3.5.09 - 37. BMO Vancouver Marathon

Zu Fuß in Beautiful British Columbia

von Ralf Klink

Es sind nahezu stets die gleichen Verdächtigen, deren Namen fallen, wenn einmal wieder nach der „lebenswertesten Stadt der Welt“ gefahndet wird. Sidney oder Melbourne zum Beispiel. Das neuseeländische Auckland. Oder auch Kapstadt. Wem das ganze jetzt doch etwas zu angelsächsisch vorkommen mag, dem sei gesagt, dass – je nach Umfrage – durchaus auch einmal Städte aus dem deutschsprachigen Raum vordere Plätze belegen. Doch eine Metropole ist eigentlich immer dabei. Die Rede ist von Vancouver an der kanadischen Pazifikküste.

Nicht einmal einhundertfünfzig Jahre sind seit ihrer ersten Besiedlung vergangen. Fast jedes Stadtviertel, jede wichtige Straße in Rom, London oder Paris kann mehr Geschichte bieten als ganz Vancouver zusammen. Wer alte Paläste oder Kirchen sucht, wird ganz sicher nicht fündig. Die Bebauung der Stadt ist nahezu vollständig ziemlich neueren Datums.

Auch die nicht gerade zahlreich in den Reiseführen aufgeführten „Sehenswürdigkeiten“ sind fast alle ziemlich modern. Einzigartiges, etwas, das man weltweit sofort und nur mit Vancouver verbinden würde, ist noch viel weniger darunter. Da gibt es weder Kolosseum noch Petersdom, weder Tower Bridge noch Big Ben, weder Eifelturm noch Arc de Triomphe.

Aber dennoch ist dieses Vancouver unglaublich sehenswert. Selbst, wenn man über diese Titelvergabe noch viel mehr streiten kann als über das schon erwähnte „lebenswert“, zählen es viele sogar zu den schönsten Städten der Welt. Und der Grund dafür ist hauptsächlich die geographische Lage. Denn kaum eine andere Metropole positioniert sich so beeindruckend und nahezu perfekt zwischen Meer und Gebirge.

Zwischen der Mündung des Fraser River im Süden und dem rund vierzig Kilometer tief ins Land hinein reichenden, fjordähnlichen Burrard Inlet im Norden erstreckt sich Vancouver auf einer Halbinsel. Direkt jenseits der Bucht, keine zehn Kilometer Luftlinie vom Stadtzentrum entfernt, erheben sich bereits die North Shore Mountains etwa fünfzehnhundert Meter über das Meeresniveau. Völlig zu recht kann man in Vancouver behaupten, eine Stadt zu sein, in der man vormittags Ski laufen und nachmittags segeln kann. Oder – wenn gewünscht – dann eben auch umgekehrt.

Wobei das streng genommen allerdings dann doch nicht ganz stimmt. Denn verwaltungstechnisch endet Vancouver am Fjord. Drüben auf der anderen Seite liegen am Fuße des Gebirges die selbstständigen Kommunen North Vancouver und West Vancouver. Auch nach Süden und Osten ist das nicht anders. Da schließen sich ziemlich nahtlos Richmond, Burnaby oder Coquilam – um nur einige zu nennen – an. Den Übergang bemerkt man jedoch nur unter höchster Aufmerksamkeit am gerade passierten Ortsschild.

Eine für Nordamerika absolut übliche Struktur. Während man in Deutschland lieber einmal etwas zu viel als etwas zu wenig eingemeindet, bestehen auf der anderen Seite des großen Teiches Metropolen in der Regel aus einer Vielzahl von unabhängigen Gemeinden, die sich eng um eine Kernstadt scharen.

Das neue Logo mit vier stilisierten Läufern auf unterschiedlich farbigem Hintergrund Die Statue von Sprinter Harry Jerome ist ein beliebtes Motiv für Fotografen Schon seit fast hundert Jahren stehen Totempfähle im Stanley Park

So hat Vancouver alleine gerade einmal sechshunderttausend Bewohner, die als „Metro Vancouver“ bezeichnete Region dagegen viermal so viel. Womit man inzwischen zum einen – legt man die zur besseren internationalen Vergleichbarkeit längst übliche Sicht, die eine „Stadt“ völlig unabhängig von Verwaltungsgrenzen als zusammenhängendes dicht bebautes Gebiet definiert, zugrunde – zur drittgrößten kanadischen Stadt nach Toronto und Montréal geworden ist, zum anderen auch etwa die Hälfte der Bevölkerung der Provinz British Columbia stellt. Mit steigender Tendenz übrigens. Schließlich ist Vancouver eine der am schnellsten wachsenden Regionen des nordamerikanischen Kontinents.

Und wohlgemerkt auf gerade einmal drei Prozent der Provinzfläche. Denn klein ist der westlichste kanadische Teilstaat nun wirklich nicht. Neben Deutschland würden nach British Columbia auch noch Frankreich und die Benelux-Länder hinein passen. Auf einer knappen Million Quadratkilometer verlieren sich dabei nicht einmal fünf Millionen Einwohner. Und lässt man den Großraum Vancouver einmal außen vor, teilen sich rein statistisch gerade einmal zwei Menschen einen davon.

Größenordnungen, wie sie für Kanada durchaus normal sind. British Columbia ist – zumindest was die reinen Zahlen angeht – da ziemlich durchschnittlich. Nach der Fläche liegt es auf dem fünften Rang der – in „Provinces“ und die noch schwächer besiedelten und deshalb mit weniger Rechten ausgestatteten „Territories“ im arktischen Norden unterschiedenen – dreizehn Landesteile. Was die Bevölkerung angeht, ist man die Nummer drei. Jeweils ungefähr ein Zehntel liefert der Teilstaat im Westen damit zur kanadischen Gesamtsumme.

Betrachtet man sich die Anzahl der Marathons, die in jeder Provinz abgehalten werden, ist das Bild auch nicht anders. Auch hier führt das – wohlgemerkt für kanadische Verhältnisse – dicht besiedelte Ontario vor dem zwar riesig großen, doch eben auch menschenreichen Québec. Aber richtig viele sind es dennoch nicht. In ganz Kanada lassen sich selbst unter intensivsten Bemühungen gerade einmal etwa fünfzig Rennen über 42,195 Kilometer entdecken. Und wie bei Fläche und Bevölkerung liefert BC – wie man den Provinznamen zum Leidwesen vieler British Columbians im Rest des Landes einfach abkürzt – auch hier ziemlich genau ein Zehntel.

Echte Großveranstaltungen sucht man in Kanada allerdings völlig vergeblich. Die meisten Marathons bewegen sich in Bereichen zwischen einigen Dutzend und einigen Hundert Teilnehmern. Nur eine gute Handvoll schafft es überhaupt in den vierstelligen Bereich. Und hier ist British Columbia ausnahmsweise einmal etwas weiter vorne.

Denn mit jeweils etwa dreitausend Teilnehmern streitet sich der Lauf von Vancouver mit dem Rennen in der kanadischen Hauptstadt Ottawa um den Titel des größten Marathons des Landes. Allerdings blieb man in den letzten Jahren an der Westküste dann doch meist knapp geschlagen Zweiter.

"Gassy Jack" baute an der Stelle, an der heute Vancouver steht, seine Kneipe Kaum eine andere Metropole positioniert sich so beeindruckend zwischen Meer und Gebirge Das Drehrestaurants auf dem Harbour Centre erinnert nur zufällig an die Kommandobrücke der Enterprise

Dass im Großraum Toronto gleich drei Veranstaltungen um die Läufer werben und sich dabei ordentlich Konkurrenz machen, trägt sicher zu diesem Ausgang bei. Und in der zweitgrößten Stadt Montréal hat man nach langer Pause erst vor wenigen Jahren den Marathon wieder belebt. Wenn man in einer Fünf- und einer Drei-Millionen-Metropole dennoch nicht über Zahlen hinaus kommt, die in Deutschland gleich etliche deutlich kleinere Städte locker zustande bringen, ist das aber wohl trotzdem bemerkenswert.

Reine Marathonveranstaltungen gibt es deshalb in Kanada überhaupt nicht. Während in Deutschland zumindest die beiden Platzhirsche Berlin und Hamburg auf die Teilnehmerzahlen auffüllende Rahmenwettbewerbe verzichten können, kommt im Lande des Ahornblattes kein einziger größerer Lauf ohne begleitenden Halbmarathon aus.

Und wie nahezu überall geht auch dort der Trend zu immer kürzeren Distanzen. Zwei, drei oder auch einmal vier zu eins zugunsten des Halben sind die absolut normalen Verteilungsverhältnisse. Werte, die dem aufmerksamen Beobachter sehr wohl auch aus Europa bekannt vorkommen. Doch in der Regel bieten kanadische Veranstaltungen zusätzlich dann auch noch einen Zehner. Man hat also nahezu immer alle drei Distanzen, auf die sich das Angebot nicht nur in Deutschland sondern auch international mehr und mehr beschränkt, im Programm.

Einen Halbmarathon gibt es auch in Vancouver. Und der übertrifft mit ungefähr sechstausend Teilnehmern die lange Distanz ziemlich genau um das Doppelte. Aber statt zehn läuft man als kürzeste Distanz nur acht Kilometer. Angesichts von gerade einmal 650 Zieleinläufen ist das aber ohnehin kaum mehr als eine kleine Ergänzung am Rande.

Dazu kommt noch ein von einer weltweit tätigen Hamburger-Braterei gesponserter 1600 Meter langer Kinderlauf. Allerdings ist die Startgebühr dafür trotz darin enthaltenen Medaille und T-Shirt mit 27 kanadischen Dollar – bei einem ungefähren Wechselkurs von 3:2 umgerechnet etwa achtzehn Euro – zumindest aus europäischer Sicht ziemlich happig. Immerhin mehr als tausend Eltern sind dann aber doch bereit diesen stolzen Preis zu berappen.

Ansonsten bewegt man sich mit einem „Entry Fee“ zwischen 85 und 125 Dollar für den Marathon und 60 bis 90 für den Halben auf dem in Kanada absolut üblichen Niveau und durchaus noch in einem Rahmen, den man von Veranstaltungen dieser Größenordnung aus Europa ebenfalls kennt. Ein echtes Schnäppchen ist der Lauf in Vancouver dann allerdings auch nicht gerade.

Nicht nur einen der größten sondern auch einen der ältesten Marathons des Landes nimmt man dabei unter die Füße. Offiziell ist man von Seiten der veranstaltenden Vancouver International Marathon Society bei 37 Austragungen angelangt. Das Jahr 1972, in dem man erstmals die Organisation des Rennens übernahm, wird als Ausgangspunkt der Zählung betrachtet. Doch schon seit 1956 wurde beim British Columbia Championship Marathon in Vancouver ziemlich regelmäßig über diese Distanz gelaufen.

Und immerhin nun auch schon seit dreißig Jahren findet die Veranstaltung stets am ersten Mai-Wochenende statt. Eine ziemlich beachtliche Konstanz, die für alle potentiellen Teilnehmer enorme Planungssicherheit beinhaltet.

Fast genauso alt wie der Stammtermin ist allerdings auch der Streckenrekord. Seit 1980, als der Australier Garry Henry gewann, steht dieser bei 2:13:14. Danach wurden zwar meist Zeiten von unter 2:20 oder knapp darüber erzielt. Doch die allgemeine Leistungsexplosion auf der Marathondistanz, die inzwischen selbst Ergebnisse von 2:08 bis 2:10 – noch vor einem guten Jahrzehnt Maßstab für die absolute Weltspitze – zur reinen Dutzendware verkommen ließ, ist an Vancouver recht spurlos vorüber gegangen.

Die Steam Clock, die statt eine Glocke zu läuten eine Melodie auf Dampfpfeifen spielt, ist inzwischen eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt Eine noch nicht ganz fertige Promenade
führt um die auffällig schrägen Fronten
des neuen Kongresszentrums herum

Jene 2:35:50, die von der Argentinierin Claudia Camargo im Jahr 2007 als bisher beste Zeit bei den Frauen abgeliefert wurden, ist sogar noch ein bisschen weiter von der internationalen Elite entfernt. Mit einem offiziell angegebenen Gesamtpreisgeld von 21000 Dollar – nicht für den Sieger oder die Siegerin alleine, sondern für alle Platzierten zusammen – kann man dann allerdings auch keine wirklich großen Sprünge machen.

Auch ein deutscher Name findet sich in den Siegerlisten. Und der sogar ziemlich häufig. Niemand war in Vancouver öfter erfolgreich als der für den SSC Hanau-Rodenbach startende Ulrich Steidl. Von 2000 bis 2004 legte er mit fünf ersten Plätzen in Folge eine lupenreine Serie hin.

Doch der Marathon von Vancouver liegt ja auch mehr oder weniger vor seiner Haustür, denn seit etlichen Jahren lebt er nur zwei Autostunden entfernt in Seattle im US-Bundestaat Washington. Den dortigen Marathon im November hat er nebenbei bemerkt gleich achtmal hintereinander gewonnen. Das Rennen in Vancouver findet 2009 aber ohne den Rekordsieger statt. Denn Steidl gibt beim Versuch, sich für das Berliner WM-Team zu qualifizieren, dem gleichzeitig stattfindenden Lauf in Düsseldorf den Vorzug.

