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20.9.09 - 6. Anglesey Marathon (Wales)Croeso i Cymru |
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von Ralf Klink
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Von allen Landesteilen des vereinigten Königreichs Ihrer Majestät Queen Elizabeth ist Wales sicher hierzulande der unbekannteste. England – das im Deutschen ja sowieso oft fälschlich als Synonym für Großbritannien und das United Kingdom gebraucht wird – lässt sich als größtes und mit Abstand bevölkerungsreichstes Gebiet natürlich kaum übersehen.
Dass es weiter nördlich davon eine andere Region gibt, in der auch die Männer gelegentlich Röcke tragen und dabei aus einem seltsamen Musikinstrument Töne erzeugen, die einem eiskalt den Rücken herunter laufen können, hat nun auch nahezu jeder schon einmal gehört. Und so mancher Urlauber vom Kontinent hat bei einem Besuch in den Highlands sogar selbst erlebt, was Einsamkeit bedeuten kann.
Auch wenn es im Nordostteil der Nachbarinsel von Großbritannien – das ist nämlich im eigentlichen Sinn nur eine geographische Bezeichnung für das größte Eiland des Archipels und hat keineswegs wie im Deutschen oft verwendet eine politische Bedeutung – inzwischen etwas ruhiger geworden ist, werden sich die Älteren bestimmt auch noch an Zeiten erinnern, zu denen kaum eine Nachrichtensendung verging, in der nicht von blutigen Zusammenstößen zwischen protestantischen, königstreuen Unionisten und katholischen, irischen Nationalisten in Nordirland die Rede war.
Doch von Wales nimmt man höchstens dann einmal Notiz, wenn – wie gerade wieder geschehen – die dortige Fußballnationalmannschaft gemeinsam mit der deutschen in einer Qualifikationsgruppe für eine WM oder EM gelost wird. Als Reiseziel hat sich Wales jedenfalls noch nicht ins Gespräch gebracht. Zumindest nicht im Rest von Europa. Denn die Briten selbst machen sehr wohl Urlaub im Westen ihrer Insel.
Gründe dafür gibt es durchaus. Zum Beispiel hat eine lange Besiedlungsgeschichte ihre Spuren hinterlassen. Von Hügelgräbern und Menhiren – die Hinkelsteine von Obelix – aus der Bronzezeit über römische Ruinen aus der Antike und Burgen, Klöster oder Kirchen aus dem Mittelalter bis hin zu Industrieanlagen aus der Zeit der industriellen Revolution wartet eine Vielzahl von historischen Bauwerken auf Besucher.
Auf drei Seiten vom Meer begrenzt kann Wales natürlich auch mit einer langen Küste aufwarten, an der sich je nach persönlichem Geschmack weite Strände und steile Klippen finden lassen. Und im Hinterland laden raue Bergregionen, die mit tausend Metern eine für Großbritannien durchaus beachtliche Höhe erreichen, zum Wandern ein. Gleich drei Nationalparks stellen Teile dieser Landschaften unter besonderen Schutz und nehmen dabei ein volles Fünftel der walisischen Fläche ein.
Auf dem Festland hat man Wales trotzdem noch nicht wirklich entdeckt. Eine Beobachtung, die man schon machen kann, wenn man sich im Vorfeld auf die Suche nach Literatur begibt. Denn während sich über nahezu alle anderen Ecken Großbritanniens etliche Titel in den Regalen der Buchläden finden lassen, sind solche, die sich mit Wales beschäftigen, eher selten. Zu London hat praktisch jeder Verlag einen oder mehrere Reiseführer im Angebot. Auch über die Highlands im Norden oder die bei manchen beinahe Kultstatus genießende Nachbarinsel Irland gibt es eine große Auswahl. Doch bei Wales kann man fast schon froh sein, wenn einem überhaupt etwas in die Finger fällt.
Und während man ansonsten nahezu überall auf der Welt an touristisch interessanten Stellen irgendwann Wortfetzen aufschnappen kann und wird, die eindeutig auf Urlauber aus dem deutschen Sprachraum schließen lassen, sind solche Erlebnisse im Westen Großbritanniens recht unwahrscheinlich. Da kommt einem eigentlich immer nur English zu Ohren. Denn auch Besucher aus allen anderen europäischen Ländern sind ziemlich selten.
Oder man hört Walisisch. Und das ist mitnichten ein englischer Dialekt, sondern eine absolut eigene, völlig ungewohnt klingende Sprache aus einer ganz anderen Familie, nämlich der keltischen. Seine nächsten Verwandten sind das für Deutsche genauso unverständliche Bretonisch im Westen von Frankreich und das eigentlich schon verschwundene, inzwischen aber künstlich neu belebte Kornisch in Cornwall.
Obwohl sonst die einst im westlichen Europa dominierenden keltischen Sprachen durch romanische und germanische verdrängt wurden – und auch heute noch immer weiter verdrängt werden, weil sie selbst in ihren letzten Rückzugsgebieten gegen die Weltsprachen Englisch und Französisch kaum bestehen können – ist das Walisische nämlich überraschend vital. Auf der Nachbarinsel Irland benutzen trotz seines offiziellen Status als erste Landessprache höchstens hunderttausend Menschen das keltische Irisch auch im Alltag. Walisisch ist dagegen für über ein Viertel der ungefähr drei Millionen Bewohner von Wales die normale Umgangssprache.
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Durch die raue Landschaft des Snowdonia Nationalparks führt im Oktober der gleichnamige Marathon |
Da hauptsächlich in den bevölkerungsreichen Regionen um Cardiff und Swansea im Süden Englisch bevorzugt wird, ist es bezogen auf den Rest des Landes sogar oft dominierend. Und im Gegensatz zu allen anderen keltischen Verwandten steigt die Zahl der Sprecher sogar langsam an. Schließlich kann man sich auch so bewusst etwas von England absetzen, das beileibe nicht alle Waliser wirklich mögen.
Wales ist eben nicht England. Darauf legt man durchaus Wert. Vielleicht sogar gerade, weil Wales als erstes endgültig unter englische Herrschaft kam und schon 1536 im sogenannten „Act of Union“ mit diesem verschmolzen wurde. Kein anderer Landesteil ist enger mit England verbunden, für keinen anderen gibt es weniger – der im Königreich mit seinen komplexen politischen Gegebenheiten ziemlich häufigen – rechtliche Sonderegelungen.
Immerhin besitzt man nach langen Verhandlungen seit 1999 wieder ein eigenes Parlament, das sich um rein walisische Angelegenheiten kümmern darf. Mit den Länderparlamenten eines normalen Bundesstaates ist das jedoch nicht zu vergleichen. Denn erstens sind die Kompetenzen deutlich kleiner. Und zweitens hat das Vereinigte Königreich nicht wirklich föderale Struktur. England selbst besitzt im Gegensatz zu den anderen drei Bestandteilen nämlich keine eigene Volksvertretung. Dafür ist weiterhin das gesamte britische Unterhaus zuständig.
Dass Wales tatsächlich nicht England ist, merkt man ziemlich schnell nach dem Überschreiten der Grenze. Nicht nur dass die Verkehrsschilder auf einmal zweisprachig sind, wobei man ohne den englischen Text oft ziemlich aufgeschmissen wäre, denn vom anderen versteht man meist kein einziges Wort. Nicht nur dass die Orte auf einmal ungewohnte und – zumindest für einen des Walisischen nicht mächtigen Besucher – extreme Lautakrobatik erfordernde Namen haben.
An den Fahnenmasten flattert auch häufig ein roter Drache. Es ist die walisische Nationalflagge, auf die man sich Mitte des letzten Jahrhunderts geeinigt hat. Doch als Symbol für Wales und die Waliser gibt es das Fabeltier schon seit dem Mittelalter. Alternativ dazu sieht man manchmal auch ein gelbes Kreuz auf schwarzem Grund, die Fahne des Nationalheiligen St. David.
Den Union Jack des Vereinigten Königreichs entdeckt der Besucher dagegen äußerst selten. Eigentlich müsste diese Flagge richtigerweise „Union Flag“ heißen. Und offiziell tut sie das sogar. Denn ein „Jack“ ist nur die Fahne an einem Schiff der Marine. Doch auch bei den Briten hat sich – vielleicht wegen der jahrhundertelangen Tradition als maritimer Weltmacht – die Bezeichnung absolut durchgesetzt.
Jedenfalls hat Wales als einziges keinen Bestandteil zu dieser Flagge geliefert, in der das englische Georgskreuz mit den diagonalen Andreas- und Patrickskreuzen der anderen Landesteile verbunden wurde. Dabei ist vom bei der Kreation der endgültigen Version des Union Jack vollständig zum Königreich gehörenden Irland ja inzwischen nur noch ein kleiner Rest verblieben. Doch das größere Wales ist auch weiterhin nicht berücksichtigt. Noch ein Grund mehr ihn nicht zu hissen.
Vorschläge zum Beispiel einen kleinen roten Drachen in der Mitte zu integrieren, hatten jedenfalls bisher nicht die geringste Aussicht auf Erfolg. Und die ebenfalls einmal ins Gespräch gebrachte Variante, das Blau und Rot der britischen Flagge in der einen Hälfte durch das Schwarz und Gelb des heiligen David zu ersetzen, musste schon aufgrund der ziemlich abenteuerlichen Farbkombination scheiten.
Doch vor allem die Umgebung hat sich mit dem Überqueren der Grenze fast schlagartig verändert. Wer im Norden von den großen englischen Zentren Birmingham, Manchester oder Liverpool kommt, merkt das besonders schnell. Diese sind mit ihren auch aus Deutschland angeflogenen Flughäfen fast besser zum Ausgangsort für eine Reise nach Wales geeignet als das ebenfalls wenig zentraler gelegene Cardiff, wo man den einzigen nennenswerten walisischen Landeplatz findet.
Denn statt der doch eher flachen oder maximal leicht gewellten englischen Midlands ist man auf einmal in einer Mittelgebirgslandschaft gelandet, in der sich enge bewaldete Täler und grasbewachsene Hochflächen abwechseln. Und – einmal abgesehen von der meist vierspurig ausgebauten, größtenteils der Küste folgenden A55 – sind auch die Straßen auf einmal enger und kurviger geworden. Niedrige Mauern, hohe Bäume und dichte Hecken begrenzen sie an vielen Stellen.
Anstatt auf Umgehungen weiträumig um diese herum geführt zu werden, zwängen sie sich nun auch mitten durchs Zentrum kleiner Städtchen. Aus wuchtigen Feldsteinen gemauerte oder in Bonbonfarben gestrichene Häuser stehen dort am Rand. Und gelegentlich sind sie sogar beides. Blumen schmücken nicht nur wie überall auf der Insel üblich die Pubs sondern auch viele andere Gebäude. Statt großflächiger Supermärkte am Ortstrand mit noch großflächigeren Parkplätzen davor entdeckt man plötzlich wieder kleine Tante-Emma-Läden in der Dorfmitte.
Alles wirkt ruhiger, ein wenig gelassener, nicht so hektisch wie noch vor kurzem auf der englischen Schnellstraße. Manchmal scheint dabei die Zeit regelrecht stehen geblieben zu sein. Nicht überall, aber doch ziemlich häufig. Da gibt es einige Orte, an denen man ohne jede zusätzliche Kulisse einen Film drehen könnte, der fünfzig, achtzig oder hundert Jahre in der Vergangenheit spielt. Und an einigen Ecken würde man sich auch nicht wirklich wundern, wenn im nächsten Moment eine Patrouille Rotröcke mit Dreispitz und Puderperücke vorbei käme.
Selbstverständlich ist das ein ziemlich subjektiver Eindruck. Natürlich gibt es in den städtischen Regionen im Süden von Wales genauso vielbefahrene Straßen und Autobahnen wie im mittelenglischen Industrierevier. Und natürlich gibt es in England abseits der Metropolen ebenfalls wirklich schöne Landschaften, Natur- und Nationalparks, idyllische Dörfer. Doch in Wales muss man sie eben nicht lange suchen. Man stößt von ganz alleine darauf, sobald man nur ein bisschen durch das kleine Ländchen im Westen der großen Insel fährt.
In nicht einmal zwei Stunden könnte man Wales von Ost nach West durchqueren. Zum Beispiel, um eine an der Küste ablegende Fähre nach Irland zu bekommen. Von Nord nach Süd bräuchte man für das Land, das ungefähr so groß wie Hessen ist, nur eine gute Stunde mehr. Allerdings sollte man sich vielleicht doch nicht unbedingt auf diesen Schnelldurchlauf beschränken. Denn es gäbe da unterwegs durchaus einiges an Sehenswertem, das man ansonsten verpassen würde. Es müsste sich halt nur herum sprechen.
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Start und Ziel des Marathons befinden sich auf dem landwirtschaftlichen Ausstellungsgelände |
Tourismusförderung war – das gibt man ganz offen zu – auch einer der Gründe, warum vor einigen Jahren auf der Insel Anglesey ein bereits früher einmal existierender Marathon wieder ins Leben gerufen wurde. Im ohnehin schon etwas abseits gelegenen Wales findet sich Anglesey in einer noch extremeren Randlage. Denn die in der Größe etwa zwischen Usedom und Rügen einzuordnende Insel bildet den äußersten nordwestlichsten Zipfel des Landes.
Und fast noch weniger als ihre deutschen Gegenstücke wird sie bei einem oberflächlichen Blick zudem als Eiland wahrgenommen. Weder auf der Karte noch in der Realität. Denn einzig ein schmaler Meeresarm, der an den engsten Stellen nur gute zweihundert Meter misst, trennt Anglesey vom Festland. Selbst wenn man diese Menai Strait doch bemerken sollte, wirkt sie auf dem Papier eher wie ein künstlicher Kanal.
Und in Natura hat man höchstens den Eindruck, man quere da ein tief eingeschnittenes Flusstal und nicht einen Teil der irischen See, wenn man hinüber auf die Insel rollt. Denn gleich zwei im Abstand von etwa einem Kilometer erbaute Brücken stellen über die Meerenge hinweg eine feste Straßen- und Bahnverbindung mit dem Rest von Wales her.
Die ältere von beiden – die Menai Bridge – hat inzwischen fast zweihundert Jahre auf dem Buckel. Im Jahr 1826 wurde die Hängebrücke als eine der ersten weltweit fertig gestellt und versieht abgesehen von einer Spurerweiterung seitdem ziemlich unverändert ihren Dienst. Sogar für die UNESCO-Welterbeliste ist sie vorgeschlagen. Und auch auf einigen Pfund-Münzen ist sie als eines der Wahrzeichen von Wales abgebildet. Dem Ort auf ihrem inselseitigen Ende hat sie ebenfalls gleich ihren Namen mitgegeben.
Die andere die Britannia Bridge wurde zwar nach einem Brand komplett umgebaut und trägt inzwischen eine vierspurige Schnellstraße, eben jene schon erwähnte A55, doch ihre Pfeiler stammen ebenfalls schon aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Da diese zweistöckige Brücke in ihrem unteren Geschoss zudem die Gleise einer Bahnlinie hinüber auf die Insel bringt, ist diese auch mit dem Zug erreichbar.
Über die Verkehrsanbindung kann man sich auf Anglesey – dessen walisischer Name „Ynys Môn“ oder oft einfach nur „Môn“, denn „Ynys“ bedeutet nicht anderes als „Insel“, langsam wieder häufiger Verwendung findet – wirklich nicht beschweren. Man hat ja sogar einen eigenen Flugplatz. Doch von dem gibt es pro Tag gerade einmal zwei Verbindungen einer Regionalgesellschaft von und nach Cardiff. Urlauber bekommt man jedenfalls so wohl kaum zusätzliche auf die Insel.
Die meisten reisen deshalb auch mit dem eigenen – oder auch gemieteten – Auto an. Das hat man sogar dringend nötig, falls man beim Marathon dabei sein will. Direkt bei Start und Ziel wird man kaum Übernachtungsmöglichkeiten finden können. Der findet sich nämlich auf dem Anglesey Showground ziemlich in der Mitte der Insel und ein ganzes Stück entfernt von der nächsten – walisisch zungenbrecherisch „Gwalchmai“ heißenden – Ortschaft. Und die ist mit wenigen hundert Bewohnern auch alles andere als eine Metropole.
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Entspanntes Warten auf den Start |
Also rollt am Sonntagmorgen eine lange Autokarawane über die Insel, um rechtzeitig zum landwirtschaftlichen Ausstellungsgelände – denn nichts anderes sind die „Showgrounds“ – zu gelangen. Probleme mit ausreichendem Parkraum hat man dabei wirklich nicht. Wiesen gibt es rundherum mehr als genug. Und wohl nicht nur zum Marathon, sondern auch wenn der Veranstaltungsort seiner eigentlichen Aufgabe dient, werden sie zu Abstellplätzen umfunktioniert.
Um dann allerdings zur nur am Sonntag geöffneten Startnummernausgabe zu gelangen, muss man erst einmal an einem Kassenhäuschen vorbei. Den angemeldeten Teilnehmern wurde zwar mit den Unterlagen eine Eintrittskarte für das umzäunte Gelände zugeschickt. Doch alle anderen, die auf den Showground wollen, dürfen erst einmal in den Geldbeutel greifen. Dass Zuschauer bei einem Marathon etwas bezahlen sollen, hat man auch noch selten erlebt.
Allerdings muss dabei dann auch erwähnt werden, dass zusammen mit dem Lauf auch noch ein Fußballturnier für Kinder und ein Rugby-Lehrgang für Jugendliche auf jenen Grasflächen stattfindet, die sonst zur Begutachtung der neuesten landwirtschaftlichen Maschinen oder besonders ausgezeichneter Zuchttiere dienen. Der Anglesey Marathon hat ein ziemlich weit gestreutes Programm, das weit über die eigentlichen Rennen hinaus geht.
Das sind nämlich auch mehrere. Denn nicht nur ein Marathon wird angeboten, sondern dazu noch die anderen beiden international üblichen Distanzen Halbmarathon und zehn Kilometer. Wobei man sich nur auf der kürzesten Distanz kurzfristig anmelden kann. Bei den beiden langen ist bereits eine Woche vorher Schluss. Ein „Fun Run“ ohne Zeitnahme über fünf Kilometer und zwei Läufe für Schüler runden die bunte Palette für die ganze Familie ab.
Abholen kann man seine Startnummer in einer der beiden Ausstellungshallen – die andere ist mit regionalen Infoständen und einer Bühne belegt – auf dem Gelände, deren mehr als karge Innenausstattung mit Betonboden und Wellblechwänden kaum verheimlichen kann, im Normalfall für andere Zwecke gedacht zu sein. Und spätestens der doch leicht ländliche Geruch zeigt, dass sie durchaus auch einmal als Unterstellraum für Vieh dient.
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Die Startgerade absolviert man auf den Showgrounds | In leichten Wellen geht es über die erste Meile |
Ungewöhnlich ist nicht nur der Ausgabeort sondern auch das Procedere. Denn ähnlich wie bei den Radfahrern muss jeder Teilnehmer mit der Unterschrift in einer Startliste den Erhalt der Nummer bestätigen. Das gleiche wiederholt sich sogar noch einmal, wenn man am Nebentisch den Chip für die Zeitmessung abholt. Den bekommt man einfach in einem Umschlag ausgehändigt. Übrigens ohne irgendwelche Leihgebühren, die aber eigentlich sowieso nur in Deutschland üblich sind.
Das Startgeld hält sich mit neunzehn britischen Pfund für den Marathon und sechszehn Pfund für die halb so lange Strecke – noch einmal zwei Pfund kann man zudem sparen, falls man einem Leichtathletik- oder Laufclub angehört – ohnehin in einem ziemlich vertretbaren Rahmen. Zumal das Pound Sterling sich gegenüber dem Euro noch immer in einer starken Abwärtstendenz befindet. Langsam nähert man sich dabei einem Umrechnungskurs von eins zu eins.
Vom einstigen Wert ist sehr zum Leidwesen der Briten, für die Besuche auf dem Kontinent immer teurer werden, jedenfalls nicht mehr viel übrig. Doch deswegen gleich über die Einführung der Gemeinschaftswährung nachzudenken, so weit ist man im Vereinigten Königreich noch lange nicht. Die umgekehrte Folgerung, dass Urlaube auf dessen Inseln für Festlandseuropäer dadurch günstiger werden, gilt natürlich genauso. Ob deshalb Wales als Reiseland mehr in Mode kommt?
Wales ist übrigens auch der einzige Teil des United Kingdom, der keine eigenen Geldscheine besitzt. Hier gelten die Banknoten der Bank of England als Zahlungsmittel. In den anderen beiden „Home Countries“– wie man sie mangels einer offiziellen festgelegten Bezeichnung meist nennt – geben dagegen auch mehrere Privatbanken eigenes Papiergeld heraus, das sich vom englischen unterscheidet, dort aber ganz normal im Umlauf ist. Walisische Banken haben dieses Recht nicht.
Allerdings gibt es gelegentlich Probleme mit der Akzeptanz, wenn man diese Noten dann in „Ländern“ verwenden will, für die sie nicht ursprünglich aufgelegt wurden. Über ein halbes Dutzend völlig verschiedene Zehn-Pfund-Scheine – und zwar alle irgendwo gültig – kann man durch diese Regelung jedenfalls auf der Insel in die Hand bekommen. Man muss nur aufpassen, wo und wie man diese anschließend wieder los wird. Wie schon gesagt, die Strukturen des Königreichs sind recht kompliziert. Und Wörter wie Nation, Volk, Staat und Land, die im Deutschen oft in ähnlicher oder sogar identischer Bedeutung benutzt werden, sind auf einmal gar nicht mehr so klar. Sie verschwimmen unter solchen Voraussetzungen vielmehr zu einem ziemlich undurchsichtigen Gebilde, das selbst die Briten bei der genauen Definition und Abgrenzung dieser Begriffe manchmal etwas überfordert.
Dabei haben sie es sogar noch ein wenig einfacher. Denn ihnen geht das „Juh Kääi“, mit dem im Allgemeinen das Vereinigte Königreich angekürzt wird, ganz locker über die Lippen. Im Deutschen hat es sich im Gegensatz zu seiner Entsprechung „USA“ nie etablieren können. Oft wird „UK“ dann auch noch eher als Kürzel für die Ukraine interpretiert. Also behilft man sich hierzulande mit dem eigentlich nicht korrekten „Großbritannien“, dessen Kurzformen „GB“ oder „GBR“ ja immerhin auch des Öfteren ganz offiziell auftauchen.
