23. Kongsvinger Marathon - Norwegen (3.8.13)

Spektakulär unspektakulär

von Ralf Klink

Fast überall sonst wäre eine Region wie "Glåmdalen" im mittleren Lauf der Glomma vermutlich für ihre landschaftliche Schönheit bekannt. Schließlich handelt es sich um ein zu beiden Seiten von etlichen Bergen gleich mehrere hundert Meter überragtes Tal, durch das sich ein weitgehend naturbelassener, aber breiter und wasserreicher Fluss in vielen Schleifen langsam hindurch windet.

Regelmäßig verändert sich dabei die Topographie. In manchen Abschnitten rücken die Kuppen eher dicht ans Wasser heran, in anderen wird das Tal auch einmal mehrere Kilometer weit. Während im eher flache Streifen an beiden Ufern Wiesen und Feldern dominieren, zwischen denen sich einzelne Bauernhöfe verteilen, sind die Hügel rundherum mit nahezu endlosen, kaum berührten Wäldern bewachsen und von unzähligen Seen durchsetzt. In einer solchen Gegend könnte man durchaus einmal ein paar Urlaubstage verbringen könnte.

Doch liegt das Glåmdal halt in Norwegen. Und was anderswo eindeutig auffallen würde, ruft im landschaftlich so spektakulären Skandinavien nur ein müdes Schulterzucken hervor. "Na und?" So oder so ähnlich sieht es doch im Umkreis von hunderten Kilometern fast überall aus. Wälder und Seen findet man in Nordeuropa nun wahrlich genug. Und eigentlich handelt es sich bei ihnen sogar noch um den eher "langweiligen" Teil der riesigen skandinavischen Halbinsel.

Weiter im Westen und Norden, wo sich das Hochgebirge "Skanden" als Rückgrat Skandinaviens vom Skagerrak bis hinauf zum Eismeer zieht und weit verzweigte Fjorde bis tief ins Land hinein reichen, hat die Natur nämlich noch viel Faszinierenderes zu bieten. Höher und steiler sind dort die Berge, enger und schroffer die Täler, kahler und weiter die Hochflächen, gewaltiger die Wasserfälle und dramatischer die Ausblicke.

Dort befindet sich jenes Norwegen, das man aus vielen unverwechselbaren Bildern kennt. Und dorthin zieht es selbstverständlich auch die Urlauber, die in den wenigen zur Verfügung stehenden Tagen und Wochen möglichst viel von dieser überwältigenden Umgebung erleben möchten. Das Fjordland der Westküste und die nahezu menschenleeren Gebiete jenseits des Polarkreises sind die Traumziele der Nordlandfahrer.

Streckenplan und Startgelände belegen; In Kongsvinger wird eindeutig ein "skogsmaraton" - also ein Waldmarathon - veranstaltet
Ausführliche und einladend präsentierte Laufankündigungen im LaufReport HIER

So verwundert es am Ende dann doch nicht unbedingt, dass außerhalb Norwegens kaum jemand "Glåmdalen" überhaupt kennt und sich eher wenige Touristen in diese Gegend abseits der Hauptreiserouten verirren. Mit einem auf den ersten Blick ziemlich sinnlosen und doch irgendwie sinnvollen "spektakulär unspektakulär" lässt sich diese Landschaft vielleicht noch am Besten in wenigen Worten beschreiben.

Selbst von einem Fluss namens "Glomma" dürften ja die wenigsten jemals zuvor gehört haben. Dabei handelt es sich doch um den längsten norwegischen Fluss überhaupt. Rund sechshundert Kilometer zieht es sich immer parallel zur schwedischen Grenze durchs Land und entwässert dabei mehr als ein Zehntel des norwegischen Territoriums - nämlich nahezu den gesamten Teil, der östlich im Windschatten des Skanden-Gebirges liegt. Doch ist diese Glomma abgesehen von einem kurzen Stück im untersten Abschnitt eben nicht schiffbar.

Und zudem fließt sie auch an den - ohnehin nicht gerade zahlreichen - städtischen Zentren des Landes vorbei. Einzig die über zwei Kommunen verteilten, aber miteinander verwachsenen Zwillingsstädte Fredrikstad und Sarpsborg im Mündungsbereich erreichen gemeinsam knapp jene hunderttausend Bewohner, die hierzulande als Maß für eine Großstadt angesetzt werden. Dass sie damit trotzdem bereits Norwegens fünfgrößte Metropole darstellen, zeigt wieder einmal anschaulich die dünne Besiedlung Skandinaviens.

Die "Kommune Kongsvinger" mit ihren nicht einmal zwanzigtausend Einwohner - davon etwas über die Hälfte in der namensgebenden Kernstadt - zählt jedenfalls bereits zu jener Handvoll größerer Ortschaften, die sich überhaupt entlang des gesamten Flusses entdecken lassen. Abseits der bedeutenden Tourismus- und Verkehrsrouten gelegen ist allerdings auch das Zentrum von Glåmdalen ziemlich unbekannt.

Mit großen Attraktionen, die ihm einen Platz in den gedruckten Reiseführern sichern könnten, kann das Städtchen ebenfalls kaum glänzen. Wirklich ungewöhnlich ist dies für Norwegen aber nicht. Historische Bauwerke, große Kathedralen oder prunkvolle Paläste haben in diesem weiten Land schließlich genauso Seltenheitswert wie idyllische Altstädte mit engen Gassen und dichtgedrängten Häusern.

Die Vinger kirke und … … die Festung sind die wichtigsten Sehenswürdigkeiten des Städtchens Kongsvinger

Einzig "Kongsvinger festning", eine aus dem siebzehnten Jahrhundert stammende Befestigungsanlage ragt sowohl in der Realität als auch im übertragenden Sinne aus dem Stadtbild heraus. Während des weit über hundert Jahre bestehenden und immer wieder zu Kriegen führenden Dauerkonfliktes zwischen den beiden nordischen Großreichen Dänemark-Norwegen und Schweden sollte sie die Verkehrswege entlang der Glomma sowie einen wichtigen Flussübergang absichern.

Dieses Bollwerk ist sogar die eigentliche Keimzelle von Kongsvinger. Zuvor existierten dort nämlich nur die weit verstreuten Höfe eines Kirchspiels namens "Vinger". Erst nach dem Bau der Verteidigungsstellung, die zur besseren Unterscheidung den Zusatz "Kongens" - auf Deutsch "königlich" - bekam, wuchs die Stadt zu ihren Füßen langsam zu einem Handelsplatz heran. Und selbst in ihrem Wappen ist - neben einer die Glomma symbolisierenden Wellenlinie - die Festung das zentrale Element.

So sehenswert und einzigartig, um dafür größere Umwege in Kauf zu nehmen, ist die Bastion allerdings nicht. Und auch den Bekanntheitsgrad Kongsvingers kann sie nicht wirklich steigern. Deswegen müssen hierzulande selbst die meisten Skandinavien-Spezialisten wohl erst einmal eine Karte heraus holen, um jenen Ort zu lokalisieren, in dem seit fast einem Vierteljahrhundert der "Kongsvinger Maraton" ausgetragen wird.

Gar nicht so weit nordöstlich von Oslo wird man fündig. Etwa achtzig Kilometer sind es in der Luftlinie und hundert Kilometer auf der Straße von der Haupt- in die Festungsstadt. Vom ein ganzes Stück nördlich von Oslo gelegenen internationalen Flughafen fährt man sogar nur etwa siebzig Kilometer bis nach Kongsvinger. Und obwohl das Streckennetz in Norwegen wegen der für den Eisenbahnbau alles andere als günstigen Topographie nur ziemlich spärlich ausgebaut ist, gibt es von Osloer Hauptbahnhof außerdem regelmäßige und direkte Zugverbindungen.

Etwas mehr als eine Stunde ist man dabei unterwegs. Doch wer wirklich diese Art der Anreise wählt, muss von "Kongsvinger Stasjon" zum Austragungsort des Laufes noch einen längeren Fußmarsch einkalkulieren. Denn der Marathon wird nicht im Zentrum sondern ungefähr vier Kilometer außerhalb des Städtchens gestartet. Immerhin handelt es sich bei der Veranstaltung ja um "et av to skogsmaraton i Norge", was sich bei Kenntnis des Wörtchens "skog" als "einer von zwei Waldmarathons in Norwegen" entschlüsseln lässt.

Die Organisatoren beziehen sich bei dieser Zählung eindeutig auf den Nordmarka Skogsmaraton in den direkt am nördlichen Stadtrand von Oslo beginnenden Wäldern. Mit inzwischen rund sechshundert Teilnehmern besetzt dieser Lauf seit Jahren die Position des zweitgrößten norwegischen Rennens über diese Distanz hinter dem großen Bruder unten im Zentrum der Hauptstadt. Dieser nähert sich nach einer Durststrecke Anfang des neuen Jahrtausends, in der er sogar dreimal ausfiel, nun wieder der Marke von zweitausend Marathonis.

Hoch über der Stadt sollte Kongsvinger festning einst die Handelswege entlang des Flusses Glomma bewachen

Seit dem Vorjahr gibt es beim "Maratonkarusell" in Bergen - das keineswegs irgendetwas mit einem Fahrgeschäft auf Jahrmärkten oder in Vergnügungsparks zu tun hat, sondern eine Laufserie mit insgesamt sechs übers Jahr verteilten Rennen darstellt - in Norwegen noch einen weiteren Marathon im "skog". Denn der vierte dieser sechs Wettbewerbe wird nun auch auf Waldwegen gelaufen. Eigentlich müsste es also "et av tre skogsmaraton" lauten.

Der neue Lauf im Westen stößt dabei zahlenmäßig in praktisch genau die gleiche Größenordnung wie die wesentlich ältere Veranstaltung in Kongsvinger vor. Zwischen vierzig und sechzig Teilnehmern bewegt man sich nämlich bei beiden Rennen auf der Marathondistanz. Was sich im ersten Moment ziemlich wenig anhört, ist für norwegische Läufe eigentlich völlig normal. Neben den anderen Rennen der Bergener Serie vermelden schließlich auch noch einige weitere Veranstaltungen ähnliche Werte.

Abgesehen von den beiden Läufen in Oslo kommt dagegen nur noch der Midnight Sun im nordnorwegischen Tromsø auf etwa fünfhundert Marathonis. Für den 2012 erstmals ausgetragene Bergen City Marathon lässt eine deutliche Steigerung auf mehr als dreihundert Läufer bei der zweiten Auflage vermuten, dass dieser demnächst ebenfalls in solche Regionen vorstoßen und eventuell sogar vorbei ziehen könnte. Sowohl die Stadt selbst als auch die Strecke haben dazu durchaus die nötige Attraktivität.

Doch dahinter wird es schnell ziemlich dünn. Nur noch in Stavanger - immerhin das drittgrößte Ballungszentrum im Land - kommt man ansonsten nämlich einigermaßen sicher in die Dreistelligkeit. Trondheim hat ziemlich hart zu knabbern, um sie zu übertreffen. Und drei oder vier andere Rennen wie der Norske Fjellmaraton in Beitostølen haben diese Marke noch entfernt im Blick. Der Rest operiert dagegen mit Zahlen, die anderswo längst das Ende der Veranstaltung bedeutet hätten.

Fast im Dutzend lassen sich Läufe entdecken, bei denen nicht mehr als zehn bis zwanzig Einträge in den Ergebnislisten auftauchen. Und dabei handelt es sich keineswegs um die Privatveranstaltungen notorischer Marathonsammler, die einzig und allein dem Zweck dienen, der eigenen Statistik im Schlurfschritt weitere Striche hinzu zu fügen. Es sind ganz offiziell ausgeschriebene Wettbewerbe, bei denen im Ziel Medaillen und während der Siegerehrung großzügig Pokale und Ehrenpreise verteilt werden.

Ein bisschen alt, ein bisschen neu …wirklich spektakulär ist das Zentrum von Kongsvinger nicht

Meist bleiben die Ersten dabei auch unter einer Zeit von drei Stunden, oft sogar ziemlich deutlich. Nur einige wenige Rennen gehen knapp über dieser Marke weg. Und wenn man die wellige norwegische Topografie aus eigener Anschauung ein wenig kennt, nötigen diese - angesichts der kleinen Starterfelder in der Regel zudem im Alleingang erzielten - Leistungen noch einiges mehr an Respekt ab.

Ohne zusätzliche Wettbewerbe wären Veranstaltungen dieser Größenordnung allerdings nun wirklich kaum lebensfähig. Auