23. Buller Gorge Marathon Westport (12.2.2005)

Marathon am schönsten Ende der Welt

„Das schönste Ende der Welt“ – eine nicht nur in der Tourismuswerbung gerne benutzte Bezeichnung für Neuseeland. Nun weiß der aufgeklärte Mensch natürlich, dass die Erde eine Kugel ist und deshalb weder Anfang noch Ende haben kann. Doch viel weiter als Neuseeland kann man sich als Mitteleuropäer eigentlich gar nicht von zuhause entfernen. Denn die Inseln liegen ziemlich genau auf der anderen Kugelseite. Gespiegelt am Erdmittelpunkt käme Neuseeland ungefähr zwischen den Alpen und Nordafrika zu liegen.

Und schön ist es hier sowieso. Fast die ganze Bandbreite möglicher Landschaftsformen hat die Natur über die beiden Haupt- und etlichen Nebeninseln verteilt. Endlose Sandstrände und beeindruckende Steilküsten, tiefgrüne Regenwälder und savannenartiges Grasland, Berge mit ewigem Eis und Buchten mit tropisch anmutender Vegetation, Seen in nahezu jeder denkbaren Ausführung, Fjorde, Vulkane, Wasserfälle, Höhlen, Gletscher, Geysire – alles findet sich auf engstem Raum nebeneinander.

Platz bleibt genug dafür, denn gerade einmal vier Millionen Einwohner verteilen sich auf eine Fläche, die nur unwesentlich kleiner ist als Deutschland. Dass davon fast ein Drittel im Großraum Auckland und jeweils knapp vierhunderttausend rund um die Hauptstadt Wellington und um Christchurch leben, macht die Quote für den Rest des Landes nur noch besser. Auf der etwas größeren Südinsel findet man mit Mühe und unter Mitzählen aller Touristen gerade einmal eine Million Menschen.

Die Landschaft in Buller Gorge

So ist es dann auch nicht all zu schwer, größere Flächen unter Naturschutz zu stellen. Alleine die dreizehn Nationalparks – vier auf der Nord-, neun auf der Südinsel – nehmen rund ein Zehntel der Landesfläche ein. Der größte von ihnen, der Fjordland Nationalpark ganz im Südwesten, entspricht in seiner Ausdehnung etwa dem Bundesland Schleswig-Holstein, wird aber gerade einmal von einer einzigen öffentlichen Straße erschlossen. Der Rest ist nur Wanderern oder eben gar nicht zugänglich. Mit den im Status etwas niedriger angesiedelten Forest Parks und einem regelrechten Netz vieler kleiner Scenic Reserves stehen über zwanzig Prozent des Landes unter der Verwaltung der Naturschutzbehörde „Department of Conservation“.

Zwar ist auch in Neuseeland nicht alles Gold, was glänzt. Auch hier hat der Mensch schon genug Spuren in der Landschaft hinterlassen. Und immer wieder fordern zum Beispiel Bergbau-, Energie- oder Holzunternehmen einen größere kommerzielle Nutzung ein. Doch inzwischen hat man erkannt, dass der Tourismus ebenfalls ein ziemlich wichtiger Wirtschaftsfaktor ist. Schließlich sind die Besucherzahlen in den letzten Jahrzehnten drastisch angestiegen. Das größte Werbeargument für diese Branche ist allerdings die Vielfalt und Ursprünglichkeit der neuseeländischen Natur, womit die Umweltschützer inzwischen einflussreiche Verbündete haben.

Einiges ist anders am anderen Ende der Welt. In guter britischer Tradition fährt man mit dem Auto auf der linken Seite. Die Sonne steht im Norden am höchsten. Und sie geht in Neuseeland gerade unter, wenn es in Europa Tag wird. Außerdem hält der Sommer in den Monaten Dezember bis Februar Einzug, was die Inseln für Reisende aus unseren Breiten eher zu einem Ziel für Winterflüchtlinge als zu einem Sommerurlaubsland macht.

Die Wende Auf dem Rückweg nach der Wende mit Frauensiegerin Meg Christie 2. Jane Clift-Hill (123) und
3. Hiromi Mitchell

Läufer allerdings, die ihre Länderliste auch um Neuseeland erweitern wollen, haben deshalb ein kleines Problem. Zwar sind Sommer und Winter im Vergleich zur Nordhalbkugel vertauscht. Die Hauptsaison für Marathons findet allerdings auch auf der Südseite der Erde im Frühjahr und Herbst statt, die zu unseren Jahreszeiten ebenfalls umgekehrt sind, aber eben auf die genau gleichen Monate fallen, in denen auch in Europa der Rennkalender am dichtesten gefüllt ist.