Oder man spricht flapsig und noch unkorrekter eben auch oft von „England“, wenn man eigentlich das ganze Gebilde meint. Wobei angemerkt werden muss, dass diese Benennung in etlichen europäischen Ländern gang und gäbe ist. Und sogar im sonstigen englischen Sprachraum – abgesehen natürlich vom United Kingdom selbst – nimmt man es mit den Unterschieden nicht immer ganz so genau.
Kaum einfacher zu durchschauen als die politische Situation ist das auch im Sport. Denn manchmal gibt es wie im Fußball eigene Landesverbände, die dann auch bei internationalen Wettbewerben mitmachen dürfen. Manchmal aber auch nicht. Bei Olympischen Spielen treten alle britischen Athleten zum Beispiel gemeinsam als „United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland“ unter dem Union Jack an.
Während der Commonwealth Games kämpfen die gleichen Sportler in den gleichen Disziplinen jedoch in den Farben ihrer vier „Home Nations“ – ein Wort, das, um die Verwirrung komplett zu machen, neben „Home Countries“ ebenfalls häufig benutzt wird – nicht nur gegen Kanadier, Australier oder Neuseeländer sondern auch gegeneinander.
Jedenfalls hat Wales neben einer eigener Fußball- auch eine eigene Rugby-Nationalmannschaft. Und das ist sogar viel wichtiger. Denn obwohl man bei einer anderen eigentlich nur im einstigen britischen Weltreich beachteten Sportart, dem Cricket, mit den Engländern sogar in einem gemeinsamen Verband zusammen spielt, befindet man sich beim Rugby mit dem nicht immer geliebten Nachbarn durchaus auf Augenhöhe. Natürlich gibt es da eine besondere Rivalität. Denn Wales ist eben nicht England.
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111 wird mit Solz getragen | Die ersten Zuschauer werden passiert | Gwalchmai ist die erste Ortschaft unterwegs |
Die Länderspielbilanz ist jedenfalls ziemlich ausgeglichen. Und auch beim jährlichen Six Nations Turnier der führenden europäischen Verbände steht es im Hinblick auf die Zahl der Gesamtsiege nahezu unentschieden. Im Rugby ist das kleine Wales eine Weltmacht, selbst wenn man bei der letzten WM bereits in der Vorrunde kläglich am noch wesentlich kleineren Fidschi scheiterte. Das kam fast einer nationalen Katastrophe gleich, denn Rugby und nicht Fußball ist in Wales Volkssport Nummer eins.
Entsprechend herzlich fällt dann auch die Begrüßung für Robin McBryde aus, der beinahe schon so etwas wie eine walisische Rugby-Legende ist. Eine regionale ist er definitiv. Denn der langjährige Nationalspieler ist ganz in der Nähe, in der Universitätsstadt Bangor auf der anderen Seite der Menai Straits geboren. Und seine ersten Sporen verdiente er sich auf dem Sportplatz im Schatten der nach Anglesey hinüber führenden Brücke.
Er darf als Starter um Punkt zehn Uhr das Marathonfeld auf die Reise schicken. Das gleiche hat er auch schon eine halbe Stunde zuvor ein Stück entfernt für die halb so lange Strecke getan. Denn die Mitteldistanzler tragen ihr Rennen auf dem zweiten Teil des Marathonkurses aus und wurden mit Bussen zu ihrem Start gekarrt. Die übrigen Läufe werden allerdings alle auf dem Showground gestartet, wenn auch an unterschiedlichen Stellen, um die exakte Streckenlänge hin zu bekommen.
Kein Schuss sondern das Hupen einer Druckluftfanfare ist das Startsignal. Eine Methode, die man auf den britischen Inseln durchaus öfter einmal verwendet. Nicht einmal zweihundertfünfzig Läufer machen sich auf den Weg, der sie über eine zwar nicht allzu breite, aber immerhin rund zweihundert Meter lange Start- und Zielgerade erst einmal zur Haupteinfahrt des Ausstellungsgeländes führt.
Auf der halben Distanz sind auch nicht wirklich viel mehr unterwegs. Ganze fünfzehn Namen wird die Ergebnisliste am Ende länger ausfallen. Das ziemlich ungesunde Verhältnis zugunsten der kürzeren Strecken, dem man hierzulande oft begegnet und mit dem der eigentliche Namensgeber Marathon nur noch zum Randereignis degradiert wird, hat sich in Anglesey noch nicht eingestellt. Zumal beim Zehner sogar nur gut hundertfünfzig Teilnehmer registriert werden.
Dennoch ist man bei insgesamt rund tausend Startern mit dem Zuspruch recht zufrieden. Schließlich hat die Insel selbst gerade einmal siebzigtausend Einwohner. Und auch wenn man die Nachbarregionen auf dem Festland mit berücksichtigt leben im Umkreis von einhundert Kilometern keine dreihunderttausend Menschen.
Damit liegt man noch einmal deutlich unter der Bevölkerungsdichte von Wales, das seinerseits nur ein Drittel des Wertes im benachbarten England erreicht. Von skandinavischer Weite und Abgeschiedenheit ist das zwar noch deutlich entfernt. Doch richtiges Gedränge herrscht im Norden des Landes mit dem roten Drachen nun auch nicht gerade.
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Paul Richards (287) und David Goodwin (292) laufen auch eine Woche später auf Jersey | Hauptsächlich bergab läuft man anfangs durch die Wiesenlandschaft |
So ist dann auch die Straße, auf die das Feld nach dem Verlassen der Showgrounds einbiegt, alles andere als belebt. Für den Verkehr gesperrt ist sie allerdings nicht. Und abgesehen von der Start- und Zielgeraden wird auch der komplette Rest des Kurses auf nicht nur öffentlichen sondern auch offenen Straßen zurückgelegt. Allerdings sind an allen Kreuzungen in sämtliche Richtungen auffällige gelbe Schilder aufgehängt, die ankommende Autofahrer an den Marathon erinnern. Und damit sie es nach dem Einbiegen auf die Strecke nicht gleich wieder vergessen, stehen diese Tafeln unterwegs ebenfalls in regelmäßigen Abständen.
Das Ganze funktioniert relativ reibungslos. Nur ein paar jugendliche Mopedfahrer können ihren Übermut später nicht anders loswerden, als mit Vollgas am Läuferfeld vorbei zu rasen. Ansonsten ist allerdings gegenseitige Rücksichtnahme angesagt. Etwas, was man eigentlich meist erlebt, wenn mangels geeigneter Alternativen Marathons auf nicht geschlossen Straßen ausgetragen werden. Zumindest in eher ländlich geprägten Regionen scheint das praktisch immer so zu sein. Vielleicht fällt es den Menschen dort aber auch einfach leichter als in Stadtnähe, weil das Leben insgesamt weniger hektisch ist und sich die von vorne herein etwas mehr Zeit mit allem lassen.
Nur wenige der vorbeirollenden Fahrzeuge haben die bei uns längst verbindlichen Europasterne mit dem Länderkennzeichen „GB“ auf dem Nummernschild. Diese Kennzeichnung ist im Vereinigten Königreich nämlich noch freiwillig. Entweder gibt es da gar kein Symbol. Oder aber – und zwar wesentlich häufiger als die EU-Flagge – fährt man den roten Drachen von Wales auf den Autonummern durch die Gegend. Das kann sowohl als Stolz auf die eigene Identität wie sicher in manchen Fällen durchaus auch als politische Äußerung interpretiert werden.
Unter dem Drachen steht „Cymru“. Denn so heißt Wales in der ursprünglichen, der keltischen Landessprache. Das scheint keine Verbindung mit dem englischen Begriff zu haben und hat es auch wirklich nicht. Denn die Bezeichnung „Wales“ – selbst wenn sie inzwischen durchaus auch von den Walisern akzeptiert wird – hat nicht nur eine vollkommen andere Herkunft sondern ist von ihrem Ursprung her sogar ziemlich abwertend.
Sie stammt nämlich von einem altgermanischen Wort ab, das „fremd, anders, unverständlich“ bedeutet. Die in der Völkerwanderungszeit nach Britannien gekommenen Angeln und Sachsen und auch die später nachrückenden Normannen begegneten auf der bis dahin nur von Kelten bewohnten Inseln einer völlig unbekannten Sprache und andersartigen Kultur. Und in Wales hielt sich dieses Volk eben besonders lang gegen die Eroberer vom Festland.
Noch deutlicher wird die Herkunft des Namens, wenn man das dazugehörige Adjektiv betrachtet. Was im Deutschen „walisisch“ genannt wird, heißt auf Englisch nämlich „Welsh“. Und das klingt nicht nur zufällig so wie der Begriff „Welsch“, den man gerade im Alpenraum ja an den Sprachgrenzen des Deutschen zum Französischen und Italienischen gerne benutzt. Auch das „Kauderwelsch“ – eben fremdes, unverständliches Gerede – lässt sich genau darauf zurück führen.
Ganz ähnlich verhält es sich zum Beispiel auch mit der „Wallonie“ in Belgien, an der Grenze zwischen germanischem und romanischem Sprachraum. Und für die eher aus der Umgangssprache als flapsige Bezeichnung für „Durcheinander“ oder „Wildnis“ bekannten rumänischen Region der „Walachei“ ist es nicht anders.
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Anthony McGee aus Liverpool bei seinem ersten Marathon | Schafe gibt es in Wales wesentlich mehr als Menschen |
Das „Wallis“ in der Schweiz dagegen, dessen Bewohner als „Walliser“ gelegentlich mit den „Walisern“ von der britischen Insel durcheinandergebracht werden, hat damit nichts zu tun. Dessen Name wird nämlich vom lateinischen „Vallis“ – übersetzt „Tal“ – abgeleitet. Mit diesem Kanton und seinen richtig hohen, von Schnee bedeckten Bergen lässt sich also eine ganz andere Geschichte verbinden.
Grob gesagt, besteht der Marathonkurs auf Anglesey aus einem großen Viereck, bei dem sich Start und Ziel in der Mitte der einen Seite befinden. Von dort führt die Strecke erst einmal nach Westen. Und das schon erwähnte Dörfchen Gwalchmai ist das erste Zwischenziel. Knappe zwei Meilen sind es bis dorthin. Wie viel das in Kilometern ist, muss sich der Kontinentaleuropäer selbst ausrechnen, denn nur die Meilenpunkte sind gekennzeichnet.
Während sie auf die meisten anderen ihrer „imperialen Maße“ wie den Stone oder die Gallone inzwischen verzichten mussten und Gewichte in Kilogramm und Volumen in Litern angeben, haben die Briten ihre Längeneinheiten mit Zähnen und Klauen verteidigt. Und so werden Entfernungen noch immer überall in Meilen – oder bei kürzeren Distanzen auch einmal in Yards – angegeben.