Besuch aus den Vereinigten Staaten hat man aber dennoch zuhauf. Bis zur Grenze sind es nur wenige Steinwürfe. Bei guten Verkehrsverhältnissen steht man schon eine halbe Stunde, nachdem man in der Innenstadt Vancouvers aufgebrochen ist, am Grenzübergang. Nicht nur Seattle im Bundesstaat Washington ist nahe. Auch Portland in Oregon liegt mit rund fünfhundert Kilometern nur halb so weit entfernt wie Calgary oder Edmonton, die nächsten kanadischen Metropolen.

Dazu kommen als zusätzliche Erschwernis noch die von Nord nach Süd verlaufenden Gebirgsreihen der Coast und der Rocky Mountains, die einen regelrechten Riegel zwischen der Pazifikküste und den sich östlich von ihnen erstreckenden Prärielandschaften bilden. Und zwar sowohl in Kanada wie auch in den USA.

So ist – obwohl die „Vancouverites“ sich natürlich erst einmal als Kanadier empfinden – die Lebenseinstellung genau wie das Klima und die Landschaft auf beiden Seiten der ziemlich durchlässigen Grenze dann auch recht ähnlich, jedoch durchaus ein wenig verschieden von der jenseits des Gebirges.

Die Orientierung geht in British Columbia bei vielem eben zuerst einmal nach Süden und erst dann nach Osten. Etwas was sich durchaus auch in Kleinigkeiten bemerkbar macht. Die in Seattle gegründete und inzwischen weltweit verbreitete Kaffeekette „Starbucks“ scheint jedenfalls in der Anzahl der Filialen mit der zwar weniger bekannten, aber ansonsten in Kanada absolut dominierenden Konkurrenz von „Tim Hortons“ mehr als mithalten zu können.

Und noch in eine andere Himmelsrichtung blickt man in Vancouver, nämlich nach Westen. Mit dem Flugzeug ist es zum Beispiel nach Tokio nur unwesentlich weiter als nach Toronto oder Montréal. Über den Hafen der Stadt, der inzwischen größte und wichtigste des Landes, wird praktisch der gesamte Handelsverkehr mit Ostasien abgewickelt.

So ist es dann auch wenig verwunderlich, dass neben den US-Amerikanern auch ein starkes japanisches Kontingent freitags und samstags vor dem Lauf in der als Marathonzentrum dienenden Zeltstadt seine Startnummern abholt. Die Mexikaner sind ebenfalls sichtbar vertreten. Doch selbst wenn die Veranstaltung lange unter „Vancouver International Marathon“ firmierte, ist die Internationalität ansonsten eher begrenzt. Auffällig sind nur noch die Dänen, die wie üblich meist im ihren Nationalfarben antreten. Und einige Handvoll Deutsche, die vermutlich sogar die stärkste europäische Abordnung stellen, entdeckt man auch im Starterfeld.

Kurt Wollenweber ist einer von ihnen. Der Kelkheimer ist seit rund drei Jahrzehnten in der Laufszene dabei, Stammgast in Hamburg, Biel oder auch beim Hornisgrinde-Marathon von Bühlertal. Längst hat er eine dreistellige Anzahl von Marathons angesammelt. Und er hat am dritten Mai Geburtstag. Bereits seit Jahren hofft er darauf, dass der Vancouver Marathon einmal auf diesen Tag fällt, um sich selbst ein besonderes Geschenk machen zu können. An seinem 69. Geburtstag ist es nun soweit. Eine Woche nach dem Hamburg Marathon und zwei Wochen nach dem Fünfziger in Rodenbach wird er in 4:45 Zwölfter seiner Altersklasse werden.

Aufgebaut hat man die Zelte, die neben der Nummernausgabe auch eine eher bescheiden ausgefallene Laufmesse beherbergen, auf dem BC Place genannten Gelände der Weltausstellung von 1986. Auch Start und Ziel finden sich hier. Von der Expo ist zwar nicht mehr viel zu sehen, da die meisten der Pavillons nach dem Ende der Veranstaltung gleich wieder abgebaut wurden. Doch die logistischen Vorrausetzungen könnten kaum besser sein.

An Parkplätzen mangelt es in direkter Umgebung des BC Place Stadiums, wo das Footballteam der BC Lions vor bis zu sechzigtausend Zuschauern seine Heimspiele austrägt, und dem GM Place, in dem die Eishockeyspieler der Vancouver Canucks ihre Heimat haben, nun wirklich nicht.

Das Fairmont Hotel Vancouver löste das Marine Building als höchstes Gebäude der Stadt ab Die neue ans Kolosseum erinnernde Stadtbücherei bleibt während des Rennens verborgen

Und auch die Verkehrsanbindung ist ziemlich gut. Zumindest für die Verhältnisse von Vancouver. Denn die Stadt ist schnell gewachsen. Zu schnell, als dass die Infrastruktur hätte mithalten können. Im Gegensatz zu vielen anderen nordamerikanischen Städten führen deshalb keine gut ausgebauten Schnellstraßen aus allen Richtungen mitten hinein ins Stadtzentrum. Wer mit dem Auto nach Vancouver hinein will, muss sich in der Regel über unzählige Ampeln langsam vorarbeiten.

Die einzige Autobahn der Region, der Trans Canada Highway schlägt einen weiten Bogen um das Zentrum. Von der Innenstadt bis zur nächsten Abfahrt sind es deshalb auch im günstigsten Fall mehrere Kilometer.

Bahnen sind keine wirkliche Alternative. Denn wie in den meisten Städten auf den nordamerikanischen Kontinent ist das U- und S-Bahn-Netz eher schlecht als recht ausgebaut. Gerade einmal zwei Linien des sogenannten Skytrain, die sich zudem über die Hälfte der Stationen teilen, sind im Betrieb. Eine zusätzliche zum Flughafen wird gerade gebaut. Dazu kommt noch eine Regionalzuglinie in weiter außerhalb liegende Vororte, die allerdings gerade einmal zehn Verbindungen am Tag bereit stellt.

Doch da der „Himmelszug“, der seinen Namen von der größtenteils als Hochbahn ausgestalteten Strecke hat, ebenfalls zur Expo 86 eröffnet wurde, finden sich gleich zwei Stationen in unmittelbarer Nähe von Start und Ziel. Zumindest aus den angebundenen Stadtteilen ist man also nicht auf das Auto zur Anreise angewiesen.

Für praktisch alle, die nicht auf den eigenen Wagen verzichten können und wollen, liegt das Marathongelände dann allerdings ebenfalls noch halbwegs verkehrsgünstig, weil vor der Innenstadt. Was im ersten Moment seltsam klingt, da sich diese ja normalerweise in der Mitte befindet und alles andere ringförmig um sie gruppiert, entspricht dennoch absolut den Gegebenheiten.

Denn Downtown Vancouver liegt eben nicht wie bei nahezu allen anderen Metropolen der Welt im Zentrum des Stadtgebiets sondern ganz im Gegenteil ziemlich exponiert auf einer kleinen Halbinsel der großen Halbinsel. Wenn man sich Vancouver als in den Pazifik hinein ragende Hand vorstellt, findet man die Innenstadt auf dem nach Norden abgespreizten Daumen. Auch deshalb ist die Lage von Vancouver ziemlich einzigartig und so beeindruckend.

Zwischen Daumen und dem Rest der Hand erstreckt sich eine False Creek genannte Bucht. Und an ihrem östlichen Ende liegt das Expo-Gelände. Auf der Nordseite ist noch immer eine große Freifläche, die normalerweise als Parkplatz und nun als Marathonzentrum dient. Im Süden ragen dagegen Baukräne in den Himmel, wird das bisher brach liegende Areal neu bebaut.

Spätestens mit der Weltausstellung legte Vancouver sein Image als Provinznest endgültig ab und wurde zur echten Metropole. Es war mit zwanzig Millionen Besuchern die größte Veranstaltung, die bis dahin in British Columbia stattgefunden hatte. Ein Rekord, der noch immer Gültigkeit hat. Doch nun steht eine noch größere an, die den Namen Vancouver endgültig in alle Munde bringen wird. Denn das, was da nach oben wächst, ist das olympische Dorf für die Winterspiele des Jahres 2010.

Zusammen mit dem etwa einhundert Kilometer nordöstlich gelegenen Whistler, wo die alpinen und nordischen Skiwettbewerbe ausgetragen werden, hat man bereits zum zweiten Mal in zweiundzwanzig Jahren – Calgary war 1988 Austragungsort – die Spiele nach Kanada geholt. Und noch einmal zwölf Jahre zuvor war man in Montréal auch im Sommer einmal Gastgeber.

Chinesische Jugendliche beim Packen der Helferbeutel - über ein Viertel der Einwohner stammt aus dieser Bevölkerungsgruppe Freitags und samstags holt man in der Marathonzeltstadt seine Startnummern ab Start des Halbmarathons

Beide Male zeigte man sich wirklich gastfreundlich und überließ den ausländischen Besuchern sämtliche Goldmedaillen. So erfolglos war bisher kein anderes Ausrichterland. Diesmal möchte man zwar auch nicht unfreundlich erscheinen, aber der eine oder andere Olympiasieg sollte nun doch endlich auch in der Heimat einmal für Kanada abfallen. Schließlich stellte man bei den Spielen von Turin mit insgesamt vierundzwanzig Mal Edelmetall, davon sieben Mal Gold, eine der erfolgreichsten Mannschaften.

Im Sommer sieht die Bilanz nicht ganz so gut aus, selbst wenn man zuletzt auch nicht mehr völlig leer ausging. Doch zu dem Bild, das man in Europa von Kanada im Kopf hat, passt das einer Wintersportnation sowieso viel besser. Monatelang Eis und Schnee, nur unterbrochen von einem kurzen, höchstens lauwarmen Sommer, so stellt man sich das Klima vermutlich meist vor. Und wer Kanada auf der Landkarte einzeichnen soll, wird es deshalb in der Regel ziemlich weit nach Norden in die Nähe der Arktis setzen.

Doch wie so oft im Leben kann man sich auch bei so etwas ziemlich täuschen. Das von den Einheimischen gerne zitierte Vorurteil ausländischer Besucher, dass in Kanada überall Eisbären auf den Straßen der Städte herumlaufen, stimmt eben bei weitem nicht immer. Auch wenn es durchaus einmal Fälle gibt, in denen es dennoch vorkommt.

Aber von Deutschland aus betrachtet liegen nahezu alle kanadischen Metropolen im Süden. Aus Toronto hat man es sogar ein Stück näher zum Äquator als zum Pol. Montréal und Ottawa machen sich genau auf dem halben Weg zwischen beiden, also auf 45° breit. Von allen Dreien würde man deshalb bei einer Reise in genau östlicher Richtung nicht in Deutschland sondern irgendwo in Norditalien landen.

Selbst von Calgary etwas weiter oben auf der Karte käme man unter den gleichen Voraussetzungen gerade einmal zwischen den verfeindeten Schwestern Köln und Düsseldorf heraus. Und um die ungefähre geographische Breite von Vancouver zu finden, orientiert man sich am besten an Mannheim und Karlsruhe.

Und kalt wird es in Vancouver auch nicht unbedingt. Ähnlich wie in Europa, wo der Golfstrom dafür sorgt, dass es wesentlich wärmer ist, als anderswo auf gleicher geographischer Breite, bekommt man auch an der nordamerikanischen Pazifikküste eine warme Meeresströmung ab. Die zeichnet dafür verantwortlich, dass selbst die Wintermonate alles andere als eisig ausfallen. Frost ist die absolute Ausnahme. Die Durchschnittstemperaturen liegen auch im Januar und Februar im positiven Bereich.

Dafür ist es aber etwas anderes, nämlich ziemlich feucht. Ungefähr doppelt soviel Niederschlag wie in Deutschland kommt pro Jahr im Westen von British Columbia herunter. Im Schnitt regnet es fast jeden zweiten Tag zumindest einmal. Die Coast Mountains, die so guten Schutz vor kalter Luft aus der Arktis bieten, sorgen nämlich auch dafür, dass die vom Meer kommenden Wolken hängen bleiben und erst einmal Ballast abladen müssen, um sie zu überwinden. Auf der Rückseite dieser Barriere ist es dann dagegen ziemlich trocken.

Ein Effekt, der sich nahezu überall beobachten lässt, wo relativ hohe Gebirge sich direkt am Ozean erheben. Die britische, die norwegische oder auch die neuseeländische Westküste bieten ähnlich gutes Anschauungsmaterial dafür. So finden sich dann auch im gesamten pazifischen Nordwesten Amerikas von Nordkalifornien bis Südalaska Vegetationsformen, die von Biologen als gemäßigte Regenwälder bezeichnet werden.

Deshalb ist man in Vancouver dann auch schon froh, wenn es beim Marathon wieder einmal trocken bleibt. Doch im Jahr 2009 sieht es danach anfangs gar nicht aus. Denn nach einigen sonnigen Tagen im Vorfeld hat es sich ausgerechnet zum Wochenende eingetrübt. Am späten Samstag fallen dann die ersten, zum Teil recht dicken Tropfen. Die Meteorologen haben genau das vorher gesagt. Und was sie für den Sonntag ankündigen, klingt auch nicht wirklich besser.

