Oktober 2007 - Santiago de Chile

Lauf über 144 Kilometer ab 1913 in Chile

von Rainer Frieland 

Oktober 2007 – Nach 14 Flugstunden lande ich in Chiles Hauptstadt Santiago, wo ich elf Jahre meiner Jugend verbracht habe. Mit im Gepäck meine Laufschuhe und leichte Bergschuhe, denn diesmal steht Trekking auf dem Inkapfad und die Erkundung der Inkakultur rund um Cusco und Machu Picchu auf dem Programm. Das legendäre Inkareich erstreckte sich von Kolumbien bis ca. 300 Kilometer südlich von Santiago, am Ufer des Maule-Flusses.

Wir wissen heute, dass die Inka-Herrscher über das Geschehen in diesem großen Gebiet bestens informiert waren. Die schnelle Nachrichtenübermittlung erfolgte durch den Einsatz von Staffelläufern entlang der Verkehrstrassen. Dort waren Relaisstationen eingerichtet und die Läufer wechselten sich, je nach Geländebeschaffenheit alle 10 bis 20 Kilometer ab. So wurden große Entfernungen zurückgelegt und wichtige Informationen konnten schnell weiter gegeben werden.

In trauter Runde erzählte ich meinen chilenischen Freunden vom 100-Km-Lauf von Biel, dem ältesten Ultralauf auf unserem Kontinent. Sie erwähnten, dass es einen vergleichbaren Ultralauf in Chile bereits Anfang des 20. Jahrhunderts gegeben hätte. Als Biel-Veteran wurde ich neugierig und wollte der Sache vor Ort nachgehen. So kam ich auf die Idee beim Chilenischen Olympischen Komitee diesbezüglich nachzufragen. Ich hatte Glück und war bei der deutschstämmigen Bibliothekarin Frau Norma Forman an der richtigen Stelle. Sehr sachkundig bestätigte sie mir, dass es tatsächlich ab 1913 einen Lauf über 144 Kilometer zwischen Santiago und der Hafenstadt Valparaiso gegeben hat. Dank ihrer Hilfe konnte ich im Archiv entsprechende Unterlagen aus der damaligen Zeit einsehen.

 
Gebäude des Olympischen Komitee von Chile mit Olympischen Museum und Bibliothek, wo ich meine Nachforschung betrieb Plaza de Armas in Santiago - belebter Hauptplatz
in der historischen Altstadt

So beschrieb die Presse den ersten Lauf am 25.Oktober 1913:

An den Tagen vor dem Lauf hatte es heftig geregnet, sodass die Strecke kaum begehbar war. Besonders kritisch sollte sich die Überquerung der Küsten-Kordillere erweisen, insbesondere die Bodenbeschaffenheit am Lo Prado-Bergpass. Sicherheitshalber wurde ein Radfahrer voraus geschickt um über die Streckenverhältnisse zu berichten. Er telegraphierte zurück: die Strecke befindet sich in einem „mäßigen“ Zustand. Daraufhin wurde der Lauf gestartet. Auf der Strecke müssen sich dramatische Zustände abgespielt haben. Dennoch kamen alle Teilnehmer ins Ziel. Die Siegerzeit betrug 18 Stunden und 51 Minuten. Am Ziel in Valparaiso wurden die Läufer von 20.000 Zuschauern mit frenetischem Beifall empfangen.

Auf der Strecke gab es keine Verpflegungsposten. Zur Selbstversorgung gezwungen, nahmen die Läufer mit Wasser oder Milch angemachtes geröstetes Weizenmehl zu sich. Das Wundermittel führten sie zu kleinen Bällchen zusammengeknetet mit sich. Geröstetestes Weizenmehl gehört noch heute zur Volksernährung in Chile.

1919 gewinnt der erst 18-jährige Manuel Plaza die 144 Km in 15 Stunden und 45 Minuten. Von 1920 bis 1923 gewinnt Plaza diesen Lauf weitere sieben Mal. Schließlich wird dieser Lauf von den Behörden – da „unmenschlich“ – verboten. Er wird daraufhin nie wieder ausgetragen.

Über den 1901 in einem Vorort von Santiago geborenen Wunderläufer Manuel Plaza, genannt „Tragakilómetros“, d.h. Kilometerfresser, ist erstaunlicherweise viel geschrieben worden. Schließlich war er der erste Südamerikaner, der eine Olympiamedaille gewonnen hat, und das im Marathonlauf (1928 Silber in Amsterdam). Der Verlauf dieses Rennens ist in der Fachliteratur genauestens beschrieben, sodass ich auf diesbezügliche Einzelheiten nicht eingehen werde.

Wie war aber der Mensch Manuel Plaza, wie war sein Umfeld?
Darüber lohnt es zu berichten.

Manuel Plaza stammte aus ganz einfachen Verhältnissen. Für die damalige Zeit war er mit 185 cm ungewöhnlich groß, ein fröhlicher Mensch, guter Tänzer und man sagt dem weiblichen Geschlecht sehr zugetan. Sein Vater, er und seine fünf Geschwister verdienten ihren Lebensunterhalt mit dem Zeitungsverkauf. Diese Art des Broterwerbes muss man sich aber ganz anders als heute vorstellen. Anfang des 20. Jahrhunderts war Santiago, in einem Tal zwischen den beiden Bergketten der Anden eingebettet, bereits eine Flächenstadt. Es gab kaum Autos und keine Zeitungsstände wie wir sie heute kennen. Der Verkauf der Zeitungen erfolgte durch die Zeitungsläufer. Frühmorgens begaben sich die Zeitungsläufer zu den im Zentrum der Stadt ansässigen Druckereien, packten die frisch gedruckten Zeitungen unter die Arme und liefen damit in die einzelnen Stadtteile um ihre Ware an den Mann zu bringen. Diese Zeitungsläufer gründeten in Santiago den Laufverein Suplementeros (=Extrablattverkäufer) und läuteten vor etwa 100 Jahren die Laufbewegung in Chile ein.

Manuel Plaza, Segundo en Maraton Mundial
Amsterdam - Augusto 1928

Manuel war der talentierteste der Plaza-Geschwister und trainierte fleißig. Mit 15 Jahren gewann er seinen ersten Wettkampf, ein für Jugendliche ausgeschriebener Meilenlauf. Bereits mit 21 ist er Südamerikameister. 1924 zu den Olympischen Spielen nach Paris entsandt, wird er Sechster im Marathonlauf. 1928 gewinnt er als erster Südamerikaner eine Olympiamedaille. Es ist die Silbermedaille im Marathonlauf, genau 70 Meter hinter dem Sieger, dem für Frankreich laufenden Algerier Boughera El Ouafi.

Bei aller Freude über die Silbermedaille wird noch heute über die Lauftaktik diskutiert und darüber spekuliert, ob nicht Gold möglich gewesen wäre. Plaza, bekannt durch seine überragende Ausdauer, war ein langsamer Starter, hatte aber ein gutes Finish. Im Ziel war El Ouafi restlos fertig und musste ins Krankenhaus gebracht werden, während Plaza freudestrahlend, in die ihm gereichte Chilenische Fahne gehüllt, eine lockere Ehrenrunde lief. Experten meinten, Plaza hätte sich früher aus der Verfolgergruppe lösen sollen um somit den Abstand zum späteren Sieger zu verringern und den Lauf zu gewinnen.

Zurück aus Amsterdam wird der olympische Silbermedaillenträger in Santiago von 50.000 Landsleuten begeistert willkommen geheißen. Der Staatspräsident gratuliert dem bescheidenen Landsmann persönlich, ein Denkmal soll errichtet werden und an ihn erinnern.

Laufstrecke im Zentrum von Santiago de Chile entlang des Mapocho-Flusses

Die Statistiken besagen, dass Manuel Plaza zwischen 1922 und 1927 an den Südamerika-Meisterschaften in Santiago, Buenos Aires, Montevideo und Río de Janeiro teilnimmt und dort alle Medaillen im Langstreckenlauf abräumt. Angefangen bei 3000 m flach, über 5000 und 10.000 m, bis Halbmarathon und beim Geländelauf. In dieser Zeit ist er auf dem südamerikanischen Kontinent der Star der Leichtathletik, bekommt Angebote ins Profilager zu wechseln, die er stets ablehnt. 1933 meint er schließlich, dass die Zeit gekommen sei sich eine bescheidene Existenz aufzubauen und sich seiner Familie zu widmen. Mit zwei Goldmedaillen bei den Südamerika-Meisterschatten in Montevideo ausgezeichnet, eine davon im Halbmarathon, beendet Manuel Plaza seine ruhmreiche Karriere. Er wird nie wieder laufen. Das nach seiner Rückkehr aus Amsterdam von hoher Stelle versprochene Denkmal am Nationalstadion ist bis heute nicht errichtet worden.

Manuel Plaza verstarb im Alter von nur 68 Jahren. 5000 schweigende Landsleute begleiten ihn auf seinem letzten Weg. Beim Volk bleibt Manuel Plaza unvergessen. Schulen, Freizeiteinrichtungen und Laufvereine tragen heute seinen Namen.

Seit Jahren verfügt Chile über keine international herausragenden Läufer. Aber seit über 10 Jahren befindet sich die Volkslaufszene in voller Blüte. Überall wird gejoggt und in vielen Städten finden Volksläufe mit reger Beteiligung von Jung und Alt statt. Die Gesundheits- und Laufbewegung hat besonders die Frauen erreicht. Keine Zeit, meine Damen? Weit gefehlt, wie eine Frühaufsteherin unlängst berichtete. So geht es: 5.30 Uhr Laufen, 7 Uhr Kinder in die Schule fahren und 8 Uhr pünktlich auf Arbeit. Na bitte!

Anm. d. Red.: Rainer Frieland berät seit Jahren unsere Leser bei der Vorbereitung
zu ihrem ersten 100 km Lauf in Biel. Zum Biel-Projekt im LaufReport klick HIER

Bericht und Fotos von Rainer Frieland

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