Andererseits wird allerdings – vielleicht dann doch aus Rücksicht auf Touristen oder aber auch nur um die eigenen Brücken zu schonen – die Höhe und Breite von Durchfahrten nicht nur in Fuß und Inch sondern meist auch in Meter und Zentimeter angezeigt. Im Gespräch merkt man jedenfalls, dass Briten mit den metrischen Längen ganz gut klar kommen. Besser jedenfalls als die US-Amerikaner, denen diese noch immer völlig fremd sind.
Die kürzeren Stecken sind nicht nur in Kilometern ausgeschrieben sondern unterwegs auch entsprechend markiert. Und die Aussage, dass Haile Gebrselassie genau zur gleichen Zeit in Berlin vermutlich mit einem Tempo von drei Minuten pro Kilometer aufs Ziel zustürmen dürfte, ist sehr wohl ein Gesprächsthema, da sich unter dieser Geschwindigkeit praktisch alle etwas vorstellen können. Wobei der größte deutsche Marathon den britischen Sportnachrichten nicht nur wegen des gescheiterten Versuches, den Weltrekord zu attackieren, am Abend allerdings keine Meldung wert sein wird.
Da ist der Great North Run von Newcastle für die einheimischen Fernsehsender viel interessanter. Rund vierzigtausend Teilnehmer nehmen dort am gleichen Tag die Halbmarathondistanz unter die Füße. Der Kenianer Martin Lel, der auch schon dreimal in London siegte, gewinnt das Rennen an der englischen Nordostküste mit 59:32 zum zweiten Mal in Folge. Bei den Frauen ist knappe zehn Minuten (69:08) später die Portugiesin Jessica Augusto erfolgreich.
Da ist das Feld auf Ynys Môn dann doch etwas kleiner. Und bereits als es Gwalchmai erreicht, hat es sich beträchtlich auseinander gezogen und ist in kleine Grüppchen oder gar Solisten zersplittert. „Croeso“ steht auf dem Schild am Ortseingang. Und das daneben zu lesende „Welcome“ zeigt, dass man mit diesem nahezu an jeder Dorfeinfahrt in Wales zu entdeckenden Wort aus der ursprünglichen Landessprache freundlich begrüßt wird.
Tatsächlich haben sich ein paar Zuschauer eingefunden. Ein paar von ihnen wird man allerdings später noch des Öfteren begegnen. Die nicht gesperrten Straßen bringen natürlich einen regen Begleitverkehr von Freunden und Verwandten mit sich. Nicht nur mit dem Auto. Einige Läufer werden unterwegs auch von einem Radbegleiter versorgt.
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Elf Drink Stations warten auf die Marathonis | Die Kirche gab dem Örtchen Llanfaelog seinen Namen | Schnell ist das kleine Feld zerfallen |
Die haben durchaus auch einiges vor sich. Nicht nur die Distanz sondern auch etliches an Höhenmetern. Den zugeschickten Unterlagen war ein Profil beigefügt. Und das hat durchaus etwas von der Kurve einer Herzfrequenzmessung. Der höchste Punkt ist ausgerechnet in der Nähe der Showgrounds. Mit rund achtzig Metern – die Höhe ist übrigens wirklich in Metern und nicht etwa in Fuß oder Yard angegeben – sieht das gar nicht so hoch aus.
Doch nicht nur, dass man zwischendurch gleich mehrfach praktisch bis auf Meeresniveau abfällt. Dazwischen geht es eben wieder fünfzig, sechzig Meter nach oben. Drei- bis vierhundert Meter kommen so im Laufe des Rennens locker zusammen. Vielleicht sind es sogar noch mehr. Denn eigentlich sollte es laut Höhendiagramm auf den ersten Meilen nahezu ausschließlich bergab gehen. Doch immer wieder tauchen da auch in der Anfangsphase ein paar Wellen auf, die sich den Marathonis in den Weg stellen.
Dabei gilt Anglesey eigentlich als relativ flach. Allerdings nur verglichen mit dem Rest von Wales. Schließlich ist das Gelände dort nur selten einmal richtig plan, meist sogar ziemlich hügelig. Im größten Teil des Landes erheben sich die Gebirgszüge der Cambrian Mountains. Und größere Ebenen sucht man ohnehin ziemlich vergebens. Croeso i Cymru, willkommen in Wales.
Wenn auch das Streckenprofil wirklich schnelle Zeiten von vorneherein unmöglich macht, gut sind jedenfalls die äußeren Bedingungen, beinahe noch besser als in den Vorhersagen der Meteorologen versprochen. Die morgendlichen Nebel, die noch bei der Anfahrt über einigen Wiesen hingen, haben sich aufgelöst. Und nur einige Schönwetterwölkchen versperren der Sonne gelegentlich den freien Zugang auf das Marathonfeld.
Für wärmeempfindliche Läufer sind Temperaturen in der Nähe der Zwanzig-Grad-Marke dann jedoch schon fast wieder im leistungsmindernden Bereich. Wirklich üblich sei dies nicht für die Gegend bekennt Nicholas Fraser. Denn Anglesey wäre eigentlich eine ziemlich feuchte Ecke des ohnehin nicht gerade durch die Garantie für strahlenden Sonnenschein bekannten Großbritannien.
Nicholas kann es durchaus beurteilen, denn er stammt aus dem gerade einmal zwanzig Kilometer entfernten Holyhead. Der Fährhafen liegt zwar auf Holy Island, die sich ganz im Westen genauso übergangslos mit Ynys Môn verbindet wie die große Insel selbst mit dem Festland, gehört aber immerhin zum Verwaltungsbereich von Anglesey. Viel weiter weg vom Zentrum des Landes kann man kaum noch wohnen.
Aber irgendwie wären solche Verhältnisse für den Anglesey Marathon doch ziemlich normal. Schon mehrfach habe er am Lauf teilgenommen und immer sei es trocken und warm gewesen. Es könne durchaus schon einmal 364 Tage im Jahr regnen, am Renntag würde das Wetter aber immer aufklaren, behauptet er schmunzelnd. Eine Behauptung, die natürlich nur schwer nachprüfbar ist.
Einige dieser Aussagen macht Nicholas auf Deutsch, was durchaus ungewöhnlich ist. Schließlich sind wie überall im englischen Sprachraum auch in Wales Kenntnisse in Fremdsprachen eher schwach verbreitet. Man geht halt einfach – in einer Haltung, die man durchaus oft als wenig einfühlsam bezeichnen kann – davon aus, dass der Rest der Welt sowieso Englisch versteht. Doch Nicholas hat einige Zeit in Deutschland gelebt, in Stuttgart und in Leipzig, wie er erzählt.
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Hinter Llanfaelog nähert man sich dem Meer |
Außerdem sei er ja kein Engländer sondern Waliser. Und neben Englisch würde er auch noch Walisisch beherrschen, das gerade im Nordwesten häufig die normale Umgangssprache ist. Anderseits sieht er das dann doch nicht ganz so verbissen, hat nichts gegen die „Englishmen“. Schließlich gelte für ihn die einfache Formel „We’re all British“. Doch eine Ausnahme gäbe es dabei, wie er mit einem Augenzwinkern erwähnt. „When it comes to rugby“.
Es geht links ab. Der erste Schwenk des Vierecks ist erreicht. Und wenig später wird die nun schon mehrfach erwähnte A55 überquert, die quer über die Insel die Heimatstadt von Nicholas Fraser ansteuert, wo die Fähren nach Dublin ablegen. Die relativ neue Schnellstraße hat den meisten Verkehr von der parallel verlaufenden A5 abgezogen, auf der Holyhead früher angefahren wurde. Auch deshalb konnte diese für die ersten Meilen als Rennstrecke dienen.
Die Route auf die man eingebogen ist, trägt zwar ebenfalls ein „A“ im Namen. Doch schon die hohe Nummer „4080“ zeigt, dass sie eine nicht ganz so wichtige Rolle in der Verkehrsplanung spielt. Allerdings ist sie trotzdem noch recht gut ausgebaut. Denn daneben gibt es auch mit einem „B“ versehene Strecken.
Und unzählige Straßen sind überhaupt nicht klassifiziert. Auf diese meist nur einspurigen besseren Feldwege sollte sich allerdings nur wagen, wer sich zutraut im Falle von plötzlichem Gegenverkehr zwischen Steinmauern und Hecken auch einmal ein Stück rückwärts bis zur nächsten Ausweichstelle zu fahren.
Doch auch die übrigen Straßen sind meist relativ schmal und kurvig. Nur selten sind sie mit mehr als zwei Spuren versehen. Und wenn doch einmal, dann kann aus dieser breiten Piste dennoch ganz schnell und ohne Vorwarnung wieder ein enges Sträßchen werden. Das Tempolimit von sechzig Meilen pro Stunde, das in Großbritannien außerhalb der Ortschaften gilt, kann man jedenfalls selten ausreizen. Wales ist auch deshalb durchaus etwas für Leute, die ein wenig mehr Geduld haben und nicht in jeder Beziehung durchs Leben hetzen.
Hauptsächlich aus Wiesen besteht die leicht wellige Landschaft in der Mitte von Anglesey. Auf ihnen grasen ab und zu Kühe. Und noch häufiger werden sie von Schafen abgeweidet. Denn walisische Schafe gibt es rund dreimal so viele wie Waliser. Eigentlich ist es fast unmöglich, ihnen in Cymru nicht zu begegnen. Wohl auch – aber wohl nicht nur – deshalb ist dann der Border Collie die mit Abstand am häufigsten zu sehende Hunderasse im Land.
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Ein kurzes Stück führt die Strecke direkt am Meer entlang, das dann mit einer knackigen Steigung wieder verlassen wird |
Über viele dieser Wiesen führen Wanderpfade. Zumindest deuten das die an Holzpfosten befestigten Pfeile an, die immer wieder einmal neben einem Weidetor zu entdecken sind. Nicht nur auf der Ynys Môn sondern überall in Wales stößt man überraschend häufig auf markierte Fußwege. Ein dichtes Netz ist ausgeschildert. An einem der Infostände in den Ausstellungshallen hätte man alleine mindestens ein halbes Dutzend Broschüren, in denen die einzelnen Gemeinden der Insel ihre Wander- und Spazierrouten vorstellen, abgreifen können.
Und rund um das gesamte Eiland führt der zweihundert Kilometer lange Isle of Anglesey Coastal Path. Der hat zwar auch durchaus beeindruckende Stellen hoch über dem Meer, aber mit seinem Namensvetter und Vorbild, dem Pembrokeshire Coastal Path, kann er dennoch nicht mithalten. Der windet sich noch hundert Kilometer länger um die komplette Südwestspitze von Wales. Die dortige Küste ist nahezu vollständig als Nationalpark ausgewiesen und kann mit wirklich spektakulären Klippen und Felsformationen aufwarten.
Rund sechs Meilen haben sie in den Beinen, als Llanfaelog vor den Marathonis auftaucht. Das Dörfchen ist fast noch kleiner als zuvor Gwalchmai, aber es hat eine Kirche, an der man sogar vorbeiläuft. Nichts anderes als „Kirche“ bedeutet nämlich das walisische „Llan“, mit dem nahezu jeder zweite Ortsname in Cymru zu beginnen scheint. Einfach ist es für die Orientierung nicht unbedingt, wenn man an einer Kreuzung in jeder Himmelsrichtung zu irgendeinem „Llan...“ gelangen kann. Und dass „See“ auf Walisisch dann auch noch „Llyn“ heißt, macht die Sache endgültig ziemlich unübersichtlich.
Der außerhalb von Wales bekannteste dieser Orte – auch wenn sich praktisch niemand den exakten Namen merkt – ist sicherlich Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch. Es ist die Gemeinde mit den meisten Buchstaben in Europa. Je nach Zählung sind das 58 oder 51 Buchstaben, denn „ll“ und „ch“ gelten im walisischen Alphabet nur als ein Zeichen. Und selbst wenn es vom Marathon nicht direkt berührt wird, fast alle Teilnehmer sind vor dem Start an ihm vorbei gefahren. Schließlich findet man es auf Anglesey direkt hinter den beiden Brücken an der Straße nach Holyhead.
Eigentlich ist das Ganze nicht anderes als ein Werbegag, denn ursprünglich hieß das Dorf nur „Llanfair Pwllgwyngyll“. Und so oder sogar noch kürzer „Llanfairpwll“, „Llanfair PG“ oder „Llanfair“ wird es im Normallfall dann auch genannt. Auch auf Karten ist es in der Regel noch in dieser Form verzeichnet. Den Rest haben findige Bürger im neunzehnten Jahrhundert einfach dazu erfunden, um aufzufallen. Sie waren damit ziemlich erfolgreich.
Prompt bekam man nämlich einen Bahnhof, dessen Stationsschilder heute zu den beliebten walisischen Fotomotiven gehören. Auf dem Parkplatz davor stehen regelmäßig die Touristenbusse, deren Insassen nach dem Schnappschuss auch gleich noch im daneben errichteten Einkaufszentrum die dazu gehörenden Souvenirs kaufen können. Manchmal ist es fast schon erschreckend zu sehen, mit welchen Lappalien sich die Besucher in einem Land, das doch eigentlich viel Interessanteres zu bieten hätte, zufrieden stellen lassen.
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Mit einer knackigen Steigung verlässt man das Meer wieder | David Watts (140) kennt die Gegend aus mehreren Urlauben |
Auch aufgrund der – natürlich bewusst gewählten – vielen Konsonanten ist es für Engländer nahezu unmöglich, den Namen heraus zu bekommen. Und selbst unter Berücksichtigung der Tatsache, dass „w“ wie ein langes „u“ gesprochen wird, wodurch Worte wie „Cwm“, was „Tal“ bedeutet, auf den ersten Blick ganz ohne Vokale auskommen, muss man sich schon fast einen Knoten in die Zunge machen. Angeblich nennen viele das Dorf deshalb am liebsten schlicht „Gogogoch“.
Selbst ins Deutsche übersetzt wird es kaum einfacher und zudem auch noch länger. „Marienkirche in einer Mulde weißer Haseln in der Nähe eines schnellen Wirbels und in der Gegend der Thysiliokirche, die bei einer roten Höhle liegt“ bedeutet das Endloswort nämlich ziemlich sinnentleert. Croeso i Cymru.
In der Länge übertroffen wird es allerdings noch von der Bezeichnung eines kleinen Berges in Neuseeland. Dessen aus der Maori-Sprache stammender Name hat nämlich sogar 85 aufeinander folgende Buchstaben. Und er besteht ganz anders als das walisische Gegenstück hauptsächlich aus Vokalen, die im Maori wie in allen polynesischen Sprachen absolut dominieren.
Kurz hinter Llanfaelog – es geht immer noch leicht bergab – kommt das Meer in Sicht. Die Läufer sind an der Südwestküste von Anglesey, die dem Kurs für die nächsten Meilen nun die Orientierung geben wird, angekommen. Ein paar Autos von Ausflüglern, die ihnen zuvor gekommen sind, stehen schon auf den Parkplätzen, von denen man an die immer wieder durch Felsen voneinander getrennten kleinen Strände gelangen kann.
Gleich an zwei kleinen Buchten führt der Marathon vorbei, die mit ihrem von Klippen begrenzten hellen Sand zum Baden einzuladen scheinen. Sie würden es zumindest tun, wäre das Wasser der Irischen See nicht so kalt. Denn sogar die Höchstwerte im August bleiben meist deutlich unter der Marke von zwanzig Grad. Strandurlauber kann man angesichts solcher Temperaturen wohl kaum in Scharen nach Wales locken. Da spricht man dann doch eher ein anderes Publikum an.
Selbst wenn die Straße dem Küstenverlauf folgen wird, so nahe kommt sie anschließend nicht mehr am offenen Meer vorbei. Und nur kurz hinter der letzten Bucht dreht sie nicht nur wieder etwas ins Landesinnere ab sondern beginnt auch wieder spürbar zu steigen. Es ist diesmal auch keine kleine Welle mehr, eher einer jener Ausschläge, die im Höhendiagramm deutlich eingezeichnet sind. Dreißig, vierzig Meter gewinnt man innerhalb einer halben Meile, nur um nach einigen weiteren kleineren Hügeln bald darauf erneut fast auf Meeresniveau herab zu fallen.
Der noch immer bekannteste walisische Marathonläufer hat da früher ganz andere Strecken bevorzugt. In den Achtzigern gewann Steve Jones nämlich mehrfach auf den als topfeben bekannten Kursen von London und Chicago. Ein halbes Jahr lang war er mit seiner beim ersten Sieg in der amerikanischen Metropole am Michigansee erzielten 2:08:05 sogar Inhaber des Weltrekordes, auch wenn man das bei der IAAF zur damaligen Zeit noch halbherzig Weltbestzeit nannte.
Doch während Jones im Frühjahr 1985 in London seine Leistung durch eine 2:08:16 bestätigte, lieferte Carlos Lopes am gleichen Wochenende in Rotterdam eine 2:07:12 ab und holte den Rekord als letzter Europäer noch einmal für drei Jahre nach Portugal. Der Versuch des Walisers, ihn zurück zu erobern, scheiterte trotz seines zweiten Erfolgs in der Windy City denkbar knapp. Genau eine Sekunde war er langsamer. Fast noch höher zu bewerten ist allerdings die 2:08:20, die Jones drei Jahre später bei seinem Erfolg in New York erzielte.
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Das Dörfchen Aberffraw war einst Hauptstadt eines Königreiches | Hinter Aberffraw verläuft die Straße durch die Dünen |
Seine 2:07:13 steht allerdings selbst nach fast einem Vierteljahrhundert noch immer als britischer – und selbstverständlich auch walisischer – Rekord. Und inzwischen scheint sie unantastbarer als je zuvor. Denn in den letzten Jahren kam kein Läufer im Königreich auch nur annähernd an diese Leistung heran. Da unterscheidet sich die Entwicklung auf der Insel wenig von der hierzulande. Als letzter Brite unterbot der ebenfalls in Wales geborene, inzwischen aber in Kanada lebende und für seine neue Heimat startende Jon Brown im Jahr 2005 die Marke von 2:10.
Viel typischer als „Jones“ hätte der gute Steve als Waliser auch gar nicht heißen können. Denn das ist mit Abstand der häufigste Nachname im Lande des roten Drachen. Rund ein Zehntel aller Einwohner trägt ihn. Selbst im gesamten Königreich ist nur „Smith“ noch öfter anzutreffen. Und er ist absolut walisischen Ursprungs. Wenn man also irgendwo einem Jones begegnet, kann man mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit von Wurzeln in Cymru ausgehen.
Abzuleiten ist er vom Johann oder Johannes entsprechenden walisischen Vornamen Ieuan. Das angehängte „s“ ergänzt noch die Bedeutung „Sohn von...“. Ein in Nordeuropa weit verbreitetes Verfahren zur Bildung von Nachnamen. Und nahezu überall ist es auch der gleiche Vorname des Vaters, der – in der Schreibweise der jeweiligen Sprache – bei der Häufigkeitsbetrachtung in Führung liegt.
So ist in Schweden „Johansson“ mit weitem Abstand vorne. Und auf der anderen Seite der skandinavischen Grenze in Norwegen liegt „Hansen“ vor „Johansen“ in der Rangliste. Nimmt man „Jansen“ und „Janssen“ zusammen, gibt es auch in den Niederlanden keinen Familiennamen, der öfter vorkommt. Und in Dänemark schafft es „Hansen“ immerhin auf Platz drei. Nur im deutschsprachigen Raum hat man es eher mit Berufen wie „Müller“ und „Schmidt“.
Eigentlich könnte man auch „Jones“ im Vereinigten Königreich als führend bezeichnen. Denn nur wenige Plätze dahinter findet sich „Evans“ in der Auflistung der meistverbreiteten Namen. Was im ersten Moment so gar nicht schlüssig aussieht, ergibt auf den zweiten Blick ein ganz anderes Bild. Auch Evans leitet sich nämlich von Ieuan ab und bedeutet ursprünglich genau das Gleiche wie Jones. Im Laufe der Zeit sind einfach nur die Schreibweisen immer weiter auseinander gedriftet.
„Araf“ steht auf der Straße, als es nach Aberffrah hinein geht. Dieses Wort liest man in Wales nahezu ständig auf dem Asphalt. An Ortseinfahrten, vor Kurven und in Gefällestücke. Da es stets in Kombination mit dem englischen „Slow“ daher kommt, erschließt sich der Sinn selbst einem des Walisischen nicht mächtigen Autofahrers recht schnell.
Auch ein paar andere Brocken kann man sich aus der Landessprache aneignen. So gibt es neben „Llan“ und „Llyn“ noch weitere Vorsilben, mit denen geographische Namen in Cymru beginnen. „Craig“ ist so eine. Sie bedeutet „Felsen, Stein“. Oder „Rhaeadr“, was man mit „Wasserfall“ übersetzt. Und „Capel“, „Pont“ und „Porth“ kann man sogar ansehen, dass sie von den Wales mehrere Jahrhunderte beherrschenden Römern den Kelten als Lehnworte aus dem Lateinischen überlassen wurden.
„Aber“ ist ebenfalls eine jener klassischen Bestandteile. Und vielleicht sogar neben „Llan“ am meisten anzutreffen. Es heißt „Mündung“ und ist wie das Beispiel Aberdeen belegt auch in anderen – zumindest früher – keltischen Gebieten wie in diesem Falle „Alba“ im Norden der Insel durchaus einmal verbreitet. Diese haben sich als sogenannte keltische Nationen in politischen und kulturellen Organisationen zusammen geschlossen.
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Llangadwaladr ist noch kleiner Aberffraw | Nicholas Fraser (der Läufer mit der Schirmmütze) hat nicht nur Spaß am laufen sondern spricht außer Englisch auch noch Walisisch und Deutsch |
Neben Cymru und Alba gehören auch noch Éire, Breizh, Kernow und Mannin dazu. Zur leichteren Verständlichkeit seien auch die im Deutschen üblicheren Begriffe Irland, Bretagne, Cornwall und Isle of Man genannt. Die Zugehörigkeit von Galizien und Asturien in Spanien, wo es ebenfalls keltische Traditionen gibt, die insbesondere bei der dortigen Musik deutlich werden, in der man unter anderem Dudelsäcke verwendet, ist dagegen heftig umstritten. Aufgrund der nicht mehr belegbaren keltischen Sprache wurde sie bisher immer verneint.
Eine interessante Duplizität ist, dass der spanische Thronfolger genauso den Titel „Príncipe de Asturias“ trägt wie der britische den eines „Prince of Wales“. Und in beiden Fällen wird das durch die Regenbogenpresse ins Deutsche oft fälschlich als „Prinz“ übersetzt. Die Doppelbedeutung des Wortes „Prince“ ist vielen nämlich nicht klar.
Eigentlich ist Charles Windsor nämlich zwar ein ewiger Kronprinz jedoch korrekt und offiziell der „Fürst von Wales“. Seit dem späten Mittelalter, als der englische König Edward I den letzten walisischen Träger dieser Bezeichnung unterwarf und das Land endgültig eroberte, wird er regelmäßig dem ältesten Sohn der Monarchen verliehen. Und zwar wirklich nur einem männlichen Thronfolger. Charles’ Mutter Elizabeth II war dagegen auch als Prinzessein nie die „Fürstin von Wales“.
Aberffraw, an dem man nach zehn Rennmeilen eher vorbei als hindurch läuft, liegt also an der Mündung des River Ffraw. Heutzutage nur noch ein kleines Örtchen war es einst, im frühen Mittelalter einmal die Hauptstadt des Königreichs Gwynedd im Nordwesten von Wales. Unter Llywelyn aus dem Herrscherhaus von Aberffraw, dem man später den Beinamen „der Große“ verlieh, wurde Wales weitgehend geeint. Und sein Enkel Llywelyn der Letzte – den ungewöhnlichen Beinamen hat er in der Geschichtsschreibung tatsächlich – war eben jener Fürst von Wales, der den Titel nach langen Kämpfen, die in einer vernichtenden Niederlage endeten, an Edward verlor.
Den Fluss Ffraw, der eigentlich nur ein Bach ist, überquert man, noch bevor er sich zu einem breiten Mündungstrichter erweitern kann, ein Stück entfernt vom Meer. Dennoch hat die Gegend sehr wohl etwas ziemlich maritimes. Denn die nächste Meile läuft man zwischen Dünen hinüber ins noch kleinere Dorf Llangadwaladr. Eine ausnahmsweise einmal etwas flachere Passage. Doch schon ins benachbarte Hermon muss man wieder ein wenig klettern.
Bis dahin haben die Marathonis dann aber nicht einmal eine Meile. Denn obwohl gerade Nordwales recht dünn besiedelt ist, gibt es trotzdem keine richtig unbewohnten Gegenden, keine echte Weite. Nie fährt man wirklich lange über Land, sondern trifft in kurzen Abständen immer wieder auf kleine Dörfer, in denen man mit einem Croeso-Schild begrüßt wird. Diese bestehen dann aber oft aus wenig mehr als ein oder zwei Dutzend Häusern. Hermon ist auch kaum größer.
Die Strecke bleibt auch auf dem Weg nach Malltraeth weiter wellig, selbst wenn sie zum Ort des Halbmarathonstarts hauptsächlich hügelab führt. Der liegt nämlich wieder auf Meereshöhe, was das Rennen über 13,1 Meilen zu einem kleinen, wenn auch nicht wirklich ernstzunehmenden Berglauf macht. Denn das Ziel findet sich ja fast einhundert Meter höher.
Ein beträchtlicher Teil der Halbmarathonis ist längst im Ziel, als sich die ersten Läufer der langen Distanz Malltraeth nähern. Als erster läuft Jonathan Bridge auf das Ausstellungsgelände. In angesichts des Höhenprofils durchaus beachtlichen 1:18:07 wird der M40er – die Einteilung der „Veterans“ entspricht mit Fünferschritten dem auch hierzulande bekannten Schema – von den Blackburn Harriers gestoppt.
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Auch die Eisenbahn wird zweimal vom Marathonkurs überquert | Auf dem Rückweg geht es ständig auf und ab ... | ... doch dafür entlohnt die Aussicht |
Auch David Townsend bleibt als Zweiter insgesamt und in der M40 mit 1:19:39 noch unter achtzig Minuten. Glyn Kay als Gewinner der niedrigsten Altersklasse M35 lässt sich in 1:23:22 dann schon fast vier Minuten mehr Zeit und hat eher geringen Vorsprung vor dem schon über Fünfzigjährigen Adrian Harris, für den 1:23:43 notiert werden.
Sind bei den Männern auch die Veteranen vorne, gewinnt bei den Damen, die fast die Hälfte des Feldes ausmachen, dafür mit Jenny Brierley von der Bangor University nach 1:33:21 eine Athletin aus der Hauptklasse, die bei „Athletics UK“, dem britischen Leichathletikverband als „Seniors“ bezeichnet wird. Auf den Rängen zwei und drei folgen durch Joanne Haslam (1:39:01) und Amanda Musgrave-Wood (1:42:28) jedoch wieder zwei Läuferinnen aus der Klasse über fünfunddreißig Jahre.
Dennoch sind überraschend viele jüngere Teilnehmer am Start. Gerade bei den Frauen ist der Anteil mit fast fünfzig Prozent angesichts der Verhältnisse hierzulande, bei denen gerade während kleinerer Volksläufe einige Treppchenlätze in den Hauptklassen mangels Beteiligung oft unbesetzt bleiben müssen, beinahe schon sensationell. Über zehn Kilometer – wo übrigens genau die Hälfte des Feldes weiblich ist – sieht die Verteilung kaum anders aus. Erst auf der langen Strecke sind dann doch wieder ein paar Veteranen mehr unterwegs.
Eher schwach fallen die Zeiten beim Zehner aus. Gerade einmal 37:12 reichen Mark Williams zum Sieg vor Lee Morris (38:08) und dem 38:43 benötigenden Christopher Evans. Nur noch zwei weitere Läufer kommen ins Ziel bevor die erste Ziffer der Zieluhr auf eine vier springt. Die Ergebnisse bei den Damen sind auch nicht wirklich besser. Anna Bracegirdle (42:42) vor Catherine Tudor Jones (45:41) und Linda Clarkson (46:50) lautet hier die Reihenfolge.
Die Zweite trägt übrigens nicht nur den Allerweltsnamen „Jones“ sondern auch den Nachnamen einer vielleicht gar nicht einmal so bekannten, aber für die Geschichte von England und Wales ziemlich wichtigen Persönlichkeit, die auf Anglesey geboren wurde. Owen Meredith Tudor – oder auf Walisisch Owain ap Maredudd ap Tudur - stieg in den Rosenkriegen um den englischen Thron zwischen den Häusern Lancaster und York nicht nur zum wichtigen Feldherrn auf, sondern heiratete auch in die Königsfamilie ein.
Mit seinem Enkel beginnt eine Herrscherdynastie, deren bekannteste Monarchen Heinrich VIII und seine Tochter Elizabeth sind. Auch wenn die Regentschaft der Tudors mit der kinderlosen ersten Elizabeth endete und auf die Stuarts überging, in der weiblichen Linie waren auch diese Nachkommen des Walisers. Und noch die heutige Königsfamilie zählt ihn zu ihren – allerdings doch schon etwas entfernten – Vorfahren.
Die zweite Marathonhälfte beginnt mit einem weiten Bogen, den das Aspahltband um die flache Bucht schlägt, in die Irische See das Afon Cefni genannten Flüsschen aufnimmt. Eine teils sandige, teils schilfbewachsene, manchmal fast lagunenartige Fläche irgendwo im Grenzbereich zwischen Land und Meer. Sie ist das Überbleibsel einer wesentlich größeren Bucht, der man durch einen Damm, hinter dem die Straße ein ganzes Stück lang verläuft, neuen Boden abgetrotzt hat.
Und so wirkt die Landschaft auf der anderen Seite nicht ganz ohne Grund ein wenig wie das Marschland an den Nordseedeichen. Der Anglesey Marathon zeigt einen durchaus breiten Querschnitt der Insel. Vielleicht ist das nicht unbedingt absolut spektakulär, aber aufgrund des ständigen Wechsels wird es dennoch eben nie langweilig. Croeso i Cymru.
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Bei Meile zwanzig wartet erneut ein deftiger Anstieg | Schöne Aussicht auf den letzten Kilometern |
Wieder etwas Neues ist zum Beispiel auch das Wäldchen, in dem der Marathonkurs verschwindet, nachdem er die Bucht verlassen hat. Viele davon gibt es auf Môn eigentlich nicht. Meist herrscht offenes, gelegentlich auch mit einigen Felsen durchsetztes Weideland vor. „Coed“ heißen solche Waldgebiete auf Walisisch. Auch eine Vokabel, die man irgendwann versteht und sich merkt, wenn man oft genug an Schildern mit der entsprechenden Aufschrift vorbei gekommen ist.
Noch etwas anderes zeigt die Tafel am Straßen- und Waldrand an. Dies sei ein „Red Squirrel Woodland“. Im ersten Moment erscheint es vollkommen normal, dass in einem solchen Gelände auch rote Eichhörnchen – denn nichts anderes ist ein „Red Squirrel“ – leben. Doch ganz so alltäglich ist die Begegnung mit dieser Art auf der Insel eben doch nicht mehr.
Denn dem drolligen Gesellen hat anderswo das zugewanderte Grauhörnchen ziemlich heftig zugesetzt. Diese wesentlich robustere und weniger scheue Art mit nordamerikanischer Vergangenheit bewegt sich in ähnlichen Lebensräumen wie die ortsansässige Variante. Beim direkten Aufeinandertreffen der beiden wurde das Eichhörnchen dabei nach kurzer Zeit völlig an den Rand gedrängt und konnte sich nur noch mit dem Ausweichen in schützende Nischen vor dem völligen Untergang retten.
Nadelwälder wie der gerade durchlaufene zählen dazu. Am besten noch weit abgelegen und möglichst menschenleer. Wales ist da durchaus geeignet. Und so lässt sich bei der Fahrt durchs Land schon gelegentlich jenes Schild entdecken, auf dem neben der englischsprachigen Formulierung auch mit dem walisischen „Coedwig Gwiwer Goch“ diese Rückzugsgebiete angezeigt werden.
Niwbwrch heißt die nächste Ortschaft. Oder auch Newborough. Denn sie hat sowohl einen walisischen wie auch einen englischen Namen. Während man das weiter südlich ziemlich häufig antrifft, ist das auf Anglesey wie in allen nördlichen und westlichen Regionen von Cymru eher unüblich. Was unter anderem daran liegt, dass das Walisische noch einen ziemlich hohen Anteil hat.
Zwei Drittel bis maximal sogar drei Viertel der Bevölkerung nutzen auf Môn das Keltische als Umgangssprache. Und nahezu jeder versteht es zumindest. Dennoch beherrschen natürlich praktisch alle auch fließend Englisch, so dass es keinerlei Verständigungsprobleme gibt. Eigentlich sogar weniger als in anderen Gegenden der Insel. Denn vielleicht gerade, weil Englisch für viele in Nordwales eigentlich eine Art Fremdsprache ist, wird es meist relativ klar und deutlich gesprochen.
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Laufen mit den Snowdonia Bergen im Rücken | Der lange Lauf und das weite Land |
Das ist bei Anthony McGee dann doch ein wenig anders. Der redet nämlich in einem ziemlich breiten Liverpooler Dialekt, bei dem man manchmal doch noch einmal nachhaken muss, was denn da gerade gemeint war. Der Mann aus der Mersey-Stadt erzählt, dass er auf Anglesey seinen ersten Marathon läuft. Mit Mitte vierzig wäre es wohl doch an der Zeit so etwas endlich zu machen.
Auch wenn der große Boom der Bewegung „von 0 auf 42“ vorbei ist, es gibt sie also doch noch, die Einmal-im-Leben-Marathonis, die vor einigen Jahren hierzulande die Zahl von Teilnehmern und Veranstaltungen nach oben getrieben hatten und deren Wegbrechen jetzt so machen Lauf ziemlich zu schaffen macht. Zumindest im Vereinigten Königreich. Ob er noch einmal diese Distanz in Angriff nehmen wird, darauf will sich McGee nicht festlegen lassen. Immerhin kommt er in 3:54 mit einigermaßen konstanter Renneinteilung ganz gut durch.
Vielleicht tritt er ja doch noch einmal zu einem Marathon an, wenn in seiner Heimatstadt die für 2010 ins Auge gefasste Veranstaltung tatsächlich stattfinden sollte. Liverpool hat wie viele andere britische Großstädte bisher nämlich keinen eigenen Lauf über die klassische Distanz. Selbst Birmingham, immerhin die zweitgrößte Metropole im Königreich und Glasgow, die Nummer drei, liegen in dieser Hinsicht ziemlich brach.
Auch Leeds und Sheffield, zwei weitere Städte mit jeweils einer halben Million Einwohner können nichts in dieser Hinsicht bieten. Einen Manchester Marathon gibt es zwar. Doch wird der nicht in „Manchester, England, UK“ sondern in „Manchester, New Hampshire, USA“ auf der anderen Seite des großen Teichs gelaufen. Von den zehn größten Gemeinden des Königreiches beherbergen jedenfalls neben London nur noch Edinburgh und Leicester – sowie eventuell demnächst Liverpool – ein solches Rennen innerhalb ihren Grenzen.
Der übermächtige Hauptstadtmarathon erdrückt auf der Insel nahezu alles. Und die anderen Veranstaltungen, meist in Mittelstädten oder über Land ausgetragen, sind schon froh, wenn sie in die Nähe vierstelliger Zahlen kommen. Es gibt nicht nur am Mersey sondern unter anderem auch in Brighton Ansätze für neue Läufe. Doch dafür brechen andere weg. Der einzige Stadtmarathon in Wales, der von Cardiff, hat aufgegeben und beschränkt sich zum Beispiel nur noch auf die Halbdistanz.
Auch deshalb läuft McGee eben den Anglesey Marathon, zu dem er von seiner Heimatstadt aus nur ungefähr zwei Stunden mit dem Auto benötigt. Ob er sich über den Jungen im Trikot des FC Liverpool freuen kann, der wenig später vom Straßenrand die Läufer abklatscht? Immerhin gäbe es da ja auch noch den Lokalrivalen Everton, dem Anthony die Daumen drücken könnte.
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Eine lange Gerade führt die letzte Meile hinauf | Laufen mit den Snowdonia Bergen im Rücken |
Dass in Wales die englischen Vereinsmannschaften größere Popularität genießen als die einheimischen, ist so ungewöhnlich nicht. Selbst in der obersten walisischen Spielklasse sind schließlich maximal Halbprofis aktiv. Und die wichtigsten Teams des Landes aus Cardiff, Swansea und Wrexham nehmen zudem am englischen Profibetrieb teil. Zwar nicht in der Premier League, aber immerhin in den darunter existierenden Ligen.
Auch dabei ist die Abgrenzung von Land, Staat und Nation tatsächlich ein bisschen komplizierter als anderswo. Auch hier verschwimmen die Grenzen. Zumal es angesichts eines gemeinsamen Passes hauptsächlich von der Einstellung der Spieler abhängt, für welches Home Country sie denn international aktiv sein möchten. So mancher walisische Fußball-Nationalspieler ist dann auch in England aufgewachsen und hat bisher nur für englische Clubs gegen den Ball getreten.
Inzwischen tauchen die „Drink Stations“, die am Anfang doch etwas weiter auseinander gezogen waren, fast im Meilenabstand vor den Läufern auf. Insgesamt elf gibt es davon auf der Strecke. Wie ihr Name schon sagt, bieten sie wirklich nur Getränke und keinerlei Obst oder ähnliches. Doch immerhin schwappt da neben Wasser auch ein süßliches Elektrolytgetränk in den Bechern der freundlichen Helfer in ihren knallgelben Signalwesten.
Mit einem Linksschwenk verabschiedet sich der Marathonkurs in Niwbwrch von der Küstenstraße und dreht kurz vor der Südostspitze der Insel wieder ins Landesinnere. Wäre man noch ein kleines Stück geradeaus gelaufen, hätte man auf der gegenüberliegenden Seite der Menai Straits höchstwahrscheinlich schon Caernarfon Castle erkennen können, das die Einfahrt in die Seestraße zwischen Ynys Môn und dem Festland bewacht.
Wobei das „Castle“ eigentlich völlig unnötig wäre, denn das walisische „Caer“ – auch eine in Cymru durchaus übliche Vorsilbe in Ortsbezeichnungen – bedeutet nichts anderes als „Burg“. Aber da sie auch der um sie herum entstandenen Stadt ihren Namen gab, können es Sprachpuristen vielleicht gerade noch einmal durchgehen lassen.
Jedenfalls gehört die Festungsanlage zu den größten und besterhaltenen der nicht gerade wenigen Burgen in Wales. Wie das – allerdings nie völlig fertig gestellte – Beaumaris Castle, das auf der Inselseite den nordöstlichen Zugang zur Meerenge bewacht, wird es zu den sogenannten Edwardianischen Burgen gerechnet, die Edward I um 1300 überall in Wales errichten ließ, um die gerade beendete Eroberung des Landes militärisch abzusichern.
Sein Sohn Edward II, der erste englische Thronfolger mit dem Titel „Prince of Wales“ kam angeblich sogar in Caernarfon zur Welt. Eine nur schwer nachzuprüfende Legende behauptet auch, sein Vater habe ihn den Walisern kurz darauf als neuen Fürsten damit angepriesen, dass er in Wales geboren sei und kein Wort Englisch sprechen würde. Charles, der jetzige Träger der Bezeichnung, wurde immerhin in dieser Burg inthronisiert.
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Die letzte Meile | Läufer auf kurvigen Straßen |
Die Piste fängt nun, da noch knappe zehn Meilen zu bewältigen sind, langsam an zu steigen, um sich vorsichtig wieder der Höhe des Start-Ziel-Bereiches zu nähern. Das Meeresniveau haben die Marathonis endgültig hinter sich gelassen. Doch noch ist der Anstieg recht moderat und gleichmäßig.
Schon länger konnte man die Berge des Snowdonia Nationalparks am Horizont erkennen, war ihnen regelrecht entgegen gelaufen. Jetzt begleiten sie auf der rechten Seite zum Greifen nahe das Marathonfeld den Hang hinauf. Gerade einmal ein Dutzend Kilometer Luftlinie sind es bis zu ihnen. Mehr oder weniger direkt hinter den Menai Straits beginnen sie bis zu tausend Meter in die Höhe zu wachsen.
Der höchste von ihnen, der Snowdon, endet bei 1085 Metern über dem gar nicht so weit entfernten Meer und ist damit zufällig genauso hoch wie der Kapstädter Tafelberg. Noch weiter nach oben gelangt man ohne Fluggerät weder in Wales noch in England. Was die Waliser nun wirklich überhaupt nicht stört, haben sie doch hier etwas, gegen das die Nachbarn einfach nicht ankommen können. Croeso i Cymru.
Nicht anderes als „Schneeberg“ bedeutet sein Name. Und zwar diesmal nicht auf Walisisch sondern in mittelalterlichem Angelsächsisch. Falsch ist diese Bezeichnung jedenfalls nicht. Denn auf ihm kann es sehr wohl empfindlich kalt werden. Nebel, Regen, Wind und eben auch Schnee sind alles andere als unüblich.
Trotz einer eher moderaten Höhe hat der Gebirgszug viel von einem Hochgebirge. Kahl, felsig, rau und unwegsam sind diese Berge. „Rugged“ kann das der Anglophone in einem einzigen Wort ausdrücken. Eine Wanderung in ihnen erinnert jedenfalls doch schon ziemlich an eine Tour in den Alpen. Und auch die altmodische Zahnradbahn, die auf den Gipfel des Snowdon schnauft, könnte man sich sehr gut irgendwo in der Schweiz, wo es ziemlich ähnliches gibt, vorstellen.
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Feldsteinmauern begleiten die Läufer über kurvige Straßen |
Ein halbes Dutzend Routen führen von verschiedenen Parkplätzen in der Umgebung zum höchsten Punkt von Wales hinauf. Ein Spaziergang ist keine von ihnen. Vielleicht sollte man Leuten, die Berge solcher Größe nur spöttisch als Hügel bezeichnen, einmal die Besteigung dieses Gipfels nahe legen. Es könnte sein, dass sie anschließend doch ein wenig anderer Meinung sind.
Angeblich hat ja sogar das britische Himalaya-Team, das 1953 mit dem Neuseeländer Edmund Hillary und dem Sherpa Tenzing Norgay erstmals den Gipfel des Mount Everest erreichte, in dieser Gegend trainiert. Die dünne Luft, die sie dann auf dem Dach der Welt erwartete, dürften sie allerdings kaum simuliert haben können. Ganz unpassend war der Ort jedoch in keinem Fall. Denn jener George Everest, nach dem die höchste Erhebung der Erde benannt ist, wurde in Wales geboren.
Nun bedeutet „Nationalpark“ im Gegensatz zu anderen Weltregionen wie oft in Mitteleuropa auch in Wales nicht völlig unwegsame Wildnis. In den drei walisischen Parks liegen sogar etliche Dörfer und leben insgesamt Zehntausende von Menschen. Einige Teile der Gegend werden sehr wohl landwirtschaftlich genutzt. Und die überall weidenden Schafe wird man auf einer Wanderung kaum übersehen können. Dennoch hat die Region etwas Urwüchsiges. Auch der Schneeberg mit seinem schon etwas zerfurchterem Äußeren ist eigentlich recht zugänglich. Im Herzen aber ist er dennoch einsam und ziemlich unerschlossen.
Läuferisch kann man sich davon ebenfalls einen Eindruck verschaffen. Denn die rund um den Berg führenden Straßen ergeben bei genauer Betrachtung einen Ring von etwas mehr als jenen 26,2 Meilen, die im Königreich den kontinentaleuropäischen 42,195 Kilometern entsprechen. Was lag also näher, als darauf einen Marathon auszutragen. Jedes Jahr Ende Oktober wird er in Llanberis, jenem Örtchen, in dem man auch die Talstation der Bergbahn findet, gestartet.