Der Himmel weint allerdings nicht mehr, als sich am frühen Morgen über zehntausend Läufer zum Start aufmachen. Und es ist für einige wirklich ziemlich früh am Morgen, denn bereits um sechs Uhr werden die ersten Teilnehmer auf die Strecke entlassen. Ein sogenannter „early start“, wie man ihn in Nordamerika ziemlich häufig vorfindet. Wer meint für die Marathondistanz mehr als sechs Stunden zu brauchen, darf in Vancouver schon neunzig Minuten vor dem Hauptfeld beginnen.

Start des Halbmarathons

Was im ersten Moment etwas seltsam anmutet, weil es doch eigentlich völlig egal zu sein scheint, wann und wie man seine sieben oder acht Stunden absolviert, sorgt jedoch in Wahrheit für eine wesentlich gleichmäßigere Auslastung der gesperrten Straßen, der Verpflegungsstellen und damit auch der über tausend freiwilligen Helfer.

Denn während man die Anfangspassagen kaum länger verkehrsfrei halten müsste, wenn alle gemeinsam starten würden, wären die „Volunteers“ am Ende dadurch bis zu zwei Stunden mehr im Einsatz. Mit dem Frühstart fallen die Schichten für die ersten Streckenteile zwar etwas länger aus, doch dafür ist für die Leute, die auf den hinteren Stücken Dienst tun, wesentlich früher Schluss.

Die meisten Läufer sind jedoch zu dem Zeitpunkt, zu dem die Langsamsten auf den Kurs gehen – ein Verb, das angesichts des auch für Walker vorgesehen Starts durchaus seine Berechtigung hat – gerade erst im Anmarsch. Doch langsam werden die Schlangen vor den blauen Häuschen neben den Zelten immer länger, fangen an sich in Schleifen zu legen.

Beim letzten Hamburg Marathon wurde in den der Startnummer beiliegenden Informationen ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es eine Ordnungswidrigkeit darstelle, die man gegebenenfalls zu Anzeige bringen würde, sollte man sich abseits dieser – angesichts des dort üblicherweise herrschenden Andrangs eigentlich überhaupt nicht – stillen Örtchen irgendwo sonst erleichtern.

Im in dieser Beziehung wesentlich empfindlicheren Nordamerika, muss man das allerdings überhaupt nicht erwähnen. Das kennt man überhaupt nicht anders. Und man stellt sich deshalb brav an und wartet im Extremfall auch einmal eine halbe Stunde, bis man an der Reihe ist. Vielleicht kommen da in den Kanadiern ein paar britischen Gene durch. Dabei wären diese endlosen Wartezeiten gar nicht nötig. Man hätte sich nur umschauen müssen. Denn nur ein kleines Stück entfernt im Startbereich gibt es noch wesentlich mehr Toiletten, an denen die Schlangen wesentlich kürzer ausgefallen sind.

Erst kurz vor dem Start des Halbmarathons um sieben Uhr löst sich das Getümmel. Und auch an der Abgabe der Kleiderbeutel kehrt erst einmal für einen Moment Ruhe ein. Während diese anderswo oft zwar recht bunt, dafür aber ziemlich klein ausfallen und kaum genug Platz für ausreichend Wechselbekleidung bieten, bekommt man in Vancouver einen einfachen durchsichtigen Plastiksack in die Hand gedrückt. Doch böte dieser Platz für einen ganzen Überseekoffer inklusive zugehörigem Handgepäck. Die kleinen Sporttaschen und Rucksäcke verlieren sich jedenfalls fast darin.

Gerade einmal zwei Fahrspuren hat die Straße vor der Zeltstadt. Und so dauert es schon einige Minuten bis das vieltausendköpfige Halbmarathonfeld vollständig die Startlinie überquert hat und sich mit einem direkt anschließenden großen Bogen in Richtung Innenstadt verabschiedet.

Auch der eine halbe Stunde später gestartete Marathon schwenkt gleich einmal um 180 Grad. Doch im Gegensatz zur kürzeren Strecke steht für die Volldistanzler erst einmal ein etwa zehn Kilometer langes Begegnungsstück an. Erst danach werden sie den Halbmarathonläufern folgen. Wieder so ein Trick der Kurssetzer, der dafür sorgt, dass die Belastung der gesperrten Straßen halbwegs gleichmäßig und auch gleichlang erfolgt.

Und selbst wenn es den schnellsten Marathonis trotz zeitlichem Verschub und Extrakilometern sicher noch gelingen wird, den Schwanz des vor ihnen gestarteten Feldes noch zu erreichen, bevor sie auf ihre zweite Zusatzschleife gehen, können die Ordner angesichts der völlig unterschiedlichen Laufgeschwindigkeiten das ganze wieder recht gut auseinander dividieren.

Die Burrard Bridge ist der höchste Punkt der Strecke Die im Art Déco erbauten auffälligen Torbauten der Burrard Bridge werden zweimal passiert Die Halben kurz nach dem Start

Doch auch ein Blick auf die Farbe der Nummer – übrigens wie inzwischen oft üblich auch in Vancouver mit dem Vornamen des Läufers versehen – würde ausreichen. Denn jede der vier angebotenen Distanzen hat ihre eigene. Überall durchgängig und nicht nur auf der Startkarte. Blau für den Marathon, rot für den Halben, grün für die 8 Kilometer und schließlich gelb für den Kinderlauf. Die jeweiligen Seiten im Programmheft sind so gestaltet, sogar das Medaillenband hat die entsprechende Farbe.

Und die Medaille selbst sowie auch das neue Logo der Veranstaltung bestehen aus vier kleinen Vierecken mit immer dem gleichen stilisierten Läufer aber unterschiedlich farbigen Hintergrund. Da hat wohl bei der Gestaltung wirklich jemand über sein Tun gründlich nachgedacht.

Noch nicht einmal einen Kilometer hat man zurückgelegt, da biegt die Marathonstrecke nach rechts ab und führt unter einem ersten optischen Höhepunkt hindurch unverkennbar nach Chinatown hinein. Wie oftmals üblich markiert ein die gesamte Straße überspannendes Tor den Anfang des Chinesenviertels der Stadt.

Doch wirklich alt ist es im Gegensatz zu den meisten es umgebenden Gebäuden nicht. Erst seit dem Ende der Expo, bei der es den chinesischen Pavillon schmückte, steht es an dieser Stelle. Die Volksrepublik hatte es der Stadt Vancouver im Anschluss geschenkt, die es an den Eingang der zweitgrößten Chinatown auf den nordamerikanischen Kontinent versetzen ließ. Nur in San Francisco hat das entsprechende Viertel noch größere Ausdehnungen.

Doch trotz seiner beträchtlichen Größe leben bei weitem nicht mehr alle Vancouverites chinesischer Abstammung – selbst wenn sie noch immer gerne zum Einkaufen asiatischer Spezialitäten hierher kommen – im früheren Ghetto, das bei weitem nicht mehr ausreichen würde. Denn inzwischen deutlich über ein Viertel der Einwohnerschaft der Stadt stammt aus dieser Bevölkerungsgruppe.

Zum Teil leben sie schon seit Generationen im Land. Aber mit der Übergabe Hongkongs von Großbritannien zurück an die Volksrepublik im Jahr 1999 gab es noch einmal eine Einwanderungswelle. Die meisten Chinesen ließen sich gleich an der Westküste in Vancouver nieder. Nicht ganz ohne ernsthaften Hintergrund entstand irgendwann der scherzhafte Begriff „Hongcouver“.

Auch wenn die Chinesen den größten Anteil stellen, sind sie bei weitem nicht die einzigen Asiaten an der Westküste. Japaner, Koreaner, Vietnamesen, Thais und Filipinos sind wenn auch in geringeren Zahlen ebenfalls vertreten. Dazu kommen noch Einwanderer aus Indien – die Sikhs mit ihren Turbanen zum Beispiel lassen sich im Stadtbild kaum übersehen – und Pakistan, Sri Lanka und Bangladesh.

Und dieser Trend wird wohl auch in Zukunft anhalten. Denn der größte Teil der Zuwanderer stammt inzwischen nicht mehr aus Europa sondern aus Asien. Und aus Lateinamerika erhöht sich der Zuzug ebenfalls. Der Begriff der „Minderheit“ wird langsam ziemlich überflüssig, wenn wie in Vancouver fast die Hälfte der Bevölkerung einer solchen angehört.

In British Columbia ist deren Anteil mit rund einem Viertel ebenfalls ziemlich hoch, so hoch wie in keiner anderen kanadischen Provinz. Die Veränderung des Landes von einer rein durch Europäer geprägten Gesellschaft zu einem bunten kulturellen Gemisch ist voll im Gange. Und nirgendwo sonst in Kanada ist das so zu spüren wie an der Westküste.

Am chinesischen Kulturzentrum vorbei, hinter dem sich durch hohen Mauern vom Trubel der Großstadt abgeschirmt der in klassischen Stil gestaltete und ebenfalls zur Expo errichtete Sun Yat-Sen Garden als Oase der Ruhe verbirgt, gelangt man nach weniger als zwei Kilometern wieder zurück in die Nähe des Startbereiches, den man nun erst einmal in die andere Richtung, also nach Süden verlässt.

Die am Nordufer des False Creek entstandenen Hochhäuser kann man inklusive dazu gehörendem Bootshafen von der Brücke aus betrachten Durch ein die gesamte Straße überspannendes Tor führt die Marathonstrecke nach Chinatown hinein Am Ostende des False Creek erhebt sich die geodätische Kuppel der "Science World" als unübersehbare Landmarke

Québec Street heißt die Straße, seitdem man Chinatown hinter sich gelassen hat. In dieser Gegend der Stadt sind alle Nord-Süd-Achsen nach den kanadischen Provinzen benannt. Erst seit 1871 gehört British Columbia dazu, doch viel älter ist Kanada auch nicht. In nur vier Jahren war aus vier britischen Kolonien im Osten die Kanadische Konföderation entstanden. Damit hatte man zwar weitgehende Autonomie erreicht, allerdings auch bei weitem noch keinen wirklich selbstständigen Staat.

Erst in mehreren weiteren Schritten im zwanzigsten Jahrhundert erhielt Kanada völlige Unabhängigkeit, die unter anderem auch durch die neue Ahornflagge – die alte trug neben dem Wappen auch noch den Union Jack in linken oberen Eck – sichtbar manifestiert wurde. Nur durch das gemeinsame Staatsoberhaupt Queen Elizabeth ist man jetzt noch mit dem einstigen Mutterland verbunden.

Dass British Columbia damals als sechste Provinz dem kanadischen Verbund beitrat, obwohl dieser zu diesem Zeitpunkt nur weit entfernt auf der anderen Seite des Kontinents existierte und dazwischen eigentlich nur nahezu unbesiedelte Wildnis lag, hat auch mit der Furcht vor Expansionsbestrebungen der USA zu tun. Zwar war die Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und britischen Gebieten bereits vertraglich festgelegt, doch immer mehr Amerikaner strömten über sie hinweg. Insbesondere, wenn man wieder einmal irgendwo Gold gefunden hatte.

Lange waren die Besitzverhältnisse an der nordamerikanischen Pazifikküste umstritten. Nicht nur zwischen den USA und Großbritannien, denn Spanien und Russland meldeten ebenfalls Ansprüche an. Nachdem bereits Ende des sechszehnten Jahrhunderts vermutlich der Engländer Francis Drake und der Spanier Juan de Fuca mit ihren Schiffen erstmals in den dortigen Gewässern aufgetaucht waren, geriet diese weit abgelegene Gegend erst einmal wieder in Vergessenheit.

Erst zweihundert Jahre später gab es die nächsten Erkundungsfahrten. Unter anderem auch James Cook segelte bei seiner dritten und letzten Reise die wild zerrissene Küste entlang. Und diesmal zog der Reichtum an Pelztieren, den man inzwischen bemerkt hatte, immer weitere Expeditionen an. Briten, US-Amerikaner, Spanier und Russen begannen mit den Ureinwohnern zu handeln.

Auch ein gewisser George Vancouver erforschte und kartographierte in britischem Auftrag die Region. Zweimal hatte er als junger Bursche mit James Cook die Welt umsegelt und dabei auch schon den pazifischen Nordwesten kennen gelernt. Eineinhalb Jahrzehnte später untersuchte er als Kapitän die Küste in einer Genauigkeit wie noch niemand vor ihm. Und selbst einhundert Jahre später waren einige der von ihm erstellten Seekarten in Verwendung, seine exakten Beschreibungen wurden noch lange Zeit genutzt.

Doch der große Erfolg blieb ihm versagt. Trotz oder vielleicht gerade wegen seiner Detailgenauigkeit und Fähigkeit zur Beobachtung verpasste er die wichtigsten Entdeckungen. Denn obwohl Vancouver unzählige unbedeutende Buchten und Inseln bis ins Kleinste aufzeichnete, fuhr er an den Mündungen der beiden wichtigsten Flüsse der Region vorbei.

Nur wenige Wochen nachdem der Brite den US-amerikanischen Kapitän Robert Gray getroffen und sich mit ihm über ihre Erkundungen ausgetauscht hatte, erkannte dieser nämlich, dass die vermeintliche Bucht, von der ihm Vancouver erzählt hatte, in Wahrheit die Mündung eines großen Stromes war, den er nach seinem Schiff „Columbia“ nannte. Vancouver hatte sehr wohl auch Strömungen bemerkt, diese aber nicht richtig interpretiert und aufgrund der falschen Schlussfolgerungen zu lange gezögert. Gray wartete dagegen nicht und fuhr den Fluss einfach ein Stück hinauf.

Vielleicht wäre die Geschichte des Nordwestens des amerikanischen Kontinents ohne diese verpassten Chancen sogar ganz anders verlaufen. Denn Grays Entdeckung wurde in der Folge immer wieder als Begründung für Ansprüche der Vereinigten Staaten in der Region angeführt. Und heute liegt nördlich des Columbia der US-Bundesstaat Washington, südlich davon Oregon.

Marathonsieger Benard Onsare Verfolgergruppe bei Kilometer 7 unter anderem mit dem 10. Thomas Beyer (in blau, 18), 5. Jeremy Zuber (in gelb) und 7. Kevin Searle (in weiß) Kurt Wollenweber macht sich an seinem 69. Geburtstag den Vancouver Marathon zum Geschenk

Zumindest stellte Vancouver fest, dass jener über vierhundert Kilometer lange Landstreifen, der sich vor der Küste erstreckte, tatsächlich eine Insel war, die größte an der gesamten amerikanischen Westküste. Sie trägt heute den Namen Vancouver Island. Und im Bundesstaat Washington gibt es eine weitere ebenfalls „Vancouver“ genannte Stadt, mit immerhin 150.000 Einwohnern.

Eines der wenigen Überbleibsel der Weltausstellung des Jahres 1986 wird auf der Québec Street auch passiert. Am Ostende des False Creek erhebt sich die geodätische Kuppel der „Science World“ als unübersehbare Landmarke fast fünfzig Meter in den Himmel. Das Wissenschaftsmuseum bietet Naturkunde zum Anfassen und Ausprobieren. Und außerdem in den oberen Stockwerken eines der größten IMAX-Kinos.

Davor steht das Schild für Kilometer zwei. In blau wohlgemerkt, um auch hier ein wenig Übersichtlichkeit im Gewirr der immer wieder auseinander und zusammen laufenden Strecken herzustellen. Für die vielen US-Amerikaner ist das eine ziemlich große Umstellung, denn jenseits der auch nur ungefähr einen Marathon entfernten Grenze misst man Längen hartnäckig in Mile, Yard, Foot und Inch. Nicht 42,195 Kilometer lautet dort die magische Zahl. Es sind 26,2 Meilen, von denen man spricht.

Kanada ist da schon weiter, auch wenn es bei der Umstellung durchaus Widerstände gab. Entfernungen auf den Straßen sind in Kilometern ausgeschildert. Und die Temperaturen, die während des Marathons herrschen, würde man offiziell mit zehn bis fünfzehn Grad Celsius angeben, während für US-Amerikaner 50 bis 59 „degrees“ – gemeint ist Grad Fahrenheit – vorliegen.

Damit ist man in Kanada zwar durchaus schon weiter als im früheren Mutterland, wo zumindest Entfernungen noch immer in Meilen angegeben werden. Doch so ganz ist die Umstellung in den Köpfen noch nicht überall gelungen. So manches wird gerade bei älteren Kanadiern eben auch weiterhin in den sogenannten „imperialen Maßen“ gedacht und gelebt.

Aufgrund der engen wirtschaftlichen Vernetzung zwischen den Vereinigten Staaten und Kanada muss ohnehin auf beiden Seiten der längsten Landgrenze, die zwei Staaten auf der Erde miteinander haben, in beiden Skalen gearbeitet werden. In der Praxis wird zum Beispiel in den Coffee Shops die unterschiedliche Größe von Bechern auch nördlich der „border“ völlig selbstverständlich in „ounces“ statt in Litern angegeben.

Deutlich weniger interessant ist der Rest der Wendepunktstrecke. Viel zu sehen gibt es in der Anfangsphase nicht. Es sind typisch nordamerikanische Straßenzüge, die man da hinaus und nach einer kleinen Runde um einen Häuserblock auch gleich wieder hinein läuft. Breit sind sie, mit niedriger Bebauung aus Wohn- und Geschäftshäusern. Doch so früh im Rennen muss sich das Feld sowieso erst einmal sortieren. Und spätestens, wenn der Gegenverkehr beginnt, findet man auch auf der anderen Spur genügend Abwechslung.

Wirkliche Zuschauermassen findet man nicht an der Strecke. Doch insbesondere angesichts dieser frühen Uhrzeit entdeckt man doch überraschenderweise immer wieder etliche Interessierte am Straßenrand. Zumeist zwar Angehörige und Freunde, aber immerhin. Gerade in Nordamerika gibt es da etliche Veranstaltungen mit deutlich weniger Zuspruch.

Bis man in der Nähe des zehnten Kilometers wieder am Startgelände angekommen ist, hat man schon mehr als genug Gelegenheit, die eigentlich noch gar nicht so geleerten Flüssigkeitsspeicher aufzufüllen. Sechszehnmal während des Rennens, also alle zwei bis drei Kilometer, kann man Wasser und Elektrolytgetränke – diese allerdings in zum Teil wirklich abschreckend grellen Farben – nachfüllen. Obst oder sonstige feste Nahrung gibt es nicht, dafür aber ab und zu noch Päckchen mit Gel.

Schon die dritte Verpflegungsstelle ist gegenüber des zukünftigen olympischen Dorfes aufgebaut, das nach Fertigstellung und Abschluss der Spiele im nächsten Jahr wohl als weiteres optisches Schmankerl die Marathonstrecke bereichern wird. Einige der Gebäude scheinen zumindest architektonisch ganz interessant gestaltet zu sein. Und seine Lage am False Creek mit Blick über das Wasser auf die Hochhäuser der Innenstadt und die dahinter aufragenden Berge ist nun wirklich ziemlich gut gewählt.

Hinter dem chinesischen Kulturzentrum verbirgt sich der Sun Yat-Sen Garden als Oase der Ruhe Die Wendepunktstrecke endet am Eingangstor zu Chinatown, das man noch ein zweites Mal durchläuft Der Sun Tower war einmal das höchste Gebäude des gesamten Britischen Empire

Allerdings hat ein Athletendorf für Winterspiele direkt am Meer wohl absoluten Seltenheitswert. Die letzte und bisher einzige echte Hafenstadt, in der solche ausgetragen wurden war im Jahre 1952 Oslo. Dazwischen lag nur Sapporo, wohin das IOC 1972 eingeladen hatte, zumindest in Ozeannähe. Dass sich auch die nächste Olympiastadt, das russische Sotschi, wieder am Meer befindet, ist aber wohl weniger ein neuer Trend als vielmehr purer Zufall.

Wenig später piept unter dem Schild mit der Zehn die erste Zwischenzeitenmatte. Nur drei davon hat man in Vancouver ausgelegt. Doch im Gegensatz zu vielen Läufen hierzulande, wo ungesehen so etliches in den Ergebnislisten landet, was sich eigentlich schon beim ersten Blick auf die Zwischenzeiten als unmöglich – und damit entweder als Irrtum oder auch einmal als vorsätzlicher Betrug – darstellt, gibt es an der kanadischen Westküste in der Ausschreibung ganz klare Vorgaben.

Denn fehlen z.B. zwei der drei Zeiten, landet der Läufer zuerst einmal auf einer Prüfliste und die Leistung wird durch die Organisatoren noch einmal begutachtet. Wenn die dritte Zwischenwertung zehn Kilometer vor dem Ziel nicht erfasst wird und die zweite Hälfte zudem deutlich schneller ist als die erste, durchleuchtet man die Sache ebenfalls lieber noch einmal. Und auch in weiteren zweifelhaften Fällen droht eine vorläufige Disqualifikation.

Zudem wird ganz klar festgelegt, dass die Ergebnisliste nach der Bruttozeit sortiert wird und alle Preise und Platzierungen nur nach der Einlaufreihenfolge vergeben werden. „Gun time is the official time“ heißt das lapidar. Und “All awards are based on gun time”. Dies sei die offizielle Vorgabe der IAAF, der AIMS, des kanadischen und des US-amerikanischen Leichtathletikverbandes. Die Chipzeit würde nur für persönliche Zwecke angezeigt, könne aber zum Beispiel als Qualifikationsleistung für den Boston Marathon sehr wohl genutzt werden.

Überraschenderweise gibt es dennoch bei der Aufstellung des Feldes keinerlei Gedränge. Ohne Probleme findet man auch kurz vor dem Start überall noch Lücken, um sich in die halbwegs passenden Leistungsbereiche einzusortieren. Und das völlig ohne Startgruppen und Zugangskontrollen. Die wenigen, die sich Gedanken um Plätze und Einlaufreihenfolge machen müssten, stehen sowieso vermutlich ziemlich weit vorne. Der Rest ist einfach nur vernünftig und gelassen.

Die Wendepunktstrecke endet am Eingangstor zu Chinatown, das man noch ein zweites Mal durchläuft. Der Blick geht nach vorne Richtung Sun Tower. Der unübersehbare, über achtzig Meter hohe Turm mit seiner grünen Kuppel gehört zu den ersten Hochhäusern überhaupt und wurde bereits 1912 fertig gestellt. Einige Jahre gab es im gesamten, damals nun wirklich nicht gerade kleinen Britischen Empire kein höheres Gebäude.

Inzwischen sind viele Dutzende von Bauwerken in Vancouver höher in den Himmel gewachsen, doch aufgrund seiner Position ganz am Rande der Innenstadt, wo sich die meisten davon versammeln, geht der nach einer lokalen Zeitung, der „Vancouver Sun“, benannte Turm trotzdem nicht völlig zwischen ihnen unter.

Eigentlich müsste man jetzt nur noch geradeaus laufen um mitten zwischen die Wolkenkratzer zu gelangen. Doch die Streckenplaner der Marathons haben sich noch einen kleinen Umweg einfallen lassen. Erst in einigen Kilometern wird man in die Straßeschluchten von Downtown Vancouver eintauchen. Zuerst einmal schwenkt man am Sun Tower nach rechts und damit auf die Strecke ein, die vor einiger Zeit auch die Halbmarathonläufer unter den Füßen hatten.

Und steht erst einmal vor einer Wand. Zwar ist Vancouver nicht so hüglig wie San Francisco, doch richtig flach ist es nun auch wieder nicht. Obwohl der Marathonkurs bei weitem nicht unbedingt jede dieser zehn, zwanzig oder dreißig Meter hohen Kuppen mitnimmt, ist er durchaus in manchen Phasen ziemlich wellig.

An der Armoury biegt man auf die Duinsmuir Street ein Eine kurze aber heftige Rampe führt hinauf zum Eishockey-Stadion GM Place Im Eishockey-Stadion GM Place absolvieren die Vancouver Canucks am Marathonwochenende ihre Playoff-Spiel gegen die Chicago Blackhawks

Die beiden höchsten Ausschläge auf dem Streckenprofil, eine zweimal zu überquerende Brücke, enden immerhin erst bei dreißig Metern – oder für die US-Amerikaner bei einhundert Fuß – über dem Meer. Einige andere Spitzen sind darin auch noch eingezeichnet. Die kleinen Buckel, die dafür sorgen, dass die Zahl der Gesamthöhenmeter wohl näher an zwei- als an einhundert liegen dürfte, sieht man aber in dieser Skizze bei weitem nicht alle.

Schnell ist die Strecke in Vancouver nun wirklich nicht unbedingt. Für einen Stadtmarathon gehört sie vielleicht sogar eher zur etwas anspruchsvolleren Kategorie. Doch abschrecken sollte das niemanden. Der Kurs von New York ist mit seinen Brücken und Wellen durchaus vergleichbar. Und dennoch strömt ja alles dorthin. Auch viele jener Gelegenheitsläufer, die ansonsten bei jedem noch so kleinen Anstieg sofort verweigern.

Die kurze aber heftige Rampe führt hinauf zum Eishockey-Stadion GM Place, wo noch am Vorabend die Vancouver Canucks ihr zweites Playoff-Spiel im Viertelfinale des Stanley-Cups gegen die Chicago Blackhawks absolviert – und zum Leidwesen der Fans verloren – haben. Das ist etwas, was die Stadt wirklich bewegt und in Aufregung versetzt.

Jeden Tag gibt es etliche Sonderseiten im Sportteil der Zeitung – wobei übrigens stets nur die Rede von „Hockey“ ist, denn ginge es um den Sport ohne Eis, gäbe es den Zusatz „Field“ – über die Finalserie. Kaum ein Restaurant egal welcher Preisklasse, in dem nicht die Fernseher flimmern, wenn die Canucks auf dem Eis sind. Und nicht nur in Vancouver selbst sondern überall in der Provinz sieht man jene kleinen Fahnen an den Autos, die man von der Fußball-WM hierzulande ebenfalls kennt. Nicht mit dem roten Ahornblatt sondern mit dem blau-grünen Logo des Eishockeyteams.

Doch auch die kanadische Flagge wäre durchaus gerechtfertigt. Denn nicht nur „Canucks“, das eigentlich nichts anderes als eine flapsige Bezeichnung für „Kanadier“ ist. Nein, die Vancouverites vertreten neben sieben US-Mannschaften als letzte die Farben der Heimat des Eishockeysports in der Endrunde der auf beiden Seiten der Grenze beheimateten Liga NHL.

