich ist diese Gruppe ein Überbleibsel der einstigen Herrschaft des westlichen Nachbarn über Finnland. Ihre Siedlungsgebiete liegen hauptsächlich in den Küstenregionen im Süden und Westen des Landes. Auch in Helsinki ist ihr Anteil im Vergleich mit dem Landesdurchschnitt leicht erhöht. In früheren Zeiten stellte sie aufgrund ihrer Herkunft wenig überraschend einen überproportionalen Anteil an der Oberschicht des Landes.

Doch zweihundert Jahre nach dem Ende der schwedischen Oberhoheit haben sich die sozialen Verhältnisse nahezu vollständig angeglichen. Und die sogenannten Finnlandschweden verstehen sich trotz ihres Namens keineswegs mehr als in Finnland lebende Schweden sondern als schwedisch sprechende Finnen. Von Bertolt Brecht, der sich einige Zeit im finnischen Exil aufhielt, soll das Bonmot stammen, dass diese deshalb sogar in zwei Sprachen schweigen könnten.

Ein wenig nervös scheint der eigentlich doch erfahrene Politiker Jyrki Katainen beim Startschuss schon zu werden. Der Grund dürfte aber wohl weniger die auf ihn gerichteten Augen als vielmehr hauptsächlich die vor ihm liegende Distanz sein. Jedenfalls ist noch nicht richtig bis "drei" herunter gezählt, da drückt er auch schon den Abzug durch und die sechstausend Marathonis sind nicht mehr zu halten. Ein Fehlstart durch den Starter selbst ist sicher einmal eine ganz neue Variante.

Der sportliche Finanzminister, der sich anschließend beeilt, so schnell wie möglich von Lastwagen herunter zu kommen, um sich ins Feld einzusortieren, kann seine Nervosität später jedoch ganz gut in Geschwindigkeit umsetzen. Trotz der widrigen Bedingungen wird er nämlich nur knapp über vier Stunden noch im ersten Drittel ins Ziel kommen.

Damit zählt Helsinki sicher zu den langsamsten Stadtmarathons in Europa. Auch eine Drei-Stunden-Quote von nicht einmal einem Prozent - beim Jubiläum werden gerade einmal sechsundvierzig Läufer die Strecke unter dieser Marke absolvieren - ist im internationalen Vergleich wenig berauschend.

Der für den finnischen Club Sjundeå IF laufende David Kanyari wird am Ende Siebter In der Nähe der Halbmarathonmarke geht es im Hafen zwischen bunten Lagerhallen hindurch Leena Puotiniemi landet bei den Frauen einen deutlichen Start-Ziel-Sieg

Nun sind die äußeren Bedingungen im Jahr 2010 wahrlich nicht geeignet für Bestzeiten. Doch auch bei deutlich läuferfreundlicherer Witterung kamen in der jüngeren Vergangenheit keine hundert Marathonis innerhalb der ersten hundertachtzig Minuten an. Und stets deutlich mehr als die Hälfte der Teilnehmer war regelmäßig über vier Stunden unterwegs.

Katainen startet als Neununddreißigjähriger übrigens noch in der Hauptklasse. Denn erst mit Miehet 40 und Naiset 35 fangen die - sich dann aber im Fünfjahresrhythmus fortsetzenden- Alterskategorien an. Bei der Entscheidung, was denn davon jetzt was bedeutet, sieht man im ersten Moment wieder ziemlich hilflos aus. Nur die englische Übersetzung zeigt, dass "Miehet" für die Männer und "Naiset" für die Frauen steht.

Der Marathon beginnt mit einer großen Schleife um das ehemalige Olympiagelände, das auch weiterhin das sportliche Zentrum des Stadt Helsinki ist und - zum Teil auch neu erbaute - Veranstaltungsstätten für etliche verschiedene Disziplinen bietet. Das Fußballstadion, das man kurz nach dem Start passiert, ist zum Beispiel unverkennbar jüngeren Datums und hat seit seiner Eröffnung gerade einmal ein Jahrzehnt auf dem Buckel.

Es ist das Heimstadion des finnischen Rekordmeisters HJK und zählt mit einer Kapazität von gerade einmal zehntausend Zuschauern dennoch schon zu den größten des Landes. Fußball und insbesondere die finnische Liga genießen eben bei weitem nicht den Stellenwert wie in den meisten anderen europäischen Ländern. Nur der Nationalmannschaft, die sich noch nie für eine große internationale Meisterschaft qualifizieren konnte, gelingt es ab und zu die vierzigtausend Plätze des Olympiastadions einigermaßen zu füllen.

Sportart Nummer eins in der Gunst der Finnen ist vielmehr Eishockey, wo man ja schließlich auch zur absoluten Weltelite gehört. Etliche Medaillen von Weltmeisterschaften und Olympischen Winterspielen haben die finnischen Kufenflitzer schon mit nach Hause gebracht. Und unzählige von ihnen wurden bereits von den zahlungskräftigen Clubs der nordamerikanischen NHL als Verstärkungen angeworben.

Absoluter Höhepunkt war jedoch, als man 1995 ausgerechnet in Schweden, mit dem Suomi eine ziemlich intensive sportliche Konkurrenz verbindet, den WM-Titel holen konnte. Dass die Nachbarn auch noch Endspielgegner waren und damit im eigenen Land eine bittere Niederlage erlitten, machte den Triumph in den Augen der Finnen perfekt. Darüber dass die Schweden auch schon in Finnland erfolgreich waren, schweigt man dagegen lieber, was ja auch nicht schwer fällt.

In die alte Eishalle von Helsinki, die Helsingin Jäähalli, die von den Marathonis direkt danach passiert, gehen dann auch kaum weniger Menschen hinein als ins benachbarte Fußballstadion. Und sie ist nicht einmal die größte in der Stadt. Keine zwei Kilometer entfernt steht eine modernere Arena, die sogar über dreizehntausend Personen fasst.

Schon alleine aufgrund der klimatischen Verhältnisse sind es ohnehin die Wintersportarten und insbesondere die nordischen Skidisziplinen, die in Finnland große Wertschätzung und Aufmerksamkeit genießen. Skispringer, Kombinierer und Langläufer aus Suomi zählen jedenfalls meist zu den Favoriten, wenn es um die Vergabe von Medaillen geht.

Zumindest in den Ausdauerdisziplinen hat der Ruf aber einen gewissen Kratzer, wurde doch bei der WM 2001 im heimischen Lahti die halbe finnische Mannschaft aufgrund von Doping aus dem Verkehr gezogen. Und die nach einer positiven Probe und abgesessener Sperre vom Langlauf zum Biathlon gewechselte Kaisa Varis wurde dort bald darauf gleich wieder ertappt. Doch gibt es ja ohnehin viele, die diese Wettkämpfe für ähnlich verseucht halten wie den Radsport.

Zwischen Meer und Park führt der Kurs zurück in die Innenstadt Fünfzehn Verpflegungsstellen sorgen für ein angesichts der Wärme auch benötigtes, dichtes Netz

Im Gegensatz zu den skandinavischen Nachbarländern hat alpines Skilaufen allerdings kaum Bedeutung im Land. Das liegt hauptsächlich an der geographischen Lage. Ist doch der größte Teil Finnlands maximal als hügelig zu bezeichnen. Nur weit nördlich des Polarkreises in Lappland gibt es an der Grenze zu Norwegen und Schweden einige Berge, die die Tausend-Meter-Marke übertreffen. Dieses Manko hat bisher auch verhindert, dass eine der bekanntesten Wintersportnationen überhaupt mit Olympischen Winterspielen bedacht wurde.

Eine neben dem Eishockey weitere Mannschaftssportart, in der die Finnen schon größere Erfolge feiern konnten, wirkt zumindest was den Körpereinsatz und die Schutzbekleidung angeht irgendwie artverwandt. Denn im American Football war die Auswahl des kleinen Finnland bereits fünfmal Europameister.

Die Aufzählung hat durchaus etwas Bezeichnendes. Kann man doch in all diesen Wettbewerben jenes "Sisu" gebrauchen, das die Finnen für einen ihrer wichtigsten Wesenszüge halten. Eigentlich ist das Wort gar nicht übersetzbar, beinhaltet aber Aspekte von Kraft, Ausdauer, Zähigkeit, Beharrlichkeit, Unnachgiebigkeit oder Kampfgeist. Und zwar gerade in besonders aussichtslosen Situationen.

Es meint auch die Fähigkeit, wieder aufzustehen, wenn man schon am Boden liegt, wenn man eine schwere Niederlage einstecken musste. Irgendwie könnte es sogar sein, dass der Termin und die Uhrzeit des Helsinki Marathons mit Absicht so gewählt wurden, um das ganze ein bisschen härter zu machen. Ein wenig Hang zum Masochismus schwingt bei Sisu schließlich auch noch mit.