Es ist neben Anglesey der einzige Straßenlauf über diese Distanz in Wales. Nur auf dem Küstenpfad im Süden gibt es an unterschiedlichen Stellen noch zwei weitere Veranstaltungen in der Geländevariante während der sogenannten „Coastal Trail Series“. Und der Eryri Marathon, wie er nach dem „Adlerhorst“ bedeutenden walisischen Namen des Nationalparks in der keltischen Sprache heißt, ist mit weit über tausend Teilnehmern auch der größere von beiden. Trotz oder gerade wegen einer noch wesentlich anspruchsvolleren Streckenführung, die allerdings zum Teil eben auch richtig spektakulär ist.
Hinter Llangaffo – natürlich wieder mit Kirche – wird das Auf und Ab heftiger, wechseln sich Anstiege und Gefälle in kurzen Abständen ab. Der Gedanke an eine Achterbahnfahrt kommt auf. Die Brücke, auf der man zum zweiten Mal die Bahnlinie nach Holyhead überquert, liegt zum Beispiel in einer Senke. Die Gleise selbst führen allerdings noch ein ganzes Stück tiefer in Richtung Fährhafen.
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Eine lange Gerade führt die letzte Meile hinauf | Hinein auf den Showground | Einbiegen auf die Zielgerade |
Diese Route wird deshalb sogar recht häufig befahren. Doch auch und gerade im Königreich wurde der Schienenverkehr immer mehr ausgedünnt, hat man in den letzten Jahrzehnten etliche unrentable Strecken stillgelegt. Und nach einem völlig missglückten Privatisierungsversuch gilt zudem das Schienennetz als ziemlich marode. Inzwischen hat eine ausdrücklich nicht auf Gewinnmaximierung ausgelegte öffentlich-rechtliche Gesellschaft zumindest wieder die Infrastruktur der britischen Bahnen übernommen.
Wales ist aber dennoch ein Land für Eisenbahnfreunde. Nicht nur weil die walisische Nationalversammlung inzwischen die Wiedereröffnung einiger bereits geschlossener Linien durchgesetzt hat. Doch neben der Snowdonbahn gibt es rund ein Dutzend weitere Schmalspur- Museums- und Dampfbahnen mit zum Teil recht beachtlichen Streckennetzen.
Eine ruppige Rampe in der Nähe der Zwanzig-Meilen-Marke lässt manche Marathonis in den Gehschritt verfallen. Doch dahinter fällt die Straße in ähnlichen Prozentzahlen steil und noch wesentlich länger nach Pentre Berw hinein. Mit dem Dörfchen erreicht man auch wieder jene A5, die nun zurück zu den Showgrounds führt. Dreieinhalb Seiten des Vierecks sind abgelaufen. Der Rest geht mehr oder wenige geradewegs in Richtung Ziel.
Nicht nur an der früheren Hauptverbindungsstraße liegt Pentre Berw. Auch eine – inzwischen ebenfalls stillgelegte – Bahnlinie hielt hier einst. Doch die Station hieß nicht wie der Ort sondern nach dem Holland Arms Inn, einem bekannten Hotel und Pub, den man kurz nach dem Einbiegen vorbeikommt. Ein paar Besucher haben es sich angesichts des guten Wetters – sowie des in Wales recht strikten Rauchverbotes in allen öffentlich zugänglichen Gebäuden – im Hof bequem gemacht und schauen den Marathonis zu.
Das Holland Arms ist ein durchaus typisches Hotel zumindest für den Norden von Cymru. Denn moderne Neubauten sind ziemlich selten. Oft, ja sogar meist handelt es sich bei den Übernachtungsstätten um traditionsreiche, zum Teil Jahrhunderte alte Gasthäuser. Obwohl mit durchaus gutem Standard verleihen ihnen knarrende Holzböden, schiefe Treppen und verwinkelte Gänge etwas ziemlich uriges.
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Eine Zielgerade mit Fernblick |
Doch obwohl Wales nicht England ist, ähnelt sich die Ess- und Trinkkultur ziemlich. Ein „walisisches Frühstück“, wie es in Hotels à la Holland Arms angeboten wird, sieht jedenfalls nicht im geringsten anders aus als ein englisches. Und mit Speck, Eiern, Würstchen und roten Bohnen wirkt es nicht für jeden kontinentaleuropäischen Magen wirklich erstrebenswert. Die überall zu findenden Imbissbuden für Fish and Chips oder die Hot Dog Stände auf den Parkplätzen der Überlandstraßen sind kulinarisch eher wenig herausragend und innovativ.
Auch hinter Pentre Berw gehen die gerade vor kurzem mühsam erarbeiteten Höhenmeter erst einmal wieder verloren. Auf drei Kilometern über fünfzig davon. Noch eine volle Meile kann man es weiter rollen lassen. Eine lange Gerade durch freies Gelände erlaubt jedoch den wenig verlockenden Blick auf die anschließende Steigung. In der Nähe der Tafel mit der „22“ ist dann endgültig Schluss mit lustig. Bis zum Ziel wird es ab jetzt weitgehend bergauf gehen.
Wenig begeistert darüber ist David Watts, denn die von ihm eigentlich angestrebten vier Stunden entschwinden in weite Ferne. Und auf den restlichen Meilen wird er noch hinter einigen Kurven statt der erhofften Flachstücke – mal enttäuscht, mal mit einem kleinen Fluch auf den Lippen – weitere Hügel entdecken müssen. Dabei kennt er die Gegend eigentlich auch ganz gut.
Er stammt zwar aus Wrexham in der Nähe der englischen Grenze. Doch hat er als guter Waliser mit seiner Familie schon ein paar Mal auf Anglesey Urlaub gemacht. Meist bei eher schlechtem Wetter, wie er anmerkt und damit die Äußerungen von Nicholas Fraser noch einmal bestätigt. So schön habe er die Bedingungen auf Môn nicht sehr oft erlebt.
Eigentlich sieht er sich eher als Halbmarathon-Spezialisten. Doch ein paar Marathons hat er auch schon in den Beinen. Unter anderem steht London auf seiner Liste. Die gute, nahezu perfekte Organisation in der Hauptstadt und das dichtgedrängte Publikum findet er durchaus erwähnenswert. Doch gegen die dortigen Läufermassen ist die kleine, familiäre Veranstaltung auf Anglesey für ihn ein interessantes Kontrastprogramm. Was ihm besser gefällt, kann er gar nicht sagen. „It’ s different“.
An einer aus zwei großen Kreiseln bestehenden Auffahrt wird die A55 erneut überquert. Und hier stehen auch ausnahmsweise einmal ein paar Polizisten zur Verkehrsregelung. „Heddlu“ steht neben dem „Police“ auf ihrem Auto und ihren knallgelben Sicherheitswesten. Wie schon ein paar Mal gesagt, Wales ist zweisprachig und eben nicht England.
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Vereinzelt kommen die Marathonis ins Ziel | Getränke sind im Ziel gefragt - Wärmefolien eher nicht |
Statt einer langen Geraden wird es auf der vorletzten Meile noch einmal etwas schlenkrig. Auch einige Baumgruppen, Hecken und ein paar mitten auf den Wiesen aufragende Felsen sorgen für etwas Abwechslung und machen die Steigung erträglicher. Doch hinter der letzten Drink Station, an der nicht nur freundliche Helferinnen sondern auch ein Doppeldeckerbus an der Strecke stehen, sieht man etwas weiter oben die geparkten Autos im Sonnelicht blinken. Dahinter ist das Ziel. Und das wird man nun nicht mehr aus den Augen verlieren.
An ihnen vorbei muss man sogar, denn der Parkplatz, dessen Ausfahrt von zwei Mitarbeitern einer Sicherheitsfirma überwacht wird, liegt noch vor dem Showground-Eingang. Auch wenn er mit seiner stämmigen Statur überhaupt nicht so aussieht, berichtet einer von ihnen, auch er habe bereits Marathonerfahrung.
Beim Vereinigungslauf 1990 in Berlin sei er dabei gewesen, als er bei der British Army in Deutschland stationiert war. Das hätte angesichts der historischen Bedeutung dieses Marathons einfach sein müssen. Er habe sogar zwei Medaillen, denn er habe sich beim Austeilen einfach doppelt angestellt. Schließlich hätte er ja auch zwei Kinder, grinst er verschmitzt. So hätte es wenigsten keinen Streit gegeben. Was interessieren da noch die Zeiten.
Das sieht Paul Harper vielleicht doch etwas anders. Denn mit einer angesichts der schweren Strecke ziemlich bemerkenswerten 2:45:19 gewinnt er den Marathon mit riesigem Vorsprung. Volle zwölf Minuten hätte er sich länger Zeit lassen können, denn Richard Webster folgt als Zweiter erst nach 2:57:34. Nur Dan Oliver gelingt es mit 2:59:21 noch die drei Stunden zu unterbieten. Doch spannend ist der Einlauf trotzdem. Danach geht es nämlich Schlag auf Schlag. Innerhalb einer einzigen Minute bringen Jeremy Mower (3:00:36), Davis Buse (3:00:41) und Steve Edwards (3:00:52) die Chipmatte zum Piepen.
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Marathon - slow | Auch die Autos haben Parkplätze mit Aussicht |
Bei den Frauen ist die Sache nicht ganz so deutlich, wenn auch Sally Keigher nach ihrer 3:23:23 immerhin drei Minuten warten muss, bis sie der 3:26:35 benötigenden Jenny Mills die Hand schütteln darf. Die hat relativ gesehen jedoch trotzdem die wesentlich bessere Leistung vollbracht. Man mag es kaum glauben, aber die Gesamtzweite aus Cornwall startet bereits in der Klasse der über Sechzigjährigen. Hauptklassenläuferin Rebecca Mon-Williams, die sich in 3:30:40 Rang drei vor Susan Corsini (3:31:11) sichert, ginge da fast schon als ihre Enkelin durch.
Wenig gefragt sind nicht nur bei ihnen sondern auch bei allen danach Kommenden angesichts des Wetters die im Ziel verteilten Wärmefolien. Da finden die Getränke ganz anderen Absatz. Und wer schon wieder in der Lage ist, bald nach dem Rennen feste Nahrung zu sich zu nehmen, bekommt in der Halle dann auch noch eine im Startgeld enthaltene warme Mahlzeit.
Eine Medaille gehört natürlich auch dazu. Das Band, an dem sie hängt, hat die Farben der walisischen Flagge und ist mit roten Drachen verziert. Denn Wales ist eben nicht England. Das merkt der Besucher meist recht schnell. Und darauf legt man Wert. Wer auf die Frage, welcher Teil von Großbritannien einem denn am Besten gefällt, mit „Not England“ antwortet, kann jedenfalls ziemliche Pluspunkte sammeln. „Well done“.
Doch vielleicht stellt der ausländische Gast ja auch fest, dass Wales – so klein und unscheinbar es auch immer sein mag – tatsächlich viel Interessantes zu bieten hat. Nicht nur, wenn einmal wieder eine deutsche Fußballmannschaft gegen eine walisische antritt, sollte man Notiz von ihm nehmen. Ein bisschen Erfolg mit der Förderung des Tourismus hat man in Anglesey ja durchaus gehabt, wie dieser Artikel belegt. Croeso i Cymru
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Bericht und Fotos von Ralf Klink Ergebnisse und Infos unter www.angleseymarathon.com Zurück zu REISEN + LAUFEN aktuell im LaufReport HIER |
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