Eine Tatsache die natürlich dazu führt, dass nahezu das ganze Land mit den Canucks fiebert. Da sind auch fast alle Rivalitäten mit den Calgary Flames, den Edmonton Oilers, den Toronto Maple Leafs, den Canadiens de Montréal und den Ottawa Senators vergessen. Wenigstens ein kanadisches Team muss doch durchkommen.

Zumindest im sportlichen ist da schon eine gewisse Rivalität zu spüren, eine Möglichkeit zurück zu schlagen. Denn viel zu oft fühlen sich die Kanadier vom übermächtigen Nachbarn an die Wand gedrückt. Der Vergleich mit dem deutsch-österreichischen Verhältnis ist erlaubt und gar nicht so unpassend.

„They are our friends, they are our brothers“ meint der Hotelportier zwar, der selbstverständlich während seines Dienstes auch den Fernseher laufen hat. Doch er sagt es in einem solch ironischen Ton und mit einem solch augenzwinkernden Gesichtsausdruck, dass man ihm die Ernsthaftigkeit dieses Satzes nicht wirklich abnehmen kann.

Was interessiert da schon ein Marathon? Der bekommt gerade einmal ein paar Zeilen ab. Und wen kümmert, dass die kanadische Nationalmannschaft gerade eine Eishockey-WM spielt, bei der sie Silber gewinnen wird? Auch von dort gibt es kaum mehr als die Ergebnisse. Der Stanley-Cup ist das, was gerade im Land und insbesondere in Vancouver zählt.

Alles Hoffen jedoch wird vergeblich sein. Zwar werden die Canucks das dritte Spiel in Chicago wieder gewinnen, dann aber drei Niederlagen in Folge einfahren und damit auch die aus maximal sieben Spielen bestehende Serie 4:2 verlieren. Im Halbfinale sind die US-Amerikaner – wenn auch mit vielen und manchmal sogar überwiegend kanadischen Profis in ihren Reihen – unter sich.

Die Dunsmuir Street, auf die man eingebogen ist, wird zu einer auf Stelzen verlaufenden Hochstraße. Unterhalb von ihr wäre nun wieder das Start- und Zielgelände, doch direkt hinunter kommt man nicht. Zumindest dieses nach oben verlegte kleine Stück der wichtigen Zufahrtsstraße zur Innenstadt ist autobahnähnlich ausgebaut und die nächste Rampe einige hundert Meter entfernt.

Wer von den Marathonis einmal den Kopf dreht, kann einen herrlichen Blick auf die Skyline von Vancouver werfen In der Richtung, in der die Marathonis laufen, ist nie Verkehr, denn auf der Dunsmuir Street fährt man nur in die Stadt hinein

In der Richtung, in der die Marathonis laufen, nämlich von Downtown weg, ist auf ihr nie Verkehr. Die nahezu durchgängige Einbahnstraßenregelung in der Innenstadt, die zusammen mit dem oft existierenden Verbot links abzubiegen dafür sorgt, dass selbst Ortskundige gelegentlich die eine oder andere Ehrenrunde um ihr Ziel drehen, setzt sich auch hier fort. Auf der Dunsmuir Street fährt man nur in die Stadt hinein. Die Georgia Street, deren ebenfalls hochgelagerte Fahrspuren auf der anderen Seite des Eishockeystadions vorbeilaufen, führt aus ihr heraus.

Wer von den Marathonis einmal den Kopf drehen würde, könnte über die Schulter einen herrlichen Blick auf die beeindruckende Skyline von Vancouver werfen. Rund fünfzig Gebäude haben bereits die Einhundert-Meter-Marke überschritten. Noch einmal doppelt so viele – nicht nur Büro- sondern auch Wohnhäuser – ragen mindestens achtzig Meter in die Höhe.

Es geht nicht so weit nach oben wie in New York, Chicago oder Toronto. Der höchste Turm, der gerade erst fertig gestellte „Living Shangri-La“ misst „nur“ fast exakte zweihundert Meter. Da gibt es auch in Frankfurt zum Beispiel deutlich höheres. Doch können in ganz Nordamerika vielleicht gerade einmal eine Handvoll Städte eine ähnliche Dichte bieten.

Die Bebauung auf den nächsten Marathonkilometern ist jedoch erst einmal wieder eher niedrig gehalten. Und das wirklich allerbeste Viertel ist Strathcona, durch das man nun läuft und den am weitesten östlich gelegen Punkt des Kurses erreicht, nun auch nicht gerade. Vielleicht kein sozialer Brennpunkt wie die benachbarte Eastside. Doch die reicheren Vororte liegen auch in Vancouver eher weiter vom Zentrum entfernt.

In dem bunten Mix aus alten kleinen Holzhäuschen und unpersönlichen Wohnblocks spielt plötzlich eine Mariachi-Kapelle. Ein Zeichen für die kulturelle Vielfalt der Stadt. Doch so langsam hat man sich schon an eher unübliche musikalische Begleitung am Streckenrand gewöhnt, die von den Organisatoren wohl ganz bewusst als abwechselndes Element eingesetzt wird.

Natürlich stehen ab und zu auch einmal nur Lautsprecherboxen, aus denen dann zum Beispiel der in Kanada geborene und in Vancouver aufgewachsene Bryan Adams im allseits bekannten Lied den schönsten Sommer seines Lebens besingt. Aber neben den anscheinend inzwischen weltweit unverzichtbaren Sambatrommlern schlagen da auch ihre japanischen Kollegen auf die Felle ihrer Taiko genannten noch wesentlich größeren Instrumente. Auch eine Steelband mit karibischen Rhythmen ist da unterwegs zu hören. Und selbstverständlich sieht man auch die Hüte einer Country-Band am Straßenrand.

Sie stehen zwar nicht in Gastown, in das man nach gut fünfzehn Kilometer einläuft, sondern haben ihre Instrumente schon zehn Kilometer früher im Einsatz gehabt. Doch hier hätte man sie sich auch ziemlich gut vorstellen könne. Gastown ist nämlich der älteste Stadtteil, an dieser Stelle liegen die Wurzeln von Vancouver.

Und noch einige Gebäude aus der Pionierzeit sind erhalten und inzwischen wieder bestens restauriert. Souvenirläden, Cafés und Restaurants wechseln sich ab und machen Gastown für auswärtige Besucher zu einem der beliebtesten Orte Vancouvers. Wobei die Grenzen zwischen Sehenswürdigkeit und Touristenfalle wie so oft auf der Welt ziemlich fließend sind.

Der seltsame Name des Viertels hat jedoch nichts mit Gas oder Benzin, das man ja im nordamerikanischen Englisch in der Regel „gas“ nennt, zu tun. Er ist vielmehr vom Spitznamen des Wirtes John Deighton abgeleitet, der – nachdem sich einige Sägewerke in der Gegend niedergelassen hatten – eine Marktlücke erkannte und 1867 einen Saloon eröffnete, abgeleitet.

„Gassy Jack“, den „geschwätzigen Jakob“, nannte man ihn wegen seiner Großmäuligkeit schnell. Und genauso schnell hatte die Siedlung, die um die Kneipe herum entstand, ihren Namen weg. Das Denkmal, das man ihm inzwischen errichtet hat und ihn auf dem Whiskeyfass zeigt, mit dem er der Legende nach in British Columbia ankam, können die Marathonis nur erahnen. Es steht einen Straßenblock entfernt.

Der herrliche Blick auf die Skyline von Vancouver im Rücken Zumindest dieses nach oben verlegte kleine Stück der wichtigen Zufahrtsstraße zur Innenstadt ist autobahnähnlich ausgebaut

Und auch um an der Steam Clock, einer Uhr, die alle Viertelstunde statt eine Glocke zu läuten eine Melodie auf Dampfpfeifen spielt, vorbei zu kommen, müsste man durch die Parallelstraße laufen. Diese mit Wasserdampf betriebene Uhr ist eine absolute Rarität. Nur noch wenige weitere existieren in der Welt. Und die in Vancouver ist mit Abstand die bekannteste.

Alle fünfzehn Minuten versammeln sich die Touristen vor ihr. Sie gehört längst zu einem Vancouver-Trip wie selbstverständlich dazu, ist inzwischen eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt. Und vielleicht ist es auch durchaus bezeichnend für ihren Charakter, dass ausgerechnet eine nur wenige Meter hohe Standuhr zum Wahrzeichen einer Millionenmetropole werden konnte.

Nur wenige Schritte sind es für die Marathonläufer von Gastown zur Waterfront Station. Mit dem Bahnhof, vor dem wieder einmal eine Getränkestelle aufgebaut ist, hängt eine weitere bedeutende Episode bei der Stadtwerdung Vancouvers zusammen. Nicht mit dem neoklassizistischen Gebäude selbst, das wurde erst 1912 errichtet, nachdem sein Vorgängerbau abgerissen worden war. Aber mit dem Endpunkt der transkontinentalen Eisenbahn, der an dieser Stelle lag, bis man in den Siebzigern in einen neueren Bahnhof Pacific Central in der Nähe des Weltausstellungsgeländes umzog.

Nachdem die Kolonialregierung von British Columbia die Siedlung Gastown ordentlich vermessen und abgesteckt hatte, erhielt sie zu Ehren eines britischen Ministers den Namen „Granville“. Doch 1885, fünfzehn Jahre später wurde der natürliche Hafen, den die Bucht hier bot, als westliche Endstation der Canadian Pacific Railway auserkoren.

Der Bau einer Eisenbahnlinie durch die noch nahezu unbesiedelten Prärien und Gebirge in der Mitte des weiten Landes war – neben der Übernahme sämtlicher finanzieller Verpflichtungen – eine der Bedingungen für den Beitritt von British Columbia zur Kanadischen Föderation gewesen. Eigentlich sollte sie innerhalb von zehn Jahren fertig sein. Ein wenig länger dauerte es dann aber doch.

Und die Eisenbahn, insbesondere ihr Präsident William Cornelius Van Horne, setzte am Ende durch, dass der Name der Endstation in „Vancouver“ geändert wurde. Schließlich wüssten viele im Osten, wo Vancouver Island – das damals schon längst nach dem Seefahrer benannt war – liege, nämlich an der Westküste. Aber niemand würde eine kleine Siedlung namens Granville kennen.

Eigentlich ein cleverer Schachzug. Doch die heute vor allem in Europa üblichen Verwechslungen der Insel und der Stadt, die eben gerade nicht auf ihr liegt, sondern auf dem gegenüberliegenden Festland, hat genau darin ihren Ursprung. Jedenfalls wurde am 6. April 1886 offiziell die „City of Vancouver" gegründet.

Heute enden in der Waterfront Station nur noch die schon erwähnten Vorortzüge, deren Strecke entlang der Burrard Inlets nach Osten führt. Und es beginnen die beiden Skytrain-Linien, die erst einmal einen großen Bogen unter der Innenstadt schlagen, bevor sie am Eishockeystadion ans Tageslicht treten und ihrem Namen gerecht werden. Außerdem bringt auch noch der sogenannte SeaBus von hier aus Fahrgäste nach North Vancouver ans andere Ufer.

Der Bahnhof – obwohl ein durchaus imposantes Gebäude – duckt sich schon zwischen den Hochhäusern. Der Marathon taucht mit Kilometer sechszehn in die Hochhausschluchten von Downtown ein. Zwar ist auch Vancouver eine typisch nordamerikanische Stadt mit einem rechtwinklig angelegten Straßensystem – das allerdings in der Innenstadt durch die nach Nordwesten zeigende Form der Halbinsel ein wenig aus dem Winkel geraten ist – doch fällt dessen Gestaltung deutlich aufgelockerter und grüner aus als an vielen anderen Orten.

Das hat wenig von den durchgängigen, kalten Häuserfronten, die man zum Beispiel in New York findet und Straßen wirklich nur noch zu Verkehrskanälen macht. Immer wieder öffnen sich kleine Plätze zwischen den Wolkenkratzern. Auch das eine oder andere Straßencafé findet tatsächlich seinen Platz.

Und überall sind kleine und große Beete angelegt, aus denen es in allen nur erdenklichen Farben blüht. Die Gärtner von British Columbia sind gut, das milde und feuchte Klima ist ideal und die Jahreszeit ist perfekt. Vielleicht hat man den Marathon auch genau deshalb auf Anfang Mai gelegt, um den Besuchern die Stadt wirklich in ihrem schönsten Moment zu zeigen.

Im ältesten Stadtteil Gastown liegen die Wurzeln von Vancouver Noch einige Gebäude aus der Pionierzeit sind erhalten und inzwischen wieder bestens restauriert Die Waterfront Station war einmal der Endpunkt der transkontinentalen Eisenbahn

Auch die Hochhaustürme sind keineswegs nur grobe, kalte, rechtwinklige Klötze. Man merkt ihnen an, dass die meisten maximal ein bis zwei Jahrzehnte auf dem Buckel haben. Verspielte und gebogene Formen, aus dem Winkel laufende Kanten, Säulen, Erker, Glasfronten in unterschiedlichster Ausgestaltung. Da hat sich so mancher Architekt verwirklicht. Beim Schlendern durch die Stadt wird es jedenfalls nie langweilig. Unzählige immer neue Details und Perspektiven lassen sich entdecken.