Als im eigenen Selbstverständnis entscheidende Charaktereigenschaft, als wichtigen Bestandteil der finnischen Identität, als geradezu nationalen Mythos kann man Sisu vielleicht noch am ehesten mit dem - allerdings völlig anders gelagerten - portugiesischen Weltschmerz Saudade vergleichen.

Nach zweieinhalb Kilometern und einigen Rechtsschwenks ist die Einführungsrunde um den Sportpark praktisch abgeschlossen, als auf der linken Seite eine Wasserfläche auftaucht. Nicht wirklich überraschend schließlich führt Finnland ja den Beinamen "Land der tausend Seen". Wobei das eine völlige Untertreibung ist, denn je nach Definition bei der Zählung finden sich zwischen mehreren zehntausend und mehr als hunderttausend von ihnen auf der finnischen Landkarte.

Allerdings handelt es sich diesmal nicht um einen See, sondern um die tief in die Stadt hinein schneidende Töölö-Bucht, die sich durch mehrere von Brücken überspannte Engpässe bis in die Mitte von Helsinki vorarbeitet. Sowieso sind Land und Meer rund um die finnische Hauptstadt nicht eindeutig voneinander zu trennen. Unzählige Inseln, Halbinseln, große und kleine Buchten lassen eine klare Uferlinie kaum erkennen.

In ihrer Zerrissenheit unterscheidet sich die finnische Küste eigentlich überhaupt nicht von der schwedischen. Und selbst wenn man den Begriff "Schäre" eigentlich nur mit Stockholm und Schweden verbindet, können Helsinki und Finnland diese abgeschliffenen Überbleibsel der Eiszeit genauso bieten. Die Lage der beiden Hauptstädte in diesem Übergangsbereich zwischen Festland und offener See ist jedenfalls ziemlich ähnlich.

Auch wenn sie also eigentlich ein Meeresarm ist, übernimmt die Töölö-Bucht funktional die Rolle des Stadtsees. Spazierwege führen an ihr entlang durch Grünanlagen. An ihren Ufern liegen kleine Boote. Einige alte Holzvillen, die ein wenig erhöht auf Granitfelsen über dem Wasser sitzen, bieten den Touristen zudem herrliche Fotomotive. Und sie grenzt das eigentliche Stadtzentrum als deutlich erkennbare Landmarke nach Norden ab.

Die Töölö-Bucht mitten in der Stadt wirkt eher wie ein See An ihrem Ufer haben die Finnen ihre neue Nationaloper erbaut

Das Olympiastadion von Helsinki liegt zwar von dort nur gute fünfzehn Fußminuten entfernt und damit so nah an der Innenstadt wie kaum ein anderer seiner Vorgänger oder Nachfolger, befindet sich aber eben dennoch schon auf der anderen Seite. Die breite Hauptverkehrsstraße Mannerheimintie - oder Mannerheimvägen, wie sie im offiziell zweisprachigen Helsingfors auch heißt - verbindet den Sportpark mit dem eigentlichen Stadtkern.

Und auf diese biegt das Marathonfeld nach ziemlich genau drei Kilometern ein. Die Einführungsrunde ist in diesem Moment abgeschlossen, denn nun befindet man sich genau auf der anderen Seite der Töölö-Sporthalle, nur ungefähr zweihundert Meter vom Start entfernt. Entsprechend groß ist der Zuschauerzuspruch an dieser Ecke. Und auch die kleine Jazzkapelle ist herüber gekommen und sorgt für musikalische Untermalung.

Selbst wenn immer wieder einmal Publikum in kleinen Gruppen zum Anfeuern an der Strecke stehen wird, ist Helsinki wahrlich kein Marathon, bei dem man sich durch ein fast ununterbrochenes Zuschauerspalier bewegt. Dichter als an dieser Ecke wird der Pulk nicht mehr werden. Allerdings läuft man auch keineswegs unter Ausschluss der Öffentlichkeit wie in einigen anderen Städten. Und negative Reaktionen zum Beispiel durch von der Veranstaltung behinderten Autofahrern bemerkt man auch nicht. Ein gewisses Interesse ist durchaus vorhanden.

Doch ist vielleicht kaum ein Volk so begeistert für die Leichtathletik wie die Finnen, schon alleine aus ihrer großen Tradition in dieser Sportart heraus. Und keine andere Stadt dürfte mit Helsinki in der Zahl der bisher schon ausgerichteten Großereignisse in dieser Sportart mithalten können. Ungefähr alle zehn Jahre zieht es die Elite in die finnische Hauptstadt.

Die erste Leichtathletik-WM fand 1983 schließlich genauso im Olympiastadion statt wie die von 2005. Und nach Europameisterschaften 1971 und 1994 sind auch die nächsten kontinentalen Titelkämpfe für das Jahr 2012 wieder nach Helsinki vergeben. Ob sich im Olympiajahr, in das man die Meisterschaften nun erstmals zusätzlich hinein gepackt hat, dann allerdings wirklich jemand dafür interessiert, wird man erst einmal sehen müssen.

Auf der Ecke gegenüber der Sporthalle hat die Finnische Nationaloper vor nicht einmal zwei Jahrzehnten ihren Platz gefunden. "Suomen Kansallisooppera" heißt das auf Finnisch. Denn "Oper" ist eines jener nicht unbedingt vielen Lehnwörter, die man in die Sprache übernommen hat. Doch manchmal sind sie nicht wirklich einfach zu erkennen, hat man sie doch zumeist den finnischen Sprach- und Schreibgewohnheiten angepasst.

So kennt das Alphabet einige Buchstaben eigentlich überhaupt nicht. Ursprünglich fehlen b, c, f, q, w, x und z völlig. Dass sich einer der auf der Startnummer groß vermerkten Sponsoren ausgerechnet "XZ" nennt, ist dazu kein Widerspruch. Vielmehr kann man davon ausgehen, dass der Shampoohersteller diese Buchstabenkombination gerade wegen ihrer in finnischen Augen so großen Exotik gewählt hat.

Jedenfalls haben die Finnen zumindest bei älteren Fremdwörtern nahezu immer d durch t und b durch p ersetzt. Auch das g ist eher ungewöhnlich und wird meist zu einem k. Dass finnische "paatti" lässt sich zum Beispiel auf den ersten Blick kaum als "Boot" deuten. Und selbst mit dieser Hintergrundinformation ist die finnische Ableitung des schwedischen "båt" fast nur für Linguisten sofort offensichtlich.

Wenig überraschend stammen sowieso viele der Worte aus der Sprache der früheren Landesherren und sind deshalb nicht immer leicht zu erkennen. Um aus "katu" auf die deutsche Übersetzung "Straße" zu kommen, schadet es jedenfalls nicht, wenn man die in Skandinavien übliche "gata" kennt. Und auch jenes "Maali", das neben "Lähtö" auf dem Start- und Zielbogen prangt, versteht man deutlich besser, falls man schon einmal in Norwegen, Dänemark oder Schweden in ein "Mål" eingelaufen ist.

Immer wieder öffnen sich neue Blicke auf die unzähligen Inseln und Buchten von Helsinki Mitten in der Stadt legen die Ostseefähren an

Klare Regeln für die Vokalharmonie gibt es im Finnischen ebenfalls. Sie sorgen dafür, dass ä, ö und y nicht mit a, o und u im gleichen Wort auftauchen. Nur e und i sind in Kombination mit beiden zulässig. So werden dann durchaus auch einmal aus finnischem Sprachgefühl heraus unpassende Vokale in einem Fremdwort durch ihre jeweilige Entsprechung aus der anderen Gruppe ersetzt.

Und lang ausgesprochene Buchstaben werden grundsätzlich verdoppelt. Deswegen heißt die Oper mit ihrem lang gezogenen O am Anfang eben "Oopera". Erst in jüngerer Zeit mit ihrer immer stärkeren Internationalisierung verzichtet man öfter einmal auf Anpassungen. In "Olympia" zum Beispiel sind die Regeln eindeutig verletzt. Und dennoch haben es die Finnen so übernommen und nicht etwa zu einem "Oolumpia" oder gar "Öölympiä" gemacht, wie es den Eigenschaften ihrer Sprache eigentlich entsprechen würde.

Dass Opern in Finnland einen im europäischen Vergleich recht hohen Stellenwert besitzen, und relativ viele neue Werke - auch über Paavo Nurmi gibt es eine eigene Oper - aufgeführt werden, hängt vermutlich zum Teil ebenfalls mit der finnischen Sprache zusammen. Lässt diese sich doch aufgrund ihres Vokalreichtums angeblich genau wie das mit einer ähnlichen Eigenschaft ausgestattete Italienisch recht gut singen.

Denn während im Finnischen zum Beispiel auf einen Konsonanten durchschnittlich ziemlich genau ein Vokal kommt, ist das Verhältnis im Deutschen bereits deutlich jenseits der 1,5. In den slawischen Sprachen, die deshalb wohl allgemein als hart klingend empfunden werden, ist das Verhältnis noch deutlicher verschoben.