So wird der wohl bekannteste Marathon des Landes in Rotorua Anfang Mai gestartet. In der Millionenstadt Auckland läuft man Ende Oktober oder Anfang November und in Christchurch, der größten Stadt der Südinsel, trifft man sich gar erst im kalten und ziemlich dunklen Juni, um die klassische Distanz zu absolvieren. Für Urlauber alles nicht ganz die passenden Monate. Am besten ist da noch der Auckland-Termin im neuseeländischen Frühjahr, während die Rennen im Herbst für mit der Reise verbundene zusätzliche Urlaubserlebnisse wohl doch ziemlich spät liegen.

Bei nur vier Millionen Einwohnern ist die Dichte der Läufe ganz allgemein natürlich bei weitem nicht so hoch wie zu Hause und so muss man schon etwas intensiver suchen, um in der Hauptreisezeit den passenden Wettkampf zu entdecken.

Interessierte können dennoch fündig werden. Neben einigen Rennen über kürzere Distanzen stößt man im neuseeländischen Sommer vor allen Dingen auf sogenannte „track races“. Wer nun vom amerikanischen Begriff für Leichtathletik „Track and Fields“ ableitet, dass es sich hierbei um Bahnläufe handelt, liegt völlig daneben. Denn im Sprachgebrauch der Kiwis, wie sich die Neuseeländer nach ihrem Nationalvogel gerne selbst nennen, bedeutet „track“ so etwas wie Wanderweg. Allerdings nur in den seltensten Fällen gut ausgebaut, meist eher ein Trampelpfad. Also das, was bei den Amerikaner und neuerdings auch bei uns mit „Trail“ bezeichnet würde.

Gegenverkehr 1. W55 Chris Aroa (vorn), Paulette Birchfield und Tracey Sims

Gleich eine ganze Serie von verschiedenen Läufen über Distanzen zwischen 25 und 35 Kilometer quer durch Urwälder oder über Berge richten zum Beispiel die Nelson Striders in den National und Forest Parks im Norden der Südinsel aus. Und einer der bekanntesten Wanderwege Neuseelands, der 67 Kilometer lange Kepler Track, der in einer großen Runde von den Regenwäldern Fjordlands hinauf in alpine Bereiche und wieder zurück führt, beherbergt Anfang Dezember ebenfalls einen Wettkampf.

Wie bei den anderen Rennen auf den Tracks auch, gibt es hier eine Liste von Ausrüstungsgegenständen, die unbedingt mitzuführen sind. Auf diese bei uns nicht übliche „gear list“ wird in der Ausschreibung ausdrücklich hingewiesen. Ohne Windjacke, Kappe und Handschuhe gibt es keinen Start. Denn im Gegensatz zum in Distanz und Schwierigkeitsgrad vergleichbaren Davoser Swiss Alpine Marathon, ist das Versorgungsnetz deutlich weitmaschiger geknüpft und im Falle eines Wetterumschwunges im Hochgebirge könnte es sonst ziemlich kritisch werden.

Triathleten können sich im Spätsommer noch beim Ironman New Zealand am Lake Taupo, dem erst vor knapp zwei Jahrtausenden durch einen Vulkanausbruch entstandenen größten neuseeländischen See, austoben.

Aber auch einige – wenn auch kleinere – Straßenmarathons kann man aus dem Internet herausfiltern. Da gibt es zum Beispiel Anfang März den Lauf in New Plymouth an der Westspitze der Nordinsel. Und der zweite Samstag im Februar ist dem Buller Gorge Marathon von Westport auf der Südinsel vorbehalten.

Dem Aufeinandertreffen zweier Kontinentalplatten - der pazifischen und der australischen - verdankt Neuseeland nicht nur seine Existenz sondern auch sein gebirgiges Aussehen. So richtig flach ist es nur an wenigen Stellen. Dafür haben die unglaublichen Naturkräfte etliche Dreitausender und unzählige Zweitausender aufgetürmt, der Mount Cook ist mit rund 3750 Meter eindeutig der höchste von ihnen.

So zieht sich über die ganze Länge der Südinsel das Band der neuseeländischen Alpen von Norden nach Süden. Ein Riegel, der Klima und Vegetation maßgeblich bestimmt. Denn nach vielen tausend Kilometern offenem Meer, auf denen sie sich ordentlich mit Feuchtigkeit voll saugen können, treffen die Wolken hier erstmals wieder auf eine von ihnen zu überwindende Hürde. Heftige Steigregen sind die Folge. Bei den vorherrschenden Westwinden ist also die Westseite des Gebirges extrem feucht, die Ostseite dagegen relativ trocken. An manchen Stellen liegen zwischen Regenwald und Steppe gerade einmal dreißig Kilometer Luftlinie.

Am Eingangsschild zum Lower Buller Gorge Scenic Reserve Brücke über Blackwater Creek

Westport liegt, wie der Name durchaus zu recht vermuten lässt, an der Westküste der Insel - eine Gegend, in der Niederschläge nicht in Millimetern sondern gleich in Metern angegeben werden. Ein Ort mit vier bis fünf Metern im Jahr ist da eher noch regenarm. Sechs oder sieben sind durchaus üblich. Und in nassen Jahren wurden an manchen Stellen auch schon manchmal neun und mehr Meter gemessen.

Und noch etwas ist die West Coast: Selbst für neuseeländische Verhältnisse extrem abgelegen und menschenleer. Keine fünfzigtausend Menschen leben entlang der viele hundert Kilometer langen Küste. Und ganze vier Straßen queren die Alpen, um die Ostseite der Insel mit dem schmalen Küstenstreifen zu verbinden. Es gibt sogar das Gerücht, dass ein „Coaster“ in anderen Gegenden Neuseelands für das Überfahren einer roten Ampel nicht bestraft werden kann. Er kennt die Verkehrsregelung per Lichtzeichen von zu Hause nämlich nicht. Entlang der gesamten Küste findet sich keine einzige Ampel.

Angesichts dieser Tatsachen stellt das rund viertausend Einwohner zählende Westport fast schon so etwas wie eine Westküstenmetropole dar. Mit einem Hafen, aus dem früher die in der Gegend abgebaute Kohle verschifft wurde, und als Endpunkt der nördlichsten Straßenverbindung nach Osten ist das Städtchen auch eine Art Verkehrsknotenpunkt.

Versorgungszentrum des nördlichen Teils der Küste ist es sowieso. Nicht nur für die Einheimischen sondern auch für Urlauber. Denn trotz oder vielleicht eher wegen ihrer Abgelegenheit liegt die Westküste auf einer der touristischen Hauptrouten. So gibt es neben Geschäften und Tankstellen normalerweise auch ausreichend Motels in Westport.

Allerdings nicht am Marathonwochenende. Dann vermelden alle vor den Motels angebrachten Hinweistafeln: „No Vacancies“. Alles ausgebucht, keine Zimmer mehr frei. Denn inzwischen ist man beim Buller Gorge Marathon weit über den knapp dreihundert Anmeldungen, mit denen man vor zwei Jahrzehnten begonnen hatte, angelangt. Mehr als zweitausend Läuferinnen und Läufer nehmen inzwischen teil. Kein Wunder, dass Westport aus allen Nähten platzt und Zimmerreservierungen schon viele Monate vorher vorgenommen werden müssen. Das Rennen ist das größte Ereignis des Jahres in der sonst vor Veranstaltungen nicht gerade überlaufenden Region.

Hawks Crag Hawks Crag In Buller Gorge

Stolz ist man bei den Organisatoren auf die in immer größer werdenden Zahl eingehenden „oversea entries“ – Meldungen aus Übersee. Allerdings stammen für eine Inselnation wie Neuseeland alle Ausländer von der anderen Seite des Ozeans. Der erste nennenswerte Nachbar Australien ist schließlich erst nach rund zweitausend Kilometer über die Tasman-See zu erreichen. Genau genommen sind in Westport sogar alle Neuseeländer von der Nordinsel Überseeteilnehmer, denn auch sie mussten ja bei der Anreise das Meer überqueren.

Zwar sind die Einheimischen noch immer größtenteils unter sich. Doch neben den zu erwartenden Australiern sind bei gründlicher Suche auch einige weitere Nationen aus größerer Entfernung in der Startliste zu finden. Vereinzelte US-Amerikaner, Schweizer, Niederländer oder Deutsche sind dort ebenfalls verzeichnet.

Doch nur die wenigsten Teilnehmer sind wirklich Marathonis. Gerade einmal 130 bewältigen wirklich die gesamten 42,195 Kilometer. Der Großteil begnügt sich mit der halben Distanz. Mehr als tausend laufen, über fünfhundert walken diese Strecke. Und außerdem gibt es da noch einen Staffelmarathon mit 10,55 zurückzulegenden Kilometern für jedes der vier Teammitglieder.

Wer sich für den Halbmarathon entscheidet, verpasst die schönere Hälfte des Kurses. Während die lange Strecke nämlich zu drei Vierteln im engen Tal – Gorge kann man mit Schlucht ins Deutsche übersetzten –, das der Buller River auf seinem Weg von den Südalpen zur Tasman See gegraben hat, bleibt, verlässt das große Feld auf der Halbdistanz die Gorge schon bei etwa zehn Kilometern.

Da beide Wettkämpfe auf Punkt-zu-Punkt-Kursen aus der Schlucht hinein nach Westport verlaufen, beginnt der Samstag zuerst einmal mit einer regelrechten Völkerwanderung von den Motels zum Abfahrtsort der Busse am Victoria Square, einer Mischung von Sportplatz und Park, auf dem auch das Ziel und eine regelrechte Zeltstadt für die anschließende Versorgung und Unterhaltung aufgebaut sind. Freundliche Helfer – etwa jeder zehnte Westporter ist in die Organisation eingebunden – weisen die Läufer den Weg zum richtigen Bus. Es wäre schließlich bei unterschiedlichen Startorten ziemlich schlecht, den falschen zu erwischen.

Kurvig durch atemberaubende Landschaft

Den Termin für den Marathon haben die Organisatoren nach eigenen Angaben aufgrund der langfristigen Wetteraufzeichnungen gewählt, denn dort wird die zweite Februarwoche in der Regel als eine der trockensten Perioden des Jahres vermerkt. Und auch diesmal scheinen sie recht zu behalten. Zwar hängen in den Bergen noch einige Wolken. Doch einige Stücke blauen Himmels sind schon zu entdecken. Richtig heiß wird es an der Westküste auch im Sommer nicht, allerdings kann das feuchte Klima schon für ziemliche Schwüle sorgen.

Mitten im Nirgendwo spucken die Busse ihre Ladungen aus. Zwei kleine Parkbuchten, mit denen die Touristen von den neuseeländischen Straßenbauern an besonders fotogenen Punkten oft bedacht werden, müssen ausreichen. Viel mehr würde man aber sowieso nicht finden, denn eine richtige Ortschaft gibt es im Umkreis der Marathondistanz rund um Westport nicht. Die wenigen Flecken, die auf der Straßenkarte mit Namen verzeichnet sind, stellen sich als Streusiedlungen mit maximal drei oder vier Häusern heraus.

Auch bezüglich der Startpunkte bietet der Marathon das Spektakulärere. Hawks Crag heißt die Stelle, an der die Klippen direkt an eine enge Flussschleife heranreichen, so dass die Straße regelrecht in den Felsen hinein gehauen werden musste. Der Halbmarathon begnügt sich mit einer fünf Kilometer talabwärts gelegenen Brücke über einen Nebenfluss des Buller, den Ohika-iti River.

Nun beträgt die Differenz zwischen einem ganzen und einem halben Marathon natürlich mehr als fünf Kilometer. Und so ist die Startrichtung der langen Distanz dann auch nicht flussab- sondern flussaufwärts. Den genauen Ort markiert eine einfache Linie auf dem rauen neuseeländischen Asphalt. Ein Starttransparent verbietet sich schon deshalb, weil die Buller Gorge eine jener oben genannten vier Verbindungsrouten der Westküste mit dem Rest der Südinsel ist und deshalb während des Rennens nicht vollständig gesperrt werden kann. Wenige Meter entfernt zeigt eine „16“ auf der Straße, dass man hier später noch einmal vorbei kommen wird.

Wer sich unter „Schlucht“ jetzt durchgängig blanke Felswände und karge Vegetation vorstellt, täuscht sich bei der Buller Gorge gründlich. Ganz im Gegenteil, die hohen Niederschläge der Westküste haben auch hier meist für dichten Urwald am Straßenrand gesorgt. In sattem Grün leuchten die Hänge, bewachsen mit einer einzigartigen, fast urzeitlichen Pflanzenkombination.

Farne, anderswo längst von höher entwickelten Arten verdrängt, dominieren. In Neuseeland, das sehr früh den Kontakt zu allen anderen Landmassen der Erde verloren hatte, konnten sie sich bis heute halten. Zehn bis fünfzehn Meter hoch wachsen die Farnbäume hier in den Himmel. Nicht umsonst ist der Farn längst zu dem nationalen Symbol überhaupt avanciert. Das weiße Farnblatt auf schwarzem Grund, das auch von allen Sportteams auf der Brust getragen wird, dient fast schon als zweite – wenn auch inoffizielle - Landesflagge.

Peta-Jane Harthen und A. Harper auf der Brücke über den Ohika-iti River Robert Gras ... ... und ein Staffelläufer in Buller Gorge

Wie feucht die Gegend ist, macht auch das ständige Geplätscher klar, mit dem das Wasser an etlichen Stellen über die Felsen und mitten durch die üppige Vegetation in den Straßengraben läuft. Ohne diesen Graben und etliche unter dem Asphalt liegende, von dort zum Fluss hinführende Entwässerungsrohre würde die Piste wohl ständig pitschnass sein.

Mit dem lauten Gezirpe der Wetas – einer wie die Farnbäume aus dem Dinosaurierzeitalter übriggebliebenen Insektenfamilie, deren größte Arten die Ausmaße und das Gewicht einer Maus locker erreichen können – ergibt sich eine Geräuschkulisse, die so gar nicht zu einem gleich beginnenden Straßenrennen zu passen scheint. Ob es an den beruhigenden Lauten oder der geringen Teilnehmerzahl liegt, ist eigentlich ziemlich egal. Die Stimmung ist jedenfalls ziemlich unaufgeregt und gelassen. Nur wenige Minuten vor dem Start um 8:30 bewegen sich die Ersten überhaupt einmal langsam in Richtung Linie.

Der Ansager weist per Megaphon noch einmal kurz darauf hin, dass zuerst nur die Einzelläufer starten und die Staffeln fünf Minuten später auf die Reise geschickt werden, dann geht es auch schon los. Zur exakt gleichen Zeit sind fünf Kilometer entfernt fast zwölfhundert Halbmarathonläufer ebenfalls auf die Strecke gelassen worden. So werden nur die allerschnellsten Marathonläufer den Schwanz dieses Riesenfeldes zu Gesicht bekommen. In die letzten Walker, deren Start zeitgleich mit den Staffeln um 8:35 erfolgt, werden aber etliche Marathonis hineinlaufen. Die Handvoll Walker, die sich die lange Distanz zutraut, ist schon seit sieben Uhr auf der Strecke.

Unterwegs dabei immer auf der rechten Straßenseite zu bleiben, ist eine der Regeln deren Einhaltung man beim Unterschreiben der Anmeldung akzeptiert. Zwar ist der Verkehr am frühen Morgen noch gering und die meisten Autos, die auf der Straße fahren gehören irgendwie zum Marathontross – entweder Familien- oder Vereinsangehörige, die ihre Läufer unterwegs unterstützen wollen, oder Staffeln, die ihre Teammitglieder selbst zu den Wechselpunkten bringen müssen -, doch da keine offizielle Sperrung vorliegt, kann auch jeder Zeit ein Lastwagen oder Touristenbus um die Kurve kommen.

Acht Kilometer lang gilt es nun zuerst einmal dem Fluss entgegen zu laufen. Fast ständig leicht bergan, aber ohne richtig schwere Steigungen. In ständigen Kurven und Bögen verläuft die Straße ein Stück oberhalb des Wassers am Hang entlang. Geradeaus geht es selten länger als hundert Meter.

Ian Walker an einem der vielen kleinen "Wasserfälle" Am Ausgang der Buller Gorge Andy Harper on the Road again

Während auf der Bergseite dichtes Grün nur gelegentlich vom blanken, aufgrund der Feuchtigkeit und der noch recht tief stehenden Sonne in vielen Farben glänzenden Fels unterbrochen wird, wechseln sich auf der Talseite Urwald und offene Stücke, die weite Blicke über den Fluss auf die dahinter liegenden Berge erlauben, in schöner Regelmäßigkeit ab.

Gelegentliche Brücken über rauschende Bäche und kleine Wasserfälle sorgen für weitere optische Reize. Langweilig wird der Kurs so nie, auch wenn es eigentlich immer nur auf dem von keiner einzigen Kreuzung oder Einmündung unterbrochenen Asphaltband des „State Highway 6“ entlanggeht. Der Buller Gorge Marathon ist ein Landschaftslauf reinster Sorte, eben nur mit einer Straße als Wettkampfstrecke.

Nach etwa sieben Kilometern – trotz britischer Tradition ist man in Neuseeland längst auf das metrische System umgestiegen und gibt Entfernungen in Kilometern und nicht mehr in Meilen an - markiert ein Schild am Rand das Ende des Naturschutzgebietes „Lower Buller Gorge Scenic Reserve“. Und prompt stehen ein kleines Stück dahinter zwei, drei einsame Gebäude in der Landschaft. Berlin’s Hotel ist nicht nur Übernachtungsmöglichkeit sondern auch gleichzeitig Ausgangspunkt für Kajaktouren auf dem Buller River. Und einer der auf der Straßenkarte eingezeichneten Orte.

Sogar ein paar Zuschauer haben sich hier eingefunden. Sie können die Läufer ja auch innerhalb kürzester Zeit zweimal sehen, denn nur wenig später markiert ein von einem Streckenposten bewachtes Hütchen auf der Straße den Wendepunkt. Von nun an geht es auf dem direkten Weg hinunter zur Flussmündung nach Westport.

Doch nur bergab führt die Strecke nicht. Ein paar Wellen, die man vorhin so gar nicht bemerkt hatte, stören schon auf dem Rückweg zum Hawks Crag den Laufrhythmus. Es werden nicht die einzigen Gegensteigungen bleiben. Auch weiter unten im Tal warten noch ein paar Hügel.

Der erste Wechselpunkt für die Teams reißt ein wenig aus der Einsamkeit des Langstreckenläufers im inzwischen zu kleinen Grüppchen zerfallenen und weit auseinandergezogenen Marathonfeld. Nach jeweils 10,5 Kilometern bringen die hier auf ihre Ablösung wartenden oder gerade mit ihren Wettkampf fertigen Staffelläufer einiges an Stimmung an die Strecke. Ansonsten sind da nur noch die gelegentlich vorbeifahrenden Autos und die in zum Ende hin immer kürzer werdenden Abständen auftauchenden elf Verpflegungsstellen, die vom Naturgenuss ablenken.

Dudelsackspieler bei km 36 Rick Baxter am Ortseingang von Westport 2. M60 Alec Day in Westport

Das Angebot an den Versorgungsposten ist zwar nur beschränkt - außer Wasser und einem Sportgetränk wird nichts gereicht -, doch die Getränke sind nicht in Becher sondern in kleinen Plastikfläschchen abgefüllt, so dass kaum ein Tropfen Flüssigkeit verloren geht. Abertausende von Flaschen müssen es sein, die so von den eifrigen Helfern an die Läufer übergeben und später wieder eingesammelt werden.

Aufmerksame Beobachter erkennen anhand der Form die Fläschchen wieder, in denen normalerweise Geschirrspülmittel in den Supermarktregalen stehen und die hier anscheinend eine neue Verwendung finden. Doch um auf diese Stückzahl, die für den Marathon und insbesondere für den Halbmarathon benötigt wird, zu kommen, müssen schon sehr viele Leute ziemlich lange gesammelt haben.

Hawks Crag ist wieder erreicht und die Marathonis laufen jetzt unter den überhängenden Felsen, vor denen sie vorhin gestartet sind, hindurch weiter Richtung Westport. Ein wenig fragt man sich schon, wie überhaupt große Lastwagen durch diese niedrige, enge und kurvige Passage hindurch kommen können. Aber irgendwie muss es gehen, denn einige begegnen den Läufern unterwegs dann doch.

Vom Halbmarathonstart an der Ohika-iti-Brücke würde man überhaupt nichts mehr bemerken, stünden da nicht noch ein paar gerade zum Abtransport fertig gemachte kleine, blaue Häuschen auf dem Parkplatz. Ähnlich wie beim Marathon hat auch hier ein Strich auf der Straße ausgereicht, um den Startpunkt festzulegen. Schon am Nachmittag wird entlang des Highway 6 sonst nichts mehr an den Lauf erinnern.

In Westport 3.W45 Robyn Perrin In Westport

Noch zehn weitere Kilometer lang ändert sich wenig am Aussehen des Kurses. Dichter Wald und freie Blicke über den Fluss, weitgeschnittene Kurven und enge Kehren im ständigen Wechsel.

Dann plötzlich weitet sich das Tal. Aus dem Urwald wird offenes Weideland. Das Ende des Scenic Reserve ist erreicht und das Gebirge mit dem engen Einschnitt des Buller River geht in den schmalen Streifen der vorgelagerten Küstenebene über.

Flacher wird die Strecke damit nicht, denn kurz hinter dem letzten Staffelwechselpunkt wendet sich die Straße vom nun ruhig und träge dahinfließenden Buller River ab und steuert durch das Farmland auf einige kleinere Hügel zu. Keine steilen, aber langgezogene Anstiege belehren jeden, der an einen reinen Bergabkurs glaubte, nun endgültig eines Besseren.

Zu keinem ungeeigneteren Zeitpunkt könnten die Steigungen vor den Marathonläufern auftauchen als jetzt, mitten in den Kilometern mit der drei als erster Ziffer. Der Vergleich mit dem etwa an gleicher Stelle positionierten Heartbreak Hill von Boston drängt sich auf. Doch die Dudelsackband, die schon von weitem vernehmbar auf der Kuppe für musikalische Unterhaltung sorgt, lässt die Gesichter wieder entspannter werden.

Das letzte Stück geht es dann aber wirklich fast nur noch bergab. Und kurz nachdem bei Kilometer vierzig die Einmündung auf die Küstenstraße passiert wurde, können die Läufer den Buller River, der so lange ihr Begleiter war, zum ersten und letzten Mal überqueren. Der Verkehr hat allerdings hier deutlich zugenommen und die Straße ist mit Hütchen abgesichert, denn die lange, schmale Brücke ist die einzige Verbindung hinüber nach Westport und alle weiter nördlich gelegenen Ortschaften.

Torbogen am Victoria Square Im Victoria Square Kurz vor dem Ziel

Westport selbst hat ein wenig den Charakter eines Westernstädtchens, doch der Zeitpunkt der Stadtgründung fällt ja auch in die gleiche Periode wie die Besiedlung des amerikanischen Westens. Vor den zweistöckige Holz- oder Backsteinhäuser mit den überbauten hölzernen „Boardwalks“ im Stadtkern könnten man sich anstatt Autos jedenfalls durchaus auch noch Pferde und Kutschen vorstellen.

Der Victoria Square hat dann dagegen wieder etwas typisch Britisches. Durch das gleichzeitig als Kriegerdenkmal dienende Tor geht es hinein auf die weite Grasfläche und die von bunten Wimpeln begrenzten letzten Meter.

Medaillen oder Finisher-Hemden gibt es im Ziel allerdings nicht. Auszeichnungen sind nicht vorgesehen. Das ist Marathon ohne jeden Schnickschnack. Dafür ist das Startgeld mit achtunddreißig neuseeländischen Dollar – umgerechnet etwa zwanzig Euro - aber auch erstaunlich günstig. Wer unbedingt ein T-Shirt haben möchte, weil sich in seinem Schrank noch nicht genug stapeln, kann es sich schon bei der Anmeldung bestellen und auch gleich mit bezahlen.

Dafür werden unter allen Teilnehmern etliche zum Teil recht wertvolle Preise verlost. Und was die Gesamt- und Altersklassensieger neben ihren Pokalen alles als Sachpreise mit nach Hause nehmen, ist auch nicht zu verachten. Einige Gewinner sind bei der Siegerehrung jedenfalls nicht in der Lage alles gleichzeitig von der Bühne zu schaffen.

Bis zur Ehrung dauert es etliche Stunden. Erst am späten Nachmittag werden die Schnellsten auf die Bühne gerufen. Eine bei uns fast undenkbar lange Zeitspanne. Da jedoch die meisten entweder sowieso aus der Gegend stammen oder aber eine so weite Anreise hatten, dass sie eine weitere Nacht in Westport bleiben, gibt es kein Gemurre. Man ist es halt auch nicht anders gewohnt.

Den ganzen Tag über unterhalten ja auch im großen Festzelt mehrere Bands unterschiedlicher Stilrichtungen die Läufer und ihren Anhang. Das Zelt zu füllen, ist dabei nicht all zu schwer, denn draußen macht inzwischen die nasse Westküste ihrem Ruf alle Ehre. Zwischen kurzen Sonnenperioden gehen immer wieder heftige Schauer nieder und erleichtert den letzten Läufern auf der Strecke den Weg ganz bestimmt nicht.

Zeltstadt im Zielgelände

Am Ende ist aus der musikalischen Überbrückung dann allerdings eine regelrechte Party geworden. Vor der Bühne wird fleißig getanzt und für die Siegerehrung müssen die Gemüter erst einmal wieder etwas heruntergekühlt werden.

Dass dabei der Geschäftsführer des Hauptsponsors – eines Kohlekonzerns - in kurzen Hosen und T-Shirt die Pokale verteilt, wäre in Deutschland jedenfalls auch deutlich schwerer vorstellbar als im bezüglich Kleiderordnung relativ lockeren Neuseeland. Der gute Mann hat allerdings selbst den Marathon in knapp unter vier Stunden absolviert, weiß also sehr wohl, wovon er redet, als er den Organisatoren und den Helfern für ihre Arbeit dankt.

Als Tagesschnellster wird Martin Lukes auf die Bühne gerufen. Nur 2:34:49 hat der Vorjahressieger aus Christchurch für die 42,195 Kilometer benötigt und seine Zeit von 2004 dennoch um über eine Minute und den Streckenrekord gar um elf Minuten verpasst.

Dabei sieht es am Morgen lange nach einem Erfolg von Michael Moreu aus, denn der aus Nelson, der ersten größeren Stadt auf der anderen Seite der Alpen, stammende Sieger von 2001 und 2003 (übrigens in 2:28 und 2:33) liegt auf der ersten Hälfte in Führung, bricht dann aber ein und folgt als Zweiter in 2:44:37 klar unter seinen Möglichkeiten. M40-Sieger Kelvin Read als Gesamtdritter bleibt mit 2:46:51 ebenfalls noch unter einem Vierer-Schnitt. Doch nur noch fünf weitere Läufer knacken die drei Stunden.

Zieleinlauf Party im Festzelt

Auch für Frauensiegerin Meg Christie ist der Streckenrekord (2:55) deutlich außer Reichweite, aber mit 3:07:14 kann sie sich doch recht sicher durchsetzen. Schon vor der Wende hat sie sich von der Zweiten Jane Clift-Hill (3:10:34) gelöst und läuft das Rennen am Ende sicher nach Hause. Hiromi Mitchell als Dritte versucht zwar einige Zeit mit Clift-Hill mitzugehen, muss dann aber abreißen lassen und kommt mit 3:16:06 ins Ziel. Bei einem Frauenanteil von über dreißig Prozent läuft über die Hälfte von ihnen unter vier Stunden ein.

Im Halbmarathon ist die Quote des weiblichen Geschlechts sogar noch höher. Vierzig zu sechzig lautet das Verhältnis gerade noch zugunsten der Männer. Das qualitativ stärkste Ergebnis wird allerdings definitiv von einer Frau gebracht. Rebecca Moore ist nach 1:19:08 schon als Gesamtsiebte im Ziel. Doch auch die 1:11:00 von Sieger Brent Pulley sind nicht von schlechten Eltern.

Angesichts dieser Leistungen sind die Chancen auf eine vordere Platzierung für Lauftouristen relativ gering, doch darum dürfte es ja auch den wenigsten aus dieser Klientel gehen. Buller Gorge ist noch lange kein Urlaubsmarathon der klassischen Art, doch besitzt der Lauf sicher ein gewisses touristisches Potential. Eine interessante Strecke bietet er in jedem Fall. Und für einen Neuseelandurlaub liegt der Marathon genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Vielleicht hat ja der einheimische Läufer recht, der, als er von der Berichterstattung in LaufReport erfuhr, anmerkte: „Dann werden im nächsten Jahr wohl ein paar Deutsche mehr da sein.“

LaufReport über den Mountain to Surf Marathon New Plymouth NZL klick HIER

Bericht und Fotos von Ralf Klink

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Weitere Informationen unter www.bullermarathon.org.nz

Aktuelles im LAUFREPORT HIER

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