Nicht alles können die Streckenplaner den Marathonläufern vorführen. Die neue in ihrer runden Bauart ein wenig ans Kolosseum erinnernde riesige Stadtbücherei bleibt während des Rennens verborgen. Die ist zwar nicht allzu weit entfernt, liegt aber an der wichtigsten Hauptverkehrsstraße quer durch die Stadt. Und angesichts des eher schwach ausgebauten Nahverkehrsnetzes ist es eigentlich nicht möglich die gesamte Stadt völlig lahm zu legen.

Doch Canada Place hätte man ruhig noch mitnehmen können. Denn dorthin wäre es von der Waterfront Station wirklich nur ein kleiner Schlenker zum echten Wasser des Burrard Inlets gewesen. So müssen sich die Marathonis bei diesem weiteren Wahrzeichen der Stadt mit einem kurzen Blick eine Querstraße hinunter begnügen.

Dieses auf einem Kai ins Meer hinaus errichtete Gebäude hat nun wirklich etwas Unverwechselbares und einen hohen Wiedererkennungswert. Ein wenig erinnert die Dachkonstruktion schon an die Segel der einst hier anlegenden Klipper. Und das soll sie wohl auch. Segler ankern heute zwar nicht mehr an dieser Stelle. Doch mit schöner Regelmäßigkeit laufen Kreuzfahrtschiffe in den Hafen ein und machen es sich links und rechts des Canada Place bequem.

Das Messe- und Kongresszentrum wurde ebenfalls zur Weltausstellung errichtet und war damals der kanadische Pavillon. Inzwischen ist daneben ein zweiter Bau mit ähnlicher Funktion als Erweiterung entstanden. Ebenfalls auf Stelzen in die Bucht hinaus geschoben. Ebenfalls mit ziemlich markanter Architektur. Eine noch nicht ganz fertige Promenade führt um seine auffällig schrägen Fronten herum. Auch im weiteren Verlauf der Ufers wird an ihr fleißig gewerkelt. Vancouver macht sich unübersehbar fein für Olympia.

Während der Spiele soll das neue Gebäude mit dem Grasdach als Pressezentrum dienen. An diesem Wochenende halten darin erst einmal die kanadischen Liberalen ihren Parteitag ab. Wobei man dabei nicht den Fehler machen darf, in diesen Begriff die deutsche Bedeutung hinein zu interpretieren. Denn „liberal“ kann in Nordamerika durchaus auch einmal Positionen bedeuten, die bei uns als „sozialdemokratisch“ bezeichnet würden. Und insbesondere für die stramm Konservativen in den USA ist liberal ein Schimpfwort, das gleich nach kommunistisch kommt.

Ganz so stellt sich das in Kanada nicht dar. Die Liberalen sind dort eine – oder besser die – Partei der Mitte, die links von den Neuen Demokraten und rechts von den Konservativen flankiert wird. Eine kanadische Besonderheit ist dabei die Tatsache, dass die Parteien auf Provinz- und Bundesebene in der Regel organisatorisch völlig unabhängig voneinander sind. So hat die British Columbia Liberal Party zwar einen ziemlich ähnlichen Namen, ein bloßer Landesverband ist sie aber mitnichten.

Sie muss in der Westprovinz auch einen deutlich größeren Teil des Spektrums rechts der Mitte abdecken, weil es überhaupt keine nennenswerte konservative Partei gibt. Nicht ganz zufällig, kommt damit doch auch die gegenüber den Prärieprovinzen deutlich größere Weltoffenheit British Columbia zum Ausdruck. Weiter südlich in Oregon und insbesondere in Washington bekommen die konservativen Republikaner in den letzten Jahrzehnten ja ebenfalls kaum noch einen Fuß auf den Boden. Auch in Bezug auf die politische Einstellung ist man sich im pazifischen Nordwesten auf beiden Seiten der Grenze ziemlich ähnlich.

Noch zwei weitere Gebäude an der Marathonstrecke stechen in dieser Ecke der Stadt sofort ins Auge. Da ist zum einen das knapp 150 Meter hohe Harbour Centre gegenüber dem Bahnhof. Auch dieser Turm war eine Zeit lang das höchste Gebäude der Stadt und der Provinz. Erst in diesem Jahrtausend wurde es abgelöst und behauptet noch immer eine Position in den Top Five. Auffällig ist allerdings vor allem das auf den ansonsten eigentlich recht unspektakulären Bau aufgesetzte Drehrestaurant. Doch um das beim direkten Vorbeilaufen zu erkennen, muss man den Kopf schon ganz schön weit ins Genick legen.

Auf das im Stil des Art Déco Marine Building laufen die Marathonis genau zu Die Marathonis müssen sich mit einem kurzen Blick auf die an die Segel erinnernde Dachkonstruktion des Canada Place begnügen Ab und an auch ein paar Zuschauer am Streckenrand

Da haben es die Marathonis mit dem Marine Building schon deutlich leichter. Denn auf dieses laufen sie genau zu, biegen davor links und gleich wieder rechts ab. Auch dieser in den Dreißigern im Stil des Art Déco errichtete Wolkenkratzer war mit seinen knapp einhundert Metern einmal das höchste Gebäude der Stadt, bevor es nach einem Jahrzehnt von dem ein wenig an ein Loire-Schloss erinnerndes Fairmont Hotel Vancouver – das man nach dem ersten Schwenk in der Ferne erkennen kann – abgelöst wurde.

Irgendwo im Gewirr der Glaspaläste steht nur einen Häuserblock entfernt auch der Turm des Marathon-Hauptsponsors BMO. Wie inzwischen ziemlich oft handelt es sich dabei um eine Bank. Ein wenig feine Ironie liegt allerdings schon darin, dass ausgerechnet die „Bank of Montreal“ als Finanzier des Rennens in Vancouver auftritt.

Nur wenig später weiten sich die Schluchten schon wieder. Selbst wenn die Häuser noch immer ziemlich weit in den Himmel ragen, sind die zu Wohnzwecken errichteten von ihnen meist in zum Teil recht weitläufige Grünanlagen eingebettet. Außerdem nähert man sich auch langsam dem Stanley Park.

Dieser größte städtische Park Kanadas schließt praktisch direkt an Downtown an. Stellt man sich die Innenstadt Vancouvers als abgespreizten Daumen vor, so ist der Stanley Park der Daumennagel, allerdings ein ziemlich platt geklopfter. Denn zur Spitze hin wird die zwischenzeitlich schmaler gewordene Halbinsel noch einmal deutlich breiter.

 Künstlich angelegt ist im nach einem früheren kanadischen Gouverneur – der gleiche, der auch den Stanley-Cup stiftete – benannten Park allerdings das wenigste. Größtenteils handelt es sich um natürlichen Wald, durch den man einfach nur etliche Spazier- und Radwege gelegt hat.

An einige Stellen findet man sogar noch jenen völlig ursprünglichen, urwaldartigen Bewuchs – der sogenannte „old-growth forest“ – mit Hunderte von Jahren alten, moosbewachsenen Bäumen, dem man an der kanadischen Westküste und insbesondere auf den vorgelagerten Inseln – Vancouver Island ist da keine Ausnahme – noch in wesentlich ausgeprägterer Form begegnen kann.

Daraus resultiert ein stetiger Konflikt zwischen der in der Provinz noch immer bedeutsamen Holzwirtschaft und Naturschützern. Mit je nach Vorhaben, einmal massiven Protesten der einen und das nächste Mal mit Demonstrationen der anderen Seite.

Während einerseits noch immer ganze Hänge völlig kahl geschlagen – man spricht dabei tatsächlich von „harvested“ also „geerntet“ – und später mit schnell nachwachsenden Baumarten wieder aufgeforstet werden, stehen andererseits immer größere Flächen unter Schutz, sind als Provinz- oder gar Nationalparks ausgewiesen. Denn unberührte Natur ist für den stetig wachsenden Tourismus in der Region andererseits ebenso enorm wichtig. Die für alle Interessen passende Lösung bei diesem Spagat hat man bisher noch nicht gefunden.

Der längste der Parkwege, der Seawall, führt rund zehn Kilometer fast durchgängig am Ufer entlang um die ganze Halbinsel herum. Nimmt man die am Canada Place beginnende Promenade am einen und den um den gesamten False Creek herumführenden Uferweg am anderen Ende hinzu ergeben sich sogar rund zwanzig nahezu völlig kreuzungsfreie Kilometer. Es ist die Haupttrainingsstrecke für die Läufer, Radfahrer und Skater Vancouvers. Auch die Marathonstrecke schwenkt am Parkeingang auf ihn ein.

Sicher hat der für kanadische Verhältnisse recht hohe Zuspruch beim Vancouver Marathon auch etwas mit der herrlichen Lage der Stadt zu tun. Und die Organisatoren geben sich beim Zuschnitt des Kurses die größte Mühe diese den Läufern näher zu bringen. Denn vom Seawall aus bietet sich eine wahrhaft herrliche Aussicht auf die Skyline der Stadt. Über unzählige Boote in der als Coal Harbour bezeichneten Bucht wandert der Blick hinüber zu den Hochhäusern, die man noch vor Kurzem durchlaufen hat.

Doch vom Fußweg, auf den man nur ausgewichen war, um eine wichtige Hauptstraße nicht zu berühren, wechselt man bald wieder hinüber auf die ein Stück weiter oben am Hang parallel verlaufende Panoramastraße. Die ist zwar ein wenig welliger, bietet aber – wenn sie nicht wieder einmal in einem Wäldchen verschwindet – fast noch bessere Sicht. Auch sie ist nur gegen den Uhrzeigersinn als Einbahnstraße zu befahren. Doch diesmal halten sich die Marathonis an die Richtungspfeile der Verkehrsschilder.

Überall blüht es in Vancouver um diese Jahreszeit in allen nur erdenklichen Farben

Kurz nachdem ein anderes Schild am Straßenrand nach links zu den dort aufgestellten Totempfählen – ein beliebtes Fotomotiv, ohne das kaum ein Buch über Vancouver auskommt – gewiesen hat, taucht auf der anderen Seite das lebensgroße Denkmal von Harry Jerome auf. Der einstige Gegner von Armin Hary und Olympia-Bronzemedaillen-Gewinner von 1964, der in British Columbia aufwuchs, kommt den Läufern auf seinem Sockel entgegen gesprintet.

Die Statue ist ein fast noch beliebteres Ziel für Kamerafreunde. Denn den Yachthafen hat man hier schon hinter sich gelassen. Und der Blick übers Wasser hinüber zum Segeldach des Canada Place ist frei. Der Sprinter im Vorder- und die Skyline im Hintergrund fügen sich zu einem idealen Bild zusammen. Kaum jemand, der an dieser Stelle nicht auf den Auslöser drückt.

Doch nur noch kurz ist die Stadt zu sehen. Am Brockton Point, dem von einem Leuchtturm bewachten nordöstlichsten Punkt des Parks, dreht man ihr endgültig den Rücken zu. Die bewaldeten Hügel, die sich nun zwischen Skyline und Läufer schieben, würden es aber sowieso verhindern. Dafür hat man nun die North Shore Mountains vor sich.

Und zudem die Lion‘s Gate Bridge, die von der Spitze des Stanley Parks den Bogen hinüber auf die Nordseite des Fjords schlägt. Nur halb so lang wie die Golden Gate Brücke, mit deutlich geringerer Spannweite und niedrigeren Pfeilern ausgestattet, hat sie mit sechzig Metern dennoch eine ähnliche Durchfahrtshöhe, die auch großen Seeschiffen das Einlaufen in den Hafen gestattet. Und für die Stadt und die Region Vancouver hat sie auch eine ähnliche Bedeutung wie der große Bruder im Süden für San Francisco und die Bay Area.

Ausgerechnet traurig vor sich hin wimmernde Dudelsäcke kündigen die Halbzeitmarke an. Irgendwie stimmig zu den ziemlich schwermütigen Melodien hat sich auch das Wetter eingetrübt. Die Welt am Burrard Inlet ist grau in diesem Augenblick. Das stellt jedoch nur eine kleine Momentaufnahme dar. Sie wird sich wieder etwas aufhellen. Denn später gelingt es der Sonne durchaus erneut Lücken in die Wolkendecke zu reißen. Über die Witterung können sich die Marathonis nun wirklich nicht beschweren. Viel läuferfreundlicher geht es kaum noch.

Während die äußeren Bedingungen und die Musik ziemlich gut harmonieren, passen die Totempfähle im Hintergrund, an denen man nun von der anderen Seite und noch näher ein zweites Mal vorbei läuft, so gar nicht zur Highland-Stimmung. Ein für Vancouver allerdings absolut nicht untypischer Kontrast.

Schon seit fast hundert Jahren stehen die ältesten dieser farbenprächtigen Schnitzarbeiten im Stanley Park. Nachdem sie wohl allzu oft als Klettergerüste missbraucht wurden, sind sie inzwischen durch einen Graben zumindest einigermaßen vor allzu aufdringlichen Touristen geschützt.

Doch selbst wenn man schon kurz nach der vorletzten Jahrhundertwende diese Bestandteile der indianischen – in Kanada spricht man inzwischen offiziell von „First Nations“ und bezieht damit gleich die Inuit weiter im Norden mit ein – Kultur als exotische Zier zur Schau stellte, bekamen die Künstler erst Anfang der Sechziger Wahl- und Bürgerrechte zugestanden. Übrigens erhielten auch die Kanadier asiatischer Abstammung das Recht zu wählen erst nach dem zweiten Weltkrieg.

Gerade die Tatsache, dass man jegliche Sonderregelungen für die Urbevölkerung abschaffen wollte, führte dazu, dass sich in den Siebzigern eine indianische Gegenbewegung bildete. Inzwischen haben sie wieder einige Landrechte gegen die Bundes- und Provinzbehörden erstritten. In British Columbia gelten drei bis vier Prozent der Bevölkerung als Angehörige der First Nations. Deutlich mehr als noch vor wenigen Jahrzehnten. Was nicht nur an steigenden Geburtenraten liegt sondern auch daran, dass sich wieder viele Kanadier zu ihren Wurzeln bekennen.

Immer wieder öffnen sich kleine Plätze zwischen den Wolkenkratzern

Die Vorstellung von in Zelten lebenden, berittenen Büffeljägern, die viele Europäer von Indianern haben, ist hierbei genauso banal wie falsch. An der zerklüfteten kanadischen Westküste haben sie eine völlig andere sesshafte Kultur entwickelt, die sich zum Meer hin orientierte und hauptsächlich auf Fischfang ausgerichtet war. Totempfähle gibt es auch ursprünglich nur in British Columbia. Was sollte auch ein nomadischer Prärieindianer mit seinem in Holz geschnitzten Wappen?

Wer im Vorfeld des Marathons ein wenig die Augen offen gehalten hat, dem sind die unverhältnismäßig vielen blau-gelben Jacken, Pullover und T-Shirts aufgefallen. Während des Marathons tauchen ebenfalls wieder etliche Trikots in dieser Kombination auf. Es sind die Farben des Boston Marathons und unter dem dazugehörigen Einhorn-Logo steht in der Regel die Zahl 2009. Auch Kanadier sind nicht ganz frei von Eitelkeit.

Und mit dem Vorführen der Souvenirs, die man bei der Teilnahme an der gerade einmal dreizehn Tage zuvor stattgefundenen Mutter aller Stadtmarathons erworben hat, hebt man sich von der Masse halt ein wenig ab. Boston hat aufgrund seiner unglaublichen Tradition – die Zählung ist inzwischen bei 113 Austragungen angekommen – seinem weltweit nur schwer zu überbietendem Publikum und seinen auch weiterhin geforderten Qualifikationsleistungen schließlich nicht nur in den USA sondern auch in Kanada Kultstatus.

Bevor die dortigen Organisatoren im Zuge der Kommerzialisierung des Laufsports auch tiefer in die Tasche griffen, um internationale Stars anzuheuern, und vor etwa zwanzig Jahren langsam die Dominanz der Afrikaner begann, standen auch etliche Kanadier in Massachusetts auf dem Treppchen. Gleich viermal war dabei der aus Québec stammende Gerard Coté erfolgreich. Und mit Tom Longboat dem Sieger vom 1907, findet man auch einen kanadischen Indianer in den Annalen.

Das Trikot von Karen Wiggans ist zwar nicht blau oder gelb sondern orange. Doch auch sie war nicht einmal zwei Wochen zuvor in Boston dabei. Zum vierten Mal, wie sie nicht ohne Stolz bemerkt. Doch Vancouver sei nun mal ihr Hausmarathon. Sie stammt aus der Vorortgemeinde Delta im Süden. Und außerdem wäre das ihr „lucky 13th“, also ihr dreizehnter Marathon insgesamt. Nicht für jeden ist dreizehn also eine Unglückszahl.

Ihre Heimatstadt Delta ist Grenzgemeinde. Sie beginnt genau nördlich des neunundvierzigsten Breitengrades, auf den sich das britische Königreich und die Vereinigten Staaten 1846 nach etlichen Jahren als Kompromiss für die Grenzziehung durch das umstrittene und bis dahin gemeinsam verwaltete Gebiet im Nordwesten geeinigt hatten. Eine Zeit lang hatte wegen der bis dahin unvereinbaren Ansprüche sogar ein weiterer Krieg gedroht.

Damit wurde die bereits seit 1818 bis zu den Rocky Mountains gehende mit dem Lineal gezogene Linie zwischen beiden einfach weiter nach Westen verlängert. Von der Westküste bis zum Lake of the Woods in Minnesota bzw. Ontario zieht sich die „borderline“ kerzengerade durch den halben Kontinent. Nirgendwo auf der Welt gibt es etwas Ähnliches zwischen zwei Staaten.

Obwohl – einmal abgesehen von Alaska – die USA nirgendwo weiter nach Norden vorstoßen, die meisten kanadischen Städte südlich dieser Linie liegen und auch der Großteil der kanadischen Bevölkerung dort lebt, wird aufgrund seiner geographischen Dominanz der „49th parallel“ in den Medien gerne einmal als Synonym für die gesamte kanadisch-amerikanischen Grenze benutzt.

Die – in doppeltem Wortsinn – Geradlinigkeit mit der man diese Regelung umsetzte, führt in Delta zu einem ziemlichen Kuriosum. Denn eine kleine Halbinsel ganz im Westen, Point Roberts, gehört – weil südlich des Breitengrades gelegen – zwar zu den USA, ist aber nur von Kanada aus zu erreichen. Die Bucht zwischen dieser und dem Kernland dehnt sich nämlich zu weit nach Norden und damit dummerweise auf kanadisches Territorium aus.

Triathlet Jim Greenough (links) aus dem kalten Edmonton läuft seinen ersten Marathon Die zu Wohnzwecken errichteten Hochhäuser sind in weitläufige Grünanlagen eingebettet Der Stanley Park, der größte städtische Park Kanadas schließt praktisch direkt an Downtown an

Von Delta aus, genauer gesagt von Tsawwassen – eine unverkennbar indianische Bezeichnung – legen auch die Fähren nach Vancouver Island ab. Schiffe sind an der wild zerklüfteten Küste mit ihren unzähligen Fjorden, Buchten und Inseln eines der wichtigsten Verkehrsmittel. Nicht nur Vancouver Island sondern auch etliche kleinere Inseln werden von den BC Ferries – die größte Fährgesellschaft Nordamerikas – angesteuert. Und selbst viele Orte auf dem Festland sind nur über ihre Schiffe zu erreichen.

Die riesigen Fähren fahren vom ins Meer hinaus gebauten Terminal hinüber zur Stadt Victoria, dem neben Vancouver zweiten wichtigen urbanen Zentrum British Columbias. Und sie fahren von Tsawwassen aus nach Süden. Denn die Insel – da im Gegensatz zum Festland schon sehr früh offiziell in britischem Besitz – ist vom Grenzziehungskompromiss ausgenommen.

Victoria, das seinen Namen wenig überraschend von der englischen Königin hat, und eben nicht Vancouver ist auch die Hauptstadt der Provinz. Denn als 1866 die Insel- und die Festlandskolonie zu „British Columbia“ vereinigt wurden, war Victoria bereits eine größere Stadt, während Vancouver noch gar nicht existierte. In der ziemlich britisch wirkenden Provinzkapitale gibt es ebenfalls einen Marathon, immer im Oktober. Und auch er zählt mit über zweitausend Läufern auf der langen Distanz zu den größten des gesamten Landes.

Kurz vor der Lion’s Gate Bridge schwenkt der Marathonkurs vom Ufer weg und schneidet quer durch den Stanley Park zurück Richtung Innenstadt. Da geht es zwar durchaus auch bergauf. Doch wäre man auf dem Scenic Park Drive geblieben, wie es zuvor der Halbmarathon getan hat, bei dem die Halbinsel komplett umrundet wird, hätte man noch eine deutlich heftigere Rampe vor sich gehabt. Denn die Ringstraße führt nicht unter der Brückenauffahrt hindurch sondern in einem großen Bogen über sie hinweg.

Früher mussten auch die Marathonis sie bewältigen. In einem Versuch die Strecke zumindest ein wenig schneller zu machen, haben die Organisatoren jetzt eine andere Variante gewählt. Unweit des Punktes, an dem man vorhin in den Park hinein gelaufen war, und nachdem man mit dem in allen Farben blühenden Rosengarten – eine der wenigen künstlich angelegten Zonen des Parks und entgegen seinem Namen keineswegs nur mit Rosen bepflanzt – passiert hat, darf man die Zufahrtsstraße zur Brücke nun unterqueren.

Den Stanley Park verlässt man damit aber noch nicht. Rund ein Fünftel der Strecke wird in der grünen Lunge Vancouvers absolviert. Und damit hat man ihn bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Über vier Quadratkilometer nimmt er schließlich ein und übertrifft damit den Central Park von New York um mehr als sechzig Fußballfelder.

Nicht nur einmal hat der Stanley Park sein viel bekannteres Gegenstück auch schon gedoubelt. Vancouver ist nämlich eine der wichtigsten Filmproduktionsstätten in Nordamerika. So mancher vermeintlich amerikanische Streifen wurde in Wahrheit in British Columbia gedreht. Und dank seiner Vielfalt kann Vancouver dann auch schon einmal als New York, Chicago oder Toronto dienen. Selbst als Los Angeles – der eigentlichen Hauptstadt der Filmindustrie – durfte man aufgrund deutlich niedrigerer Produktionskosten schon herhalten.

Viele Schauspieler, die man in Europa für US-Amerikaner hält, sind ebenfalls Kanadier. Wieder so ein Anlass für die gelegentlichen Minderwertigkeitskomplexe Kanadas gegenüber dem dominanten Nachbarn. Das frühere Teenager-Idol Michael J. Fox, die Komiker John Candy, Leslie Nielsen und Dan Aykroyd, Charakterdarsteller Donald Sutherland und die in etlichen Western die Vorzeigeindianer gebenden Chief Dan George und Graham Greene wurden allesamt im Lande des Ahornblatts geboren. Auch der Namensvetter des letzteren Lorne Greene, in Deutschland eher als „Ben Cartwright“ bekannt, stammt keineswegs aus dem Wilden Westen sondern aus Ontario.

Und ohne Kanadier hätte es die Enterprise nie abgehoben. „Kirk“ William Shatner und “Scotty” James Doohan gingen mit kanadischen Pässen auf Weltraumreise. Dass die Form des Drehrestaurants auf dem Harbour Centre mit der Form der Kommandobrücke zu tun hätte, ist übrigens nur ein Gerücht. Wem diese Aufzählung jetzt viel zu männerlastig war, dem sei noch gesagt, dass der Inbegriff des südkalifornischen Strandgirls Pamela Anderson eigentlich in der Nähe von Vancouver aufwuchs.

Der längste der Parkwege, der Seawall, führt um die ganze Halbinsel herum Vom Seawall aus bietet sich eine herrliche Aussicht auf die Skyline der Stadt

Um die Lost Lagoon, einen großen künstlichen Teich, über den hinweg man wieder einen herrlichen Blick auf die Stadt hat, herum führt die Strecke. Die Elite leitet man dabei noch über die oberhalb verlaufende Straße. Das Mittel- und Hinterfeld umrundet ihn dagegen auf einem Schotterpfad direkt am Ufer. Dass beide Varianten wirklich auf den Meter gleich lang sind, ist eher zu bezweifeln, doch angesichts der Gesamtstreckenlänge eigentlich auch ziemlich egal.

Nach über acht Kilometern verlässt man den Park bei Kilometer sechsundzwanzig dann aber doch. Langweilig oder unansehnlich wird die Marathonstrecke deshalb allerdings keineswegs. Denn auch wenn auf der linken Seite der Straße nun wieder Bebauung herrscht, rechts ist nichts als das Meer. Davor wartet mitten in der Stadt ein Sandstrand, es ist beleibe nicht der einzige in Vancouver. Doch ist an ihnen das Baden eher in der Sonne als im Wasser zu empfehlen. Selbst im Hochsommer erreicht das nämlich selten Temperaturen jenseits der zwanzig Grad.

Dort wo die English Bay sich verengt und zum False Creek wird, verabschiedet man sich erstens von Strand und Meer und beginnt zweitens der Anstieg zum höchsten Punkt der Strecke. Obwohl die Halbmarathonläufer, die seit dem Parkausgang wieder dem gleichen Kurs wie die Langstreckler folgen, die Brücke gar nicht überqueren, müssen auch sie trotzdem den ersten Teil der Steigung mit hinauf.

Auf der Kuppe des Hügels können sie, während den Marathonis noch ein Drittel der Distanz fehlt, deren größter Teil nun auf der anderen Seite der English Bay und damit der Burrard Street Bridge absolviert wird, allerdings geradeaus den letzten Kilometer zum Ziel hinunter ansteuern.

Wie längst üblich machen zwei Kenianer den Sieg unter sich aus. Willy Kimosop gewinnt am Ende in 1:05:03 mit neun Sekunden Vorsprung vor seinem Landsmann Kip Kangogo. Und doch ist etwas unüblich. Denn die beiden sind keineswegs Profiläufer, die von einem Rennen zum nächsten tingeln. Sie studieren an der Universität von Lethbridge in der Provinz Alberta. Aber natürlich sind ihre athletischen Fähigkeiten im Leichtathletikteam der Hochschule dennoch gern gesehen. Der dritte Lethbridge-Kenianer, Kip Kangogos jüngerer Bruder Ed wird nach schnellem Beginn am Ende in 1:11:42 nur Neunter.

Die nächsten beiden Plätze gehen hinüber nach Vancouver Island. Sowohl der Dritte David Jackson (1:08:43) wie auch der Vierte James Finlayson (1:09:32) kommen aus Victoria. Mit Jeff Symonds aus Penticton im Herzen von British Columbia in 1:09:52 bleibt noch ein fünfter Läufer unter der Siebzig-Minuten-Marke.

Frauensiegerin Lioudmila Kortchaguina stammt zwar, wie ihr Name kaum verbergen kann, aus Russland, ist allerdings seit einigen Jahren in Kanada eingebürgert. Gerade einmal achtzehn Männer sind im Ziel, als sie nach 1:17:11 einläuft. Eine Minute und eine Sekunde später ist Kristina Rody aus Burnaby, einem Vorort von Vancouver im Ziel. Nur einen Gesamtplatz dahinter vervollständigt Cheryl Murphy – ebenfalls aus Victoria – das Podest. Mit einer Endzeit von 1:19:30 ist ihr Rückstand auf die Zweite aber dennoch ziemlich eindeutig.

Nur wenige Minuten nach den schnellsten Halbmarathonfrauen sind auch die ersten der passender Weise um acht Uhr gestarteten Läufer der acht Kilometer zurück. Sie haben ihr Rennen auf dem ersten Teil der Marathonstrecke absolviert. In 28:50 ist Marc-Jason Locquiao aus Delta der Sieger in einem auch qualitativ eher mäßig besetzen Lauf. Schon auf Gesamtrang zwei wird Amanda Stone mit 31:37 gestoppt. Wie ihr männlicher Gegenpart stammt auch sie aus einer Umlandgemeinde von Vancouver, genauer gesagt aus Richmond, wo sich im flachen Mündungsgebiet des Fraser River auch der Flughafen von Vancouver befindet.

Nur dort findet sich an der gesamten ansonsten durchaus an Skandinavien erinnernde Küste von British Columbia überhaupt einmal eine größere Ebene. Dort wo der fruchtbare Boden noch nicht von den Vorstädten Vancouvers überwuchert wurde, wird er deshalb auch intensiv landwirtschaftlich genutzt. Rund die Hälfte aller Agrarprodukte der gesamten Provinz wird hier erzeugt.

Für seinen Entdecker und Namensgeber Simon Fraser war das Mündungsgebiet allerdings eine riesige Enttäuschung. Denn als der Fellhändler der Hudson Bay Company bei seiner Expedition im Jahr 1808 weit im Osten auf einen großen Fluss stieß, ging er ursprünglich davon aus, dass es der Columbia sei. Nachdem er sich jedoch durch die Stromschnellen im engen Canyon des später nach ihm benannten Flusses gekämpft hatte – heute ist dieses landschaftlich beeindruckende Gebiet durch den Trans Canada Highway gut erschlossen – kam er viel zu weit im Norden ans Meer. Es war nicht wie erhofft der Columbia gewesen. Dennoch hatte er am Ende etwas ziemlich wichtiges entdeckt.

Denn auch seine Reise hatte Auswirkungen auf die Geschichte. So wie sich die Vereinigten Staaten auf Gray beriefen, zog das Königreich im Grenzstreit seine Erkundungsfahrt – und die von Alexander MacKenzie, der schon fünfzehn Jahre zuvor noch weiter nördlich als erster Europäer den Kontinent durchquert hatte – aus dem Köcher. Und schließlich blieb der Fraser River dann auch tatsächlich britisch und damit später kanadisch.

Die Promenade im Stanley Park ist die Haupttrainingsstrecke für die Läufer, Radfahrer und Skater Vancouvers

Noch ein paar Höhenmeter mehr als die Halbmarathonläufer müssen die Marathonis klettern, bis sie den höchsten Punkt der Burrard Bridge erreicht haben. Die in den Dreißigern im Art Déco erbaute Brücke mit ihren auffälligen Torbauten ist nicht völlig für den Marathon gesperrt. Nur die beiden äußeren Spuren sind den Läufern vorbehalten. In der Mitte rollt, nachdem das Hauptfeld des die Auffahrt kreuzenden Halbmarathons durch ist, schon wieder der Verkehr.

Rund zehn Kilometer sind nun auf einem zweiten Begegnungsstück im Stadtbezirk Kitsilano zu bewältigen, einer unverkennbar besseren Wohngegend. Nicht allzu weit von der Innenstadt entfernt und doch weit genug von der dortigen Hektik, geht es auf langen Geraden durch Einfamilienhäuser mit blühenden Vorgärten.

Etwas was Jim Greenough besonders auffällt. Denn der M50er stammt aus Edmonton in Alberta, wo es erst seit wenigen Wochen langsam Frühling wird. Wer sich hierzulande über den letzten angeblich so langen und kalten Winter beschwert, dem dürften die Werte, die Jim aus der nördlichsten kanadischen Millionenmetropole – zwar auf der Höhe vom Hamburg gelegen, aber mitten im landesinneren eben nicht golfstrombegünstigt – zu berichten hat, das schiere Entsetzen ins Gesicht treiben.

Zwanzig Grad unter Null seien völlig normal, das komme jeden Winter einige Wochen lang vor. Auch dreißig Grad minus wären durchaus möglich und absolut keine Seltenheit. Wenn der kalte Wind aus dem Norden komme, würden ihn eben keinerlei Berge abhalten. Kein Wunder also, dass Jim das Klima in Vancouver gefällt. Zumindest für Edmonton im Winter ist das Kanadabild vielleicht doch nicht so falsch. Im Sommer allerdings wird es dort auch mit schöner Regelmäßigkeit deutlich über dreißig Grad warm. Da kann Vancouver, wo diese Marke nur in Ausnahmefällen erreicht wird, nicht mithalten.

Jim Greenough läuft seinen ersten Marathon. In Wahrheit aber dann doch auch nicht so ganz, denn eigentlich ist er Triathlet und war im Vorjahr schon beim Ironman Canada in Penticton dabei. Doch nachdem Radfahren angesichts der eisigen Temperaturen in seiner Heimatstadt zuletzt noch weniger möglich war als Laufen, tastet er sich auf diese Art langsam an seinen zweiten Start dort heran.

Eben ist es auch in Kitsilano nicht. Gleich mehrfach geht es kleine Hügel auf und ab. Bei einer Wendepunktstrecke doppelt schwer, muss man sie doch zweimal erklimmen. Dass allerdings zumindest für nordamerikanische Verhältnisse überraschend viele Anwohner an der Straße stehen oder sitzen und die Läufer anfeuern, lässt sie dann aber selbst jenseits der Dreißig-Kilometer-Marke doch nicht ganz so schwer werden.

Auch zur westlichsten Stelle der Strecke, an der man bei Kilometer 34 dann wieder umkehren darf, steigt die Straße noch einmal spürbar und dank der kerzengerade Straße auch gut sichtbar an. Davor können sich alle, denen der Geschmack nicht nach pappigem Gel steht, an der „BMO Candy Corner“ ein paar Gummibärchen in die Backen schieben. Eine ähnlich süße, bei weitem aber nicht so klebrige, allerdings in europäischen Augen wohl doch etwas unübliche Wettkampfverpflegung.

Man läuft eigentlich ständig auf der dem Ufer der Bucht am nächsten gelegenen Straße. Und so öffnen sich immer dann, wenn gerade einmal keine Häuser die Sicht versperren, herrliche Blicke auf die Stadt mit den dahinter aufragenden Bergen. Dass man sich dessen natürlich auch in Vancouver völlig bewusst ist, belegen mehrere kleine Parks die man dort angelegt hat. Der größte von ihnen, der Vanier Park wird durchquert kurz bevor man die Burrard Brücke wieder erreicht. Der Kurs hat sich von der Begegnungsstrecke verabschiedet, auf der man übrigens durchgängig auf der linken Seite gelaufen war, und steuert nun an gleich mehreren im Park errichteten Museen vorbei direkt am Wasser entlang unter der Brücke durch.

Größtenteils besteht der Stanley Park aus natürlichem Wald, durch den man einfach nur etliche Spazier- und Radwege gelegt hat Die Parkstraße ist zwar ein wenig welliger, bietet aber fast noch bessere Sicht

Der mit einem kurzen steilen Stich gewürzte Schlenker, den man anschließend vollführt, um auf ihre Rampe zu kommen, führt unmerklich – wie der Streckenplan aber zeigt – bis auf einen einzigen Straßenblock an die Stelle heran, an der man bereits vierunddreißig Kilometer zuvor auf der ersten Schleife gedreht hat. Oben auf der Brücke wartet dann auf die nun wieder rechts laufenden Marathonis Kilometer vierzig.

Mit dem Schwung des anschließenden Gefälles werden die letzten Meter durch die in den letzten beiden Jahrzehnten am Nordufer des False Creek entstandenen Hochhäuser, die man von der Brücke inklusive dazu gehörendem Bootshafen schon betrachten konnte, leicht. Zumal sich nun auch immer mehr Zuschauer an der Strecke ballen. Vor dem Ziel am BC Stadium drängen sie sich hinter den Absperrgittern, feiern die einlaufende Marathonis und hauchen damit dem eigentlich recht unspektakulären Zielbereich einiges an Leben ein.

Bernard Onsare muss sich den Jubel trotz doppelter Streckenlänge und zeitlichem Abstand doch tatsächlich noch mit den letzten Nachzüglern des Halbmarathons teilen. Und das, obwohl der inzwischen in Calgary heimische Kenianer mit 2:28:26 die schwächste Siegerzeit seit dem Beginn des Marathons in Vancouver läuft.

Befürchten eingeholt zu werden muss er allerdings dennoch nicht. Denn Adam Campbell aus Victoria, der anfangs resolut die Spitze übernommen hatte und alleine vor dem Feld hergestürmt war, und der ebenfalls aus Calgary stammende Duncan Marsden auf Rang zwei und drei sind nach 2:33:33 und 2:33:59 erst fünf Minuten hinter ihm über die Matte.

Bei den Frauen hatte Vorjahressiegerin Mary Akor ebenfalls keine Konkurrenz zu fürchten. Zwar war ihr Ergebnis mit 2:46:24 fast zehn Minuten langsamer als 2008, doch auch die gebürtige Nigerianerin, die längst mit amerikanischen Pass ausgestattet in Kalifornien ansässig ist, war wie etliche andere zwei Wochen zuvor in Boston aktiv und dort in 2:41:09 Dreizehnte. Die nach 2:52:52 Zweitplatzierte Bridget Duffy stammt ebenfalls aus Kalifornien, nämlich aus Oakland. Doch wenigstens der dritte Rang bleibt im Land und sogar in der Region. Joan McGrath aus New Westminster ungefähr zwanzig Kilometer östlich kann sich in 2:56:00 den letzten Treppchenplatz sichern.

Ein Blick etwas weiter nach unten in die Ergebnisse belegt wieder einmal, dass in Nordamerika die Marathonzeiten noch schwächer sind als in der im Vergleich zu den Leistungen vergangener Jahre ohnehin schon langsam gewordenen europäischen Laufszene. Von den 2960 im Ziel registrierten Teilnehmern kommen 48 unter drei Stunden. Und nur 1135 haben nach Brutto- und 1169 nach Nettozeit die 42,195 Kilometer unter 4 Stunden hinter sich gebracht. Da nutzen auch alle – nicht nur mit Tempomacher-T-Shirt sondern auch mit aufsetzbaren Hasenohren ausgestatteten – „Pace Bunnies“ nichts.

Wenn man den Yachthafen hinter sich gelassen hat, ist der Blick übers Wasser auf die Skyline frei Jede der vier angebotenen Distanzen hat auch beim Medaillenband ihre Farbe

Rekordverdächtig ist dafür jedoch die Verpflegungsstraße hinter dem Zielkanal. Getränke und Obst kennt man ja von überall auf der Welt. Doch was da an unterschiedlichen Keks- und Gebäcksorten auf den Tischen liegt, würde manchem Supermarkt alle Ehre machen. Dazu gibt es Bagels – jene ringförmigen Brötchen, ohne die ein amerikanischer Coffee Shop nicht auskommt – in mehreren Geschmacksrichtungen. Oder auch Pudding- und Milchreispäckchen. Wohl dem der gleich nach den Zieleinlauf wieder in der Lage ist, feste Nahrung in größeren Mengen zu sich zu nehmen.

Doch nicht nur die Versorgung nach dem Rennen ist sehenswert. Auch der Lauf insgesamt gehört sicher zu den schönsten Stadtmarathons, die man auf dem nordamerikanischen Kontinent finden kann. Vancouver selbst muss nun wahrlich ebenfalls keine Vergleiche scheuen. Schon alleine deshalb ist der zugebenen ziemlich lange Flug durchaus lohnenswert. Und doch sollte man sich auch ein paar Tage Zeit nehmen zumindest einen kleinen Teil vom Rest der Provinz zu erforschen. Man wird dabei nämlich feststellen, dass die Aufschrift auf den Nummernschildern der Provinz nicht trügt. Sie lautet „Beautiful British Columbia”.

Bericht und Fotos von Ralf Klink

Ergebnisse und Infos unter www.bmovanmarathon.ca

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