Die Mannerheimintie ist fast so etwas wie die Prachtmeile der Stadt, an oder neben der viele zentrale Gebäude zu finden sind. Wenig später wird von den Marathonis auch das Nationalmuseum mit seinem markanten Turm passiert, in dem vor allem Exponate zur finnischen Geschichte und Kultur zu bewundern sind. Aus manchen Blickwinkeln wirkt der wuchtige Bau fast wie eine Burg, aus anderen eher wie eine Kirche.

"National" ist ohnehin so einiges in Helsinki, als dem eindeutigen kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Zentrum eines kleinen und noch nicht wirklich lange unabhängigen Landes. Neben Oper und Museum gäbe es da unter anderem noch ein Finnisches Nationaltheater, eine Finnische Nationalgalerie und eine Finnische Nationalbibliothek. Ja sogar die aus dem Jugendstil entstandene nordische Architekturvariante, in der das Nationalmuseum errichtet wurde, trägt den Namen Nationalromantik.

Gegenüber dem Suomen kansallismuseo versteckt sich ein wenig hinter Bäumen die Finlandia-Halle, jenes Konferenzzentrum im dem in den Siebzigern die KSZE tagte. Die Position des neutralen, mit einem guten Verhältnis zum sowjetischen Nachbarn ausgestatteten Finnland zwischen den beiden großen Blöcken machte es damals zum idealen Austragungsort.

Langfristig betrachtet hat die dort unterzeichnete "Helsinki-Schlussakte" - deren früher so häufige Nennung in den Nachrichten sich inzwischen ziemlich erübrigt hat - wohl zum politischen Umbruch in Europa beigetragen. Und Finnland ist spätestens durch die EU-Mitgliedschaft seine Sonderrolle längst los. Die Ausrichtung geht jetzt eindeutig nach Westen. Inzwischen gibt es sogar Stimmen im Land, die über einen NATO-Beitritt diskutieren möchten.

Noch wuchtiger als Nationalmuseum und Finlandia-Halle wirkt das Parlamentsgebäude mit seiner Säulenreihe und der hohen Freitreppe, an dem das Läuferfeld als nächstes vorbei kommt und hinter dem es den Prachtboulevard dann auch wieder verlässt. Der Kontrast, den der doch ziemlich klobige Reichstag zu den geschwungenen, lichtdurchlässigen, interessant geformten Neubauten in seinem Umfeld bietet, ist beträchtlich.

An der Alten Markthalle kommen die Läufer nach fünfundzwanzig Kilometern direkt vorbei

Schräg gegenüber kann man da zum Beispiel noch einen raschen Blick auf das zur Nationalgalerie gehörende Museum für zeitgenössische Kunst werfen, dessen ungewöhnliche Architektur wie so oft anfangs heftig umstritten war, an das sich die Bewohner von Helsinki allerdings inzwischen längst gewöhnt haben. Das davor stehenden Denkmal von Carl Gustaf Emil Mannerheim, nach dem die bisher belaufene Straße benannt ist, können die Marathonis allerdings nur erahnen.

Obwohl er nie wirklich gut Finnisch sprach, ist der Abkömmling einer finnlandsschwedischen Familie fast so etwas wie ein Nationalheld. Als General in russischen Diensten kehrte er nach dem Ende des ersten Weltkriegs in seine ursprüngliche Heimat zurück und führte im finnischen Bürgerkrieg, der sich ähnlich wie im östliche Nachbarland aus dem Machtvakuum ergab, die bürgerlichen Truppen gegen ihre kommunistischen Gegner zum Sieg.

Über diese Auseinandersetzung und die dabei von beiden Seiten begangenen Gräueltaten decken die Finnen inzwischen lieber den Mantel des Schweigens. Mit der endgültigen finnischen Unabhängigkeit und einer Wahlniederlage zog sich Mannerheim jedenfalls ins Privatleben zurück, setzte sich später aber immerhin für Versöhnung zwischen den beiden Kriegparteien ein.

Als 1939 die Spannungen mit der Sowjetunion zunahmen und diese das kleine Finnland schließlich überfiel, wurde Mannerheim wieder zum Oberbefehlshaber berufen. Und trotz völliger personeller und materieller Unterlegenheit konnten die Finnen die Invasoren erst einmal aufhalten. Nach drei Monaten hartem Kampf mussten sie aber schließlich doch aufgeben und größere Gebiete hauptsächlich im Südosten abtreten. Die völlige Annexion wurde aber durch den zähen Widerstand verhindert.

Mit dem deutschen Einfall in der Sowjetunion im Jahr darauf, sah man in Finnland die Chance gekommen, die verlorenen Regionen zurück zu erobern und beteiligte sich nach der Devise "der Feind meines Feindes ist mein Freund" im aus finnischer Sicht sogenannten Fortsetzungskrieg mit eigenen Truppen. Gegen eine allzu enge Umarmung wehrte man sich - insbesondere auch Mannerheim - jedoch und gab als Kriegsziel nur die Rückeroberung Kareliens aus.

Das konnte zwar erst einmal erreicht werden, doch drei Jahre später begann sich die deutsche Niederlage abzuzeichnen. Der inzwischen zum finnischen Präsidenten aufgestiegene Feldmarschall schloss deshalb mit Stalin einen Separatfrieden, der zwar mit zusätzlichen Abtretungen bezahlt werden musste, jedoch die vollständige Besetzung des Landes durch sowjetische Soldaten und damit wohl auch langfristig die Eingliederung in den Ostblock verhindert wurde.

Angesichts dieser Erfahrungen, die Suomi rund ein Zehntel seiner ursprünglichen Fläche kosteten, wird der vorsichtige Umgang mit dem östlichen Nachbarn in den folgenden Jahrzehnten, von manchen auch als vorauseilender Gehorsam bezeichnet, dann doch wesentlich verständlicher. Mannerheim wird jedenfalls in Finnland als "Retter des Vaterlandes" verehrt.

Weiter ins Zentrum dürfen die Marathonis nicht vordringen. Die erste kleine Stadtbesichtigung endet mehr oder weniger bereits bei Kilometer vier. Am Naturhistorischen Museum scheinen ihnen auf dem Weg aus der Stadt hinaus noch zwei Plastikgiraffen vom Balkon aus Beifall zu spenden. Irgendwie durchaus passend, denn nicht eng bebaute Straßenzüge sondern Parkanlagen und Uferpassagen dominieren den größten Teil des Kurses.

Rund ein Drittel des Stadtgebietes besteht aus Grünflächen. Und geht es nach dem Wunsch von Stadtvätern und Bürgern, soll das gefälligst auch so bleiben. Im Verhältnis zum Rest des Landes, in dem sich nur gut fünf Millionen Menschen auf eine Fläche verteilen, die fast so groß wie Deutschland ist, hat Helsinki natürlich eine ziemlich dichte Besiedlung. Vergleicht man allerdings mit anderen Städten im Rest von Europa ist es erstaunlich weitläufig angelegt.

Auf die Domkirche, das Wahrzeichen Helsinkis, läuft man zwar lange zu, biegt dann aber doch vorher ab

Der Sibelius-Park, den man, nachdem der Kurs nun größtenteils parallel zum Ufer einer der unzähligen Buchten verläuft, bei Kilometer sechs passiert, ist sowohl bei Einheimischen als auch bei Besuchern beliebt. Während die Finnen auf seinen Grasflächen die warmen Sonnenstahlen genießen, werden den ganzen Tag über dort Busladungen ausgespuckt, um das obligatorische Foto vom Denkmal des wohl bekanntesten finnischen Komponisten zu schießen.

Ein wenig erinnern die blanken Stahlröhren, vor denen sich die Touristen nur zu gerne ablichten lassen, an eine überdimensionale Orgel. Nach den angesichts der Form des Denkmals fast zu erwartenden Kontroversen wurde später noch wenige Meter entfernt ein Porträt des Künstlers im gleichen glänzenden Material ergänzt. Übrigens war auch der oft mit dem Etikett "Nationalkomponist" versehene Jean Sibelius Finnlandschwede.

Die in eine Wellenform zusammen gesetzten Pfeifen sind auf einem jener unzähligen Granithügel, die sich über das Stadtgebiet verteilen. Denn Helsinki ist keineswegs flach sondern sogar gelegentlich ziemlich wellig. Nicht wirklich hoch sind diese Kuppen. Mehr als zehn, zwanzig Meter geht es selten auf und ab. Der höchste Punkt der Stadt liegt aber immerhin schon sechzig Meter über dem Meeresspiegel.

Auch der Marathonkurs muss mit diesen Erhebungen klar kommen, kann sie nicht überall umgehen. Es sind keine wirklich lange Steigungen, manchmal drei, manchmal fünf und ein paar Mal auch zehn oder mehr Meter geht es nach oben. Aber in der Summe wirken diese Wellen eben doch und saugen die Kraft aus den Beinen. Und zusammen genommen ergibt sich durchaus eine dreistellige Zahl an Höhenmetern. Da unterscheidet man sich kaum vom nordischen Marktführer Stockholm, wo die Stadt und damit der Marathon ein durchaus ähnliches Profil haben.

Schon kurz nachdem sie hinter dem Sibelius-Park auf eine breitere Ausfallstraße eingebogen sind, müssen die Marathonläufer über eine dieser Kuppen. Sie ist nicht nur spür- sondern auch deutlich sichtbar. Da haben sie den Asphalt jedoch schon nicht mehr für sich allein. Denn die Strecke ist keineswegs komplett gesperrt. Nur in der Anfangsphase und auf einigen kleineren Seitensträßchen ist der Verkehr vollständig unterbunden. Ansonsten ist oft einfach nur eine Spur für die Läufer mit Hütchen markiert, während direkt daneben Autos und Busse rollen.

Einen Kilometer später biegt man sogar auf einen parallel zur Straße verlaufenden Radweg ein. Es ist die zweite, in Helsinki fast noch häufiger benutzte Variante, mit der man den Kurs an den Hauptverkehrswegen entlang führen kann, ohne sie lahm zu legen. Das Feld ist zu diesem Zeitpunkt allerdings schon weit genug auseinander gezogen, um Gedränge auf dem nun doch deutlich schmaleren Pfad zu vermeiden

Inzwischen ist man ja auch schon bei Kilometer neun angekommen. Um diesen genau zu lokalisieren, muss man allerdings schon ein wenig aufpassen. Denn nicht immer sind die großen Schilder auch dort angebracht, wo auch die Markierung auf dem Boden zu finden ist. In der Regel hat man sie einfach an die nächstgelegenen Verkehrsschilder oder Laternenpfähle gebunden.

Dadurch kommen dann durchaus einmal fünfzig oder mehr Meter Differenz zusammen. Und etwas unsichere Läufer können anhand der sprunghaften Zwischenzeiten schon ziemlich nervös werden. Wenn man allerdings das System verstanden hat und die Schilder einzig und allein als Vorwarnung versteht, dass gleich auf dem Asphalt ebenfalls eine Zahl stehen wird, kommt man wieder einigermaßen klar und die Zeiten passen wieder zueinander.

Am hellblauen Rathaus von Helsinki schwenkt die Strecke nach links

Die Sonne bricht nun auch immer öfter einmal durch die Wolken, aus denen kurz nach dem Start noch einmal einige Tropfen gefallen waren. Der Asphalt ist längst trocken. Doch natürlich ist die Feuchtigkeit noch vorhanden und der Schweiß läuft bereits nach wenigen Kilometern in Strömen. Die noch vor der Marke von zehn Kilometern vor den Läufern auftauchende Verpflegungsstelle ist deshalb hoch willkommen.

Über schlechte Versorgung mit Flüssigkeit können sich die Teilnehmer nun wahrlich nicht beschweren, denn es ist bereits die dritte. Und weitere werden in kurzen Abständen folgen. Fünfzehn Stationen - also fast doppelt so viele wie als Mindestmaß vom Leichtathletikverband vorgeschrieben - sind unterwegs aufgebaut. Gegen Ende hin sind die Abstände zwischen ihnen selten größer als zwei Kilometer.

Doch erstens sind sie bei dieser Witterung durchaus nötig. Und zweitens ist der Titelsponsor des Helsinki Marathons ein amerikanischer Sportgetränkehersteller. Die ausreichende Versorgung mit Nachschub ist also absolut kein Problem. Als größten Vorteil hat man allerdings das Streckenkonzept, das dafür gesorgt hat, dass rund die Hälfte des Kurses auch in der Gegenrichtung absolviert wird.

Während in Stockholm, wo man ja eine ähnlichen Topologie vorfindet, zwei Runden gelaufen werden, womit man wohl der teilnehmerstärkste Marathon auf einer solchen Strecke ist, hat man in Helsinki den Kurs als fast geschlossenen Kreis angelegt, der nach dem ersten Kurzbesuch in großem Bogen erneut zum Stadtzentrum schwenkt, das man nicht weit nach der Halbzeitmarke erreicht, doch nur um anschließend auf fast genauso langen Umweg zum Stadion zurück zu kehren. Kilometer zehn und Kilometer siebenunddreißig sind deshalb nur unweit voneinander auf der gleichen Straße markiert.

Dort hat sich an der Spitze eine Gruppe mit den "üblichen Verdächtigen" aus Kenia und Äthiopien gebildet, die nun wieder direkt am Ufer der Bucht, die sich westlich der Innenstadt von Helsinki erstreckt, entlang laufen. Girma Gezahagn Beyene muss sich dabei als einziger äthiopischer Vertreter mit Simion Kiprop, Edward Kimosop, James Karanja und Elias Kimeli Chelanga herum schlagen.

Wenige Sekunden vor ihnen laufen allerdings noch der Russe Pavel Andreev - immerhin Vorjahressieger und deshalb mit Startnummer eins unterwegs - und David Kanyari, der trotz seines kenianischen Namens für den finnlandschwedischen Sjundeå IF am Start ist, und mischen so im innerafrikanischen Duell mit. Schon fast eine Minute dahinter folgt der nächste Pulk, in dem die Einheimischen Anssi Raittila, Mika Penttinen und Kimmo Randelin Gesellschaft vom Polen Krzysztof Bartkiewicz und dem Kenianer Paul Ekai Ariko haben.

Bei weitem nicht so geschlossen kommen die schnellsten Frauen vorbei. Leena Puotiniemi hat nämlich schon zu diesem frühen Zeitpunkt des Rennens über eine Minute auf Maija Oravamäki und die in loser Folge durchlaufenden Russinnen Irina Pancovskay, Julia Hazova und Galina Karnatsevich - Letztere immerhin schon in der W40 gemeldet - heraus gelaufen. Deren Kollegin Anastasija Zaharova hat noch eine weitere Minute Rückstand und liegt damit schon zu diesem Zeitpunkt genau wie Pauliina Utriainen über einem Schnitt von vier Minuten pro Kilometer.

Inzwischen sind die Marathonis auch nicht mehr auf dem Festland unterwegs sondern auf einer jener Inseln, die sich wie eine Perlenkette durch die Bucht hindurch ziehen. Kleinere und größere Brücken verbinden sie miteinander. Und manchmal, ja fast sogar zumeist hat man in diesem Labyrinth von Wasserwegen dabei eher das Gefühl, über einen kleinen Fluss oder eine Teich als übers Meer zu laufen.

Auf der Flaniermeile Esplanade wird eine kleine Schleife absolviert Bis zum Dom fehlen da nur noch ein paar Meter

Städtisch ist das Umfeld nun wahrlich nicht mehr. In einer Parklandschaft muss man sich fast schon bemühen, um beim Lauf durch dieses etwas bessere Viertel der finnischen Hauptstadt überhaupt irgendwo Häuser zwischen den Bäumen zu entdecken. Kuusisaari und Lehtisaari heißen die Eilande. Und die Vermutung liegt nahe, dass "saari" sich mit Insel übersetzen lassen könnte. Dass man später unter anderem auch noch Lauttasaari überquert, ist dafür ein weiterer Beleg.

Ihre schwedischen Namen Granö, Lövö und Drumsö sind da schon wesentlich kürzer. Das liegt zwar auch daran, dass alleine der Buchstaben "ö" bereits dem finnischen "saari" entspricht. Dennoch ist das nicht untypisch, denn die Finnen können in ihrer Sprache durchaus beinahe endlose Buchstabenfolgen bilden, mit denen die von anderen oft ein wenig belächelten Bandwurmwörter des Deutschen noch in den Schatten gestellt werden.

Finnisch hat nämlich ein völlig anderes Sprachkonzept als die indoeuropäischen Sprachen. Es kennt weder Artikel noch Präpositionen oder besitzanzeigende Fürwörter. All das, was man mit ihnen ausdrücken kann - also sowohl Formulierungen wie "im Haus", "am Haus", "zum Haus" als auch "mein Haus" oder "dein Haus" - wird durch immer neue Varianten der Endungen ausgedrückt.

Und da diese durchaus auch miteinander kombinierbar sind, können die Worte sich alleine deshalb ordentlich verlängern. Statt den vier Fällen des Deutschen kennen die Finnen mindestens fünfzehn. Nicht einmal zwischen männlich und weiblich wird in der Grammatik unterschieden. Keineswegs nur bezüglich des Artikels wie im Englischen, wo "der" und "die" in "the" zusammenfallen. Auf Finnisch benutzt man sogar für "er" und "sie" das gleiche Wort.

Das ist alles ziemlich logisch aufgebaut, folgt klaren Regeln und kennt praktisch keine Ausnahmen. Es gibt auch eine ganz eindeutige Aussprache für jedes Schriftzeichen. Es ist also keineswegs schwerer - schließlich lernen finnische Kinder auch nicht später sprechen - sondern einfach nur anders. Doch ist die gerade von Fremdsprachen-Anfängern so gern praktizierte Übersetzung Wort für Wort dadurch natürlich vollkommen unmöglich.

Als kleines Schmankerl kann man auch noch erwähnen, dass die finnische Sprache überhaupt keine grammatikalische Zukunft kennt. Doch passt die klare und knappe Formulierung "ich komme morgen vorbei" wohl ohnehin besser zur Wesensart dieses Volkes als ein irgendwie doch etwas vageres "ich werde morgen vorbei kommen".

Auf einer der Brücken steht auf einmal ein Ortsschild. "Espoo" kann man darauf lesen. Zwischen Kilometer zwölf und fünfzehn unternimmt der Marathon einen kleinen Ausflug in die Nachbarstadt, die - obwohl politisch selbstständig - genau wie auf der anderen Seite Vantaa längst mit Helsinki zusammen gewachsen sind.

Dass Espoo bezogen auf die Einwohnerzahlen zweitgrößte finnische Stadt ist und Vantaa die Nummer vier, zeigt das starke Übergewicht, das die Hauptstadtregion im Land längst hat. Rund ein Viertel aller Finnen leben inzwischen in dieser rein formal aus vier unterschiedlichen Gemeinden - es gibt da auch noch das völlig von Espoo umschlossene Kauniainen - bestehenden Millionenmetropole.

Auch in wirtschaftlicher Hinsicht ist das so. Gleich hinter der Brücke biegt der Kurs in ein Gewerbegebiet - übrigens wieder auf dem Festland - ein, in dem ein neu gebautes Bürogebäude neben dem anderen nach oben wächst. Mehr oder weniger den gesamten Espoo-Abstecher über begleiten sie das Feld am Streckenrand. Das größte - und eines der markantesten - davon gehört jenem weltweiten Marktführer für Mobiltelefone, der mit einer Werksschließung in Deutschland nicht nur positive Schlagzeilen gemacht hat.

Nur wenige Straßenblocks aber zweihundert Jahre finnische Architekturgeschichte liegen zwischen den klassizistische Universitätsgebäude und dem Museum für zeitgenössische Kunst

Direkt am Firmenhauptsitz führt die Marathonstrecke vorbei. Die Angestellten haben den davor aufgebauten Verpflegungsstand übernommen. Und gegenüber sorgt auch eine Band, die für eine normale Werkskapelle allerdings ziemlich rockig daher kommt, für Stimmung. Abgesehen von der schon erwähnten Jazz-Combo ist es allerdings die einzige, der man unterwegs zuhören kann.

Nicht nur bei Handys zeigen die Finnen eine besondere Kreativität, mit der sie die wirtschaftlichen Probleme nach dem Zusammenbruch des wichtigen Handelspartners Sowjetunion längst überwunden haben. Gleich zwei finnische Firmen sind ja zum Beispiel im Laufbereich mit Pulsmessgeräten gut vertreten. Und auch beim Nordic Walking ist ein Hersteller aus dem Land der tausend Seen hierzulande prima im Geschäft.

Die Behauptung, dass diese ursprünglich nur für Skistöcke zuständige Firma, die neue Sportart nur kreiert und als Nonplusultra verkauft hat, um auch im Sommer einen Absatzmarkt für ihre Produkte zu haben, steht dabei noch immer im Raum. Doch auch im eigenen Land hat das clevere Marketing durchaus Erfolg gehabt.

Von Stadtbesichtigungen unterschiedlichster Art hat man ja schon gehört. Selbst im Laufschritt soll es sie inzwischen an etlichen Orten geben. In Helsinki kann es jedoch durchaus passieren, dass man einer mit Walkingstöcken bewaffneten Gruppe begegnet, die sich vor einer Sehenswürdigkeit um einen Fremdenführer schart, um anschließend wieder hinter ihm her zum nächsten Haltepunkt übers Stadtpflaster zu klackern.

Direkt neben einer Schnellstraße, deren Lärm wenigstens von einer Schallschutzwand abgehalten wird, verlaufen die nächsten beiden Kilometer zurück nach Helsinki. Wo man sich dabei auf einer der erneut eine regelrechte Kette bildenden Schären befindet und wo man auf einer der sie nun verbindenden Brücke unterwegs ist, kann man jedoch eigentlich kaum unterscheiden.

Doch gleich nachdem man sie auf der schon wieder auf dem Gebiet der Hauptstadt gehörenden Insel Lauttasaari / Drumsö unterquert hat, ist das Bild ein völlig anderes. Denn nun geht es sogar einige Meter über einen geschotterten Waldweg. Die Strecke des Marathons bietet einen wahrlich breiten Querschnitt durch die verschiedenen Gesichter von Helsinki.

Dafür muss man dann aber auch eine ziemlich heftige Rampe hinauf, um aus dem Wäldchen zu der auf dem Eiland liegenden Vorortsiedlung, in der sich an einigen Ecken durchaus eine größere Zahl von Zuschauern eingefunden hat, zu gelangen. Und die Brücke, auf der man sich zwei Kilometer nun wieder zur Innenstadthalbinsel hinüber begibt, ist ebenfalls nicht unbedingt als völlig flach zu bezeichnen.

Das Stadtzentrum empfängt die Marathonis mit einem eher weniger sehenswerten und ziemlich austauschbaren Hafen- und Gewerbegebiet. Und außerdem läuft man erneut an einer nicht gesperrten Hauptverkehrstraße entlang. Alles in allem wenig ansprechend, aber wohl kaum zu vermeiden. Und in jedem Fall eine erste kleine Probe, wie es denn so mit dem Sisu steht.

Erst als die Marathonis nach einer langen Gerade endlich nach rechts abbiegen dürfen, wird das ganze optisch wieder ein wenig abwechslungsreicher. Die Markthalle am Hietalahdentori - Tori heißt übrigens Platz und ist ein weiteres der von den Schweden, die über einen Torg schlendern, übernommenen Lehnwörter - zum Beispiel, die kurz vor der Halbzeitmarke passiert wird. Erbaut ist sie im schönsten Jugendstil. Diese Architektur der vergangenen Jahrhundertwende prägt das Stadtbild in Helsinki, das gerade in jenen Jahren ein starkes Wachstum erlebte, zumindest entscheidend mit.

Nur selten sind die Straßen für den Marathon komplett gesperrt, oft haben die Läufer auch nur eine Spur Während die einen Marathon laufen, haben es sich andere am Samstagabend in der Straßenkneipe bequem gemacht

Schmuckstück ist dabei das nach wie vor nahezu einheitlich erhaltene Viertel Eira, an dem man nur wenig später vorbei kommt. Sehenswert sind die in verwinkelten Straßen erbauten Villen, in denen sich heute etliche ausländische Botschaften angesiedelt haben, allemal. Doch angesichts der Tatsache, dass sich Eira rund um einen nicht gerade niedrigen Hügel erstreckt sind viele Marathonis vermutlich froh nur daran vorbei und nicht mitten hindurch geleitet zu werden.

Nachdem die erste Hälfte absolviert ist, stellt sich das Bild an der Spitze des Marathons schon ganz anders dar. Denn der finnische Kenianer David Kanyari ist zurück gefallen und läuft nur noch an Position sechs. Der russische Vorjahressieger Pavel Andreev hat sich inzwischen sogar ganz verabschiedet.

Girma Gezahagn Beyene hat die Führung übernommen und wird eigentlich nur noch von dem eine knappe halbe Minute zurück liegenden Pärchen Simion Kiprop und James Karanja ernsthaft verfolgt. Mit einer Durchgangszeit von 1:10:50 scheint aber angesichts der äußeren Bedingungen auch für den Äthiopier ein Ergebnis von unter 2:20 kaum noch möglich.

Edward Kimosop hat sich schon fast eine volle, Elias Kimeli Chelanga sogar mehr als eine Minute eingefangen. Aus der zweiten Gruppe ist allerdings nur der Pole heraus gefallen. Doch kann sich aus diesem Quartett bei fast fünf Minuten Abstand zum Führenden eigentlich nur dann noch jemand verbessern, wenn einer der vor ihnen Liegenden aussteigt oder wirklich vollkommen einbricht.

Leena Puotiniemi setzt ihren Sololauf dagegen weiter unverdrossen fort. Ihr Vorsprung ist bereits auf rund drei Minuten angewachsen. Die Russin Irina Pancovskay und die Finnin Maija Oravamäki sind die nächsten, die vorbei kommen. Noch eine Minute später folgt Galina Karnatsevich. Doch auch Anastasija Zaharova, Pauliina Utriainen und Marija Malisheva haben noch Kurs auf eine Zeit unter drei Stunden

Wieder einmal verläuft der Kurs nun direkt am Wasser entlang. An Holzstegen dümpelt eine Vielzahl von Booten zwischen dem Festland und einigen direkt vorgelagerten Schären vor sich hin. Auch das ist ein Hafen, aber eben wesentlich malerischer als das industriell geprägte Gelände zuvor. Die Straße um die Südostspitze der Innenstadthalbinsel zählt zu den bevorzugten Promenaden von Helsinki.

Und auch als Laufrevier ist diese Ecke der Stadt ziemlich beliebt, wozu auch die Kombination mit dem direkt gegenüber anschließenden Kaivopuisto - dessen schwedische Namensvariante Brunnsparken für deutsche Ohren schon wesentlich verständlicher ist - beiträgt. Das ehemalige Kurbad - daher der Name - ist nämlich die weitläufigste Grünanlage im Zentrum und darum auch der bevorzugte Picknickplatz für die Stadtbewohner.

Mit den Holzplattformen, die direkt am Ufer im Wasser liegen und mit den auf ihnen montierten Tischen, die im ersten Moment so aussehen, als hätten sie ebenfalls genau den Zweck, sich auf ihnen zum Essen niederzulassen, hat es allerdings eine ganz andere Bewandtnis. Sie dienen vielmehr dazu Teppiche zu reinigen. Es ist nämlich eine finnische Eigenart, fast möchte man sagen eine "finnische Marotte", dies direkt am Wasser und im Freien zu tun. Nicht nur in Helsinki sondern eigentlich überall, wo eine Gemeinde Zugang zu einem Gewässer hat, gibt es solche öffentlichen Teppichwaschplätze.

Gefeiert wird auf und an der Strecke … … doch meist ist es unterwegs doch eher einsam

Die halbe Umrundung des Parks führt zu jenem natürlichen Hafenbecken, an dem sich nach dem befohlenen Umzug die neue Keimzelle der Stadt befand und sich auch heute noch einige der wichtigsten Bauwerke Helsinkis gruppieren. An beiden Seiten dieser kleinen Bucht, also beinahe mitten im Zentrum legen jene riesigen Fähren an, die die finnische Metropole mit den anderen Ostseestädten wie Tallin oder Stockholm verbinden.

Eigentlich sind die Finnen ja keine Seefahrernation wie ihre nordischen Nachbarn, die im frühen Mittelalter nicht nur mit ihren Raubzügen in ganz Europa Angst und Schrecken verbreiteten sondern auch über den offenen Ozean bis Island, Grönland und schließlich sogar Nordamerika gelangten. Alleine schon, dass im frühen Finnischen für "Boot" anscheinend kein eigenes Wort existierte, ist ziemlich aussagekräftig.

Doch längst fahren viele Schiffe gerade auf der Ostsee unter finnischer Flagge. Und hinter der russischen ist die Eisbrecherflotte Finnlands wohl sogar die größte weltweit. Während diese maritimen Kraftpakete im Winter ununterbrochen im Einsatz sind, um die Häfen des Landes eisfrei zu halten, liegen ein Teil von ihnen im Sommer unweit der Marathonstrecke, aber durch eine Landzunge verdeckt in Helsinki vor Anker. An einem der großen Fährschiffe, das gerade am Kai festgemacht hat, läuft man allerdings direkt vorbei.

Der Blick, der die ganze Zeit immer wieder seitlich übers Meer und die darin verstreuten Inseln schweifte, konzentriert sich nun irgendwie fast nur noch nach vorne. Fast in exakter Linie steuert der Marathonkurs auf die Kuppel des Doms von Helsinki zu, die weithin sichtbar hoch über der Stadt zu thronen scheint. Wenn es überhaupt ein Wahrzeichen der finnischen Hauptstadt gibt, dann ist es diese Tuomiokirkko.

Kein Tourist kommt an ihm vorbei. Und die hohe Freitreppe, die zur protestantischen Bischofskirche hinauf führt, ist der zentrale Treffpunkt der Stadt. Errichtet wurde sie nach Plänen des deutschen Architekten Carl Ludwig Engel, der im Auftrag des russischen Zaren in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die frischgebackene Hauptstadt zu einem repräsentativen Zentrum ausbauen sollte.

Doch nicht nur der Dom selbst sondern die gesamte Bebauung rund um den Senaatintori, dem Senatsplatz zu seinen Füßen ist ein Musterbeispiel für den Klassizismus. Auch das alte Hauptgebäude der Universität Helsinki, die Nationalbibliothek und das Senatsgebäude wurden von Engel in diesem zu jener Zeit üblichen Baustil entworfen.

Da die Stadt kurz zuvor fast völlig niedergebrannt war, konnte man sie ohnehin komplett neu gestalten. So findet sich ein fast geschlossenes Ensemble klassizistischer Bauten in den von Engel konzipierten Straßenzügen, auf die man nun zuläuft. An der Querseite des Hafens taucht da zum Beispiel optisch direkt vor dem Dom das hellblaue gestrichene Rathaus von Helsinki auf.

Das andere Ende dieser Front nimmt der Präsidentenpalast ein. Vor ihm stehen genauso Wachposten wie vor dem etwas zurückgesetzten, ebenfalls klassizistischen und von Engel entworfenen Päävartio, dem Kasernengebäude der Präsidentengarde. Die regelmäßige Ablösung ist natürlich ein beliebtes Fotomotiv bei den Touristen.

Gelegentlich veranstaltet man sogar eine regelrechte Wachparade mit Musik und Fahne. Doch gegenüber der Präzision ihrer britischen Kollegen wirkt diese irgendwie gar nicht richtig militärisch sondern eher ein wenig unbeholfen und fast schon amateurhaft. Dafür ist ihre Vorführung aber auch umso lebendiger und überhaupt nicht steril.

Vor dem Ziel muss man am Stadion noch einmal eine kurze aber heftige Rampe hinauf

Abgesehen von den Gardisten könnte man sich das Alles durchaus irgendwie in St. Petersburg vorstellen. Ein Eindruck, der sich noch verstärkt, wenn man die orthodoxe Uspenski Kathedrale ins Bild mit einbezieht. Der rote Backsteinbau erhebt sich in der Verlängerung der Rathaus-Präsidentenpalast-Front auch als kleines optisches Gegengewicht zum Dom ebenfalls auf einem Hügel.

Und tatsächlich hat Helsinki - gerade zu Zeiten des Eisernen Vorhanges - bei Filmproduktionen schon öfter als Double für die frühere russische Hauptstadt herhalten dürfen. Auch wenn es die finnischen Tourismusmanager nicht gerne hören, weil sie ihre Metropole lieber als etwas Eigenständiges vermarkten möchten, ist an dem Spruch Helsinki sei halb Stockholm und halb St. Petersburg wohl doch ein bisschen Wahrheit. Dass Finnland fast während seiner ganzen Geschichte Zankapfel zwischen den großen Nachbarländern war, ist im Stadtbild noch immer irgendwie sichtbar.

Am Rathaus biegt die Strecke, die nur noch eine Gassenlänge vom Senatsplatz entfernt ist, nach fünfundzwanzig absolvierten Kilometern links auf die nördliche der beiden Straßen mit dem Namen Esplanadi ein. Zwischen ihr und ihrer südlichen Schwester erstreckt sich eine Parkanlage. Die drei zusammen bilden die klassische Flaniermeile von Helsinki.

Und auch der Kauppatori, der sich zwischen der klassizistischen Häuserreihe und dem Hafenbecken erstreckt, gehört noch dazu. Der Marktplatz, wie die Übersetzung tatsächlich lautet und auf dem es an jedem Morgen zwar durchaus viel touristischen Kitsch, aber auch echt finnische Lebensmittel zu kaufen gibt. Ein bunt gemischtes Angebot. Natürlich Renntierfleisch aus Lappland. Oder jene Moltebeere, die den Finnen so wichtig ist, dass sie von ihnen sogar auf der Zwei-Euro-Münze abgebildet wurde.

Zwischen dem für Einheimische und Besucher gleich gut geeigneten Markt und der Grünanlage steht hoch über einem Brunnen mit wasserspeienden Seelöwen Havis Amanda, die finnische Variante der kleinen Meerjungfrau. Diese hat das Wasser allerdings bereits verlassen und ihren Fischschwanz abgelegt. Ihre nicht vorhandene Bekleidung sorgte nach ihrer Aufstellung vor gut hundert Jahren für heftige Proteste. Die Zeiten ändern sich, denn inzwischen wird sie als wohl bekannteste Skulptur der Stadt geschätzt und ist zum absoluten Liebling der Bevölkerung geworden.

Die Esplanade bringt einen kleinen Bruch in der Bebauung. Nicht nur, dass die Häuser nun etwas höher sind - richtige Hochhäuser sucht man jedoch in ganz Helsinki vergeblich - sie sind jetzt auch eher in Baustile erbaut, die mit der Vorsilbe "Neo" beginnen. Neogotik, Neorenaissance, Neobarock sind die Begriffe, denen man in Helsinki begegnet. Die Originale dieser Architektur kann es wegen des Alters der Stadt ja auch kaum geben.

Von selbsternannten Kunstkennern werden sie eher abschätzig betrachtet. Sie rümpfen über die angeblich wenig kreative Kopie lieber die Nase. Den Touristen ist es egal, sie zücken auch hier die Fotos. Die verschnörkelten Bauten sind jedenfalls interessanter als der hochgelobte Lasipalatsi, der Glaspalast, der zwar als Musterbeispiel des Funktionalismus und absolute Sehenswürdigkeit bezeichnet wird, aber eigentlich kaum mehr Charme als eine Fabrikhalle hat.

Nicht direkt an den Cafés und Nobelläden auf der Nordseite dürfen die Marathonis entlang laufen. Seit der finnischen Nixe sind sie wieder auf dem Fußweg neben der Parkanlage unterwegs. Die Fahrbahn ist den Autos vorbehalten, wobei man hier immerhin den unebenen Untergrund der an dieser Stelle gepflasterten Straße als Argument anführen könnte. Wenigstens die Südseite, auf der es nach zwei direkt aufeinander folgenden Linksdrehungen gleich wieder in die Gegenrichtung zurück geht, ist aber für den Marathon gesperrt.

Ein Denkmal in der Stadtmitte ehrt den General, Präsidenten und Nationalhelden Mannerheim Im Olympiastadion von Helsinki fanden die Spiele von 1952 statt

An dieser zentralen Stelle ist natürlich auch der Publikumszuspruch deutlich höher. Bis zum Ziel sind es auf direktem Weg ja gerade einmal zwei Kilometer. Also sind viele zum Anfeuern schnell herüber gekommen. Und manche, die beim Stadtbummel von den Läufern überrascht wurden, schauen ebenfalls ein wenig zu. Am Wendepunkt, der auch insgesamt den Beginn des Rückwegs anzeigt, lässt zudem die nun schon gut bekannte Jazzband zum dritten Mal ihre Instrumente erklingen.

Vorbei an der direkt am Hafen gelegenen Vanha Kauppahalli, die nicht nur Alte Markthalle heißt sondern auch tatsächlich die älteste in der Stadt ist, geht es auf schon bekannten Wegen aufs letzte Streckendrittel. Nur der Kaivopuisto wird diesmal nicht am Ufer um- sondern auf seiner Rückseite hinterlaufen, dann gibt es bis zum auf Lauttasaari gelegen Kilometer dreiunddreißig wenig Neues.

Girma Gezahagn Beyene hat seinen Vorsprung vor Simion Kiprop und James Karanja auf dem Weg durch die Innenstadt auf über eine Minute ausgebaut. Nur unter diesen drei wird wohl noch der Sieger bestimmt. Denn Edward Kimosop und Elias Kimeli Chelanga sind deutlich abgefallen und haben inzwischen fast vier bzw. fünf Minuten Rückstand.

Und der anfangs führende David Kanyari hat sich auf den Äthiopier über sieben Minuten eingefangen, liegt aber immer noch fünf vor der langsam zerbröckelnden Gruppe mit Antti Nisonen, Kimmo Randelin und Anssi Raittila, die seit einiger Zeit auch ohne ihren kenianischen Begleitschutz unterwegs sind.

Im Frauenrennen scheint die Entscheidung über den Sieg längst gefallen. Ist der Abstand der Finnin zu ihrer russischen Verfolgerin Irina Pancovskay doch bereits auf vier Minuten angewachsen. Nur Leena Puotiniemi ist auch noch nach drei Vierteln der Distanz unter einem Gesamtschnitt von vier Minuten je Kilometer unterwegs.

Für Pancovskay ist genau wie Maija Oravamäki die Uhr bereits auf eine zwei als erste Ziffer gesprungen, als sie auf dem Weg aus der Stadt hinaus die Marke von dreißig Kilometern überlaufen. Jeweils zwei bis drei Minuten vergehen dann, bis mit großen Abständen Galina Karnatsevich, Pauliina Utriainen und Anastasija Zaharova durchgehen.

Den Ausflug nach Espoo ersparen die Streckenarchitekten den Marathonis auf dem Heimweg. Eine kleine Abkürzung haben sie sich einfallen lassen. Doch besteht auch diese wenig überraschend aus einem regelrechten Inselspringen und führt über eine ganze Reihe von Brücken und den durch sie verbundenen Schären. Fast ländlich wirken einige dieser Passagen. Schlenkrige Fußwege durch kleine Wäldchen und Wiesen erwartet man nicht unbedingt bei einem großen Stadtmarathon.

In einem dieser Wäldchen spenden einige ziemlich verschwitze junge Burschen mit kurzen Hosen und freiem Oberkörper Beifall. Hinter ihnen steht ein Anhänger mit einem seltsamen Holzaufbau. Es dauert einen Moment, bis man versteht, dass es sich bei dem Wagen um eine mobile Sauna handelt. Dabei ist doch die Sauna das, was man vermutlich zuallererst mit finnischer Kultur verbindet. Und auch das einzige Wort, das es von der finnischen in die deutsche Sprache geschafft hat.

Auf fünf Millionen Finnen kommen angeblich zwei Millionen Saunas. Praktisch in oder neben jedem Haus gibt es eine. Und in Hotels gehört sie in Finnland nicht etwa zu den Extras, für die es einen halben Bewertungsstern zusätzlich gibt, sondern zur absoluten Grundausstattung. Und falls gerade keine in der Nähe ist, gibt es ja auch noch die mobile Variante. Tatsächlich hatten am Vorabend des Marathons einige - wohlgemerkt leicht bekleidete - junge Finnen sogar mitten auf dem Senatsplatz eine von ihnen ab- und dann angestellt.

Wenigstens zur letzten Kilometermarke geht es bergab Nur ums aber nicht ins Olympiastadion wird gelaufen Manche sind noch auf dem Weg ins Ziel, andere schon auf dem Weg zur Dusche

Wirklich kühler ist es noch immer nicht geworden. Nicht nur lang - erst weit nach zehn Uhr wird es richtig dunkel - sondern auch warm sind die Sommerabende in Finnland oft. Dieser ist es zumindest. Und trotz der dichten Reihenfolge der Verpflegungsstellen sehnt man die nächste Station inzwischen regelrecht herbei. Ein wenig Sisu kann unter diesen Bedingungen nicht schaden.

Neben Getränken und gelegentlich Bananen gibt es an einigen von ihnen auch eine für den Rest von Europa ziemlich ungewöhnliche Form von Nahrung, nämlich Essiggurken. Doch ganz so einzigartig ist sie dann doch nicht, vielleicht sogar recht typisch für den Norden. Schließlich werden sie den Läufern definitiv auch in Stockholm - erneut so eine Analogie zum Lauf in der schwedischen Hauptstadt - angeboten.

Ab Kilometer sechsunddreißig läuft man - wenn auch in der Gegenrichtung - dann wieder in seinen eigenen Fußstapfen. Auf dem Radweg am Wasser, den man bereits kennt, beginnt der Schlussabschnitt. Bis zur Hauptverkehrstraße, auf der noch immer eine Spur für die Marathonis reserviert ist, geht es zurück. Doch nicht allzu lange muss man ihr diesmal folgen. Nach nur wenigen hundert Meter winken Ordner hinüber in eine Seitenstraße.

Wirklich schöner wird die Strecke dadurch allerdings nur bedingt. Denn nach einer kurzen Passage durch ein Wohngebiet ist man wenig später erneut auf einer langen, breiten Straße gelandet. Anfangs ist für die Läufer dort wieder nur eine Fahrbahn mit Hütchen abgesperrt, später müssen sie sogar auf den Gehweg wechseln.

Es gibt bei anderen Marathons sicher schönere Schlusskilometer. Und irgendwie bekommt man dabei fast den Eindruck, nur durch den Lieferanteneingang zum Ziel zurück kehren zu dürfen. Auf dieser eigentlich nur einen guten Kilometer langen, aber unter diesen Umständen fast endlos erscheinenden Gerade ist Sisu wahrlich gefragt.

Immerhin gibt es gelegentlich doch einmal eine Anfeuerung. Zum Beispiel an den Straßekneipen, vor denen es sich die Gäste an den im Freien stehenden Tischen bequem gemacht haben. An einer anderen Stelle hat sich eine Gruppe junger Finnen auf einem kleinen Grashügel nieder gelassen und feiert sich und die Läufer. Alkohol ist eigentlich immer dabei. Fast ist man geneigt zu sagen "selbstverständlich". Gelten die Finnen doch irgendwie als ziemlich starke Trinker.

Statistisch lässt sich das kaum belegen. Liegt doch der finnische Pro-Kopf-Verbrauch sogar niedriger als der in Deutschland. Zumindest wenn man die verkaufte Menge als Grundlage nimmt. Da Alkohol in Finnland wie überall im Norden allerdings ziemlich teuer ist und nur in staatlichen Monopolläden verkauft wird, gibt es noch immer auch den einen oder anderen Schwarzbrenner.

Allerdings ist der Umgang mit dem Alkohol ein völlig anderer. Die Finnen stehen im Ruf hauptsächlich deswegen zu trinken, um betrunken zu sein. Selbst gegenüber ihren nun auch wahrlich nicht als Kostverächtern verschrienen skandinavischen Nachbarn, ist das noch einmal eine Steigerung.

In kaum einem anderen Land in Europa gibt es einen höheren Anteil von Menschen mit Alkoholproblemen. Der aus diesem Grund ziemlich abgestürzte Skisprung-Olympiasieger Matti Nykänen ist da nur die Spitze des Eisbergs. Der größte Teil aller Gewalttaten in Finnland geschieht unter Alkoholeinfluss. Und bei jüngeren Finnen sind die Folgen des Alkohols sogar die häufigste Todesursache.

Die in leuchtendem Gelb laufenden Schrittmacher wurden vor dem Start einzeln vorgestellt

Es mag unter anderem am fehlenden Licht in der kalten und dunklen Jahreszeit liegen, dass man im Norden, wo es in diesen Monaten - wenn überhaupt - nur wenige Stunde hell wird, so gerne zur Flasche greift. Das Phänomen der Winterdepression aufgrund des Mangels an Zufriedenheitshormonen wie Serotonin ist ja inzwischen längst bekannt und untersucht.

Allerdings sagt man den Finnen nach, im Vergleich zu den unter gleichen Verhältnissen lebenden Schweden oder Norwegern ohnehin noch etwas anfälliger für Schwermut, Niedergeschlagenheit und Depressionen zu sein. Als lebenslustiges Völkchen würde sie wohl niemand bezeichnen, nicht einmal sie selbst. In dem Spruch, dass man in Finnland auffällt, wenn man zu viel lacht, steckt durchaus ein Stückchen Wahrheit.

Auch Paavo Nurmi hatte damit zu kämpfen. Trotz all seiner sportlichen Erfolge, großem Ruhm, unzähliger Reisen und vielen Erlebnissen äußerte er einmal in einem Gespräch: "Ich habe in meinem Leben nichts geleistet." Den Sport, der ihm so viel gegeben hatte, nannte er in späteren Jahren eine reine Zeitverschwendung. Und die für ihn vom finnischen Präsidenten Kekkonen gehaltene Trauerrede endete mit dem Satz: "Er war kein glücklicher Mensch".

Kurz vor der Stelle, an der eine "41" auf dem Asphalt steht, kommt die schon einmal auf dem ersten Kilometer passierte Eishalle wieder ins Blickfeld der Marathonis. Diesmal hat man sich ihr aber aus genau entgegengesetzter Richtung genähert. Selbst wenn nun auf die ganz große Schleife um das gesamte Olympiagelände verzichtet wird, nimmt der Kurs dennoch auch nicht den direkten Weg zurück zu Start und Ziel.

Direkt auf das Stadion zu führt die Strecke. Doch hinein dürfen die Marathonis bei aller Leichtathletik-Begeisterung der Finnen nicht, nur außen herum. Kurz bevor man den Zaun erreicht hat, der die Arena umgibt, dreht man zu einem Schlenker nach links weg. Da das Olympiastadion allerdings ein wenig in den Hang hinein gebaut ist, bedeutet das noch einmal eine Rampe mit einer zweistelligen Zahl von Höhenmetern. Die Kurssetzer scheinen das Sisu der Teilnehmer wirklich voll austesten zu wollen.

Zumindest zur letzten Kilometermarkierung darf man dann aber noch einmal Schwung holen. Ist sie doch genau dort aufgemalt, wo der Weg, der das Olympiastadion in großem Bogen umgangen hat, zum Parkplatz hinunter führt. Die mit Gittern abgesperrte Passage über ihn ist noch nicht einmal die Zielgerade. Die hat man erst knappe hundert Meter vor der Linie mit einer weiteren Rechtskurve wirklich erreicht.

Auch da gibt es im internationalen Vergleich durchaus imposantere Einläufe. All das passt zu einer Veranstaltung, die zwar ohne Zweifel recht solide organisiert ist, sich aber nicht unbedingt durch ein besonderes und unverwechselbares Flair auszeichnet. Vielleicht ist sie aber genau deswegen für Finnland und die Finnen typisch.

Ein letzter Kilometer, der auf einem Fußweg am Stadionzaun entlang und dann über einen Parkplatz führt, ist jedenfalls bei einem großen Stadtmarathon - und von einem solchen kann man bei 5094 im Ziel registrierten Läufern durchaus sprechen - mit Sicherheit eher die Ausnahme als die Regel.

Girma Gezahagn Beyene bleibt also nicht viel Zeit, sich für seinen Sieg bejubeln zu lassen. Am Ende zeigt die Uhr für ihn eine 2:22:36 an. James Karanja, der als Zweiter in 2:23:46 einläuft, verliert im Schlussabschnitt weder weiter an Boden noch macht er irgendetwas gut. Simion Kiprop muss dagegen noch ordentlich Federn lassen. Zweienhalb Minuten nimmt ihm sein Langzeitbegleiter auf den letzten Kilometern noch ab. Denn erst mit 2:26:06 taucht er in den Ergebnissen auf.

Kaum hundert Meter ist die Zielgerade lang, zum Jubeln reicht sie dennoch aus Start (Lähtö) und Ziel (Maali) sind auf der Runde durch Helsinki identisch

Damit packt Kiprop zwar auf der zweiten Hälfte gut vier Minuten auf seine Durchgangeszeit. Gegenüber seinen bei Halbmarathon noch fast gleichauf liegenden Landsleuten Elias Kimeli Chelanga und Edward Kimosop, die in 2:30:53 und 2:32:44 einlaufen, ist das aber noch harmlos.

Noch heftiger trifft es David Kanyari, der nach einer 1:12:36 nur eine 2:37:21 ins Ziel rettet und dabei auch noch vom 2:35:42 laufenden Mika Penttinen eigesammelt wird, der damit schnellster Finne wird. Antti Nisonen bleibt in 2:38:50 ebenfalls noch unter 2:40. Dahinter beendet der Spanier Jose Ramon Torres Peanilla das Rennen in 2:42:10 als überlegener Sieger der M45.

Knapp wird es auch bei Damen nicht mehr. Zwar büßt Leena Puotiniemi noch ein wenig von ihrem überzeugenden Vorsprung ein. Allerdings hätte Irina Pancovskay angesichts einer eigenen Zeit von 2:51:46 noch deutlich zulegen müssen, um die 2:49:11 laufende Finnin irgendwie in Gefahr zu bringen.

Platz drei bleibt durch Maija Oravamäki, die die finnischen Farben schon bei internationalen Meisterschaften vertrat, ebenfalls im Land. Die 2:54:00, mit der sie ins Ziel kommt, sind allerdings fast zwanzig Minuten von ihrer Bestleistung entfernt. Außer ihr bleiben nur noch Galina Karnatsevich (2:59:09) und Pauliina Utriainen (2:59:32) knapp unter der Drei-Stunden-Marke.

Während die einen wieder am Stadion vorbei in Richtung Schwimmstadion - die dritte Olympiastätte der Spiele von 1952, die man während des Marathons aus der Nähe zu Gesicht bekommt - zum Duschen marschieren, streben auf dem gleichen Weg andere noch dem Ziel entgehen, um ihre Medaille in Empfang zu nehmen.

Umgehängt wird diese nicht, sondern den Läufern einfach nur in die Hand gedrückt. Sie hat nämlich gar kein Band, dafür aber beträchtlichen Durchmesser und Gewicht. Auch das ist irgendwie eine Besonderheit im Norden, denn beim Konkurrenten - und vielleicht auch ein wenig Vorbild - in Stockholm verfährt man ganz genauso.

Über ihr Aussehen darf man durchaus seine eigene Meinung haben. Eine schöne Jubiläumsmedaille kann man sich auch anders vorstellen. Das eingelassene Foto des klassischen Stadtpanoramas mit Hafenfront und Dom ist in seiner Buntheit nicht unbedingt nach jedermanns Geschmack. Zumindest typisch für die finnische Hauptstadt ist es jedoch definitiv.

Wenn das nächste Mal irgendwo gefragt wird, was es denn in der großen Unbekannten Helsinki zu sehen gäbe, kann man dann vielleicht ja tatsächlich den Dom nennen. Und Läufer könnten zudem noch mit den Statuen von Paavo Nurmi und Lasse Virén glänzen, zwischen denen man in der finnischen Hauptstadt als Marathoni unterwegs ist.

Bericht und Fotos von Ralf Klink

Ergebnisse und Infos unter www.helsinkicitymarathon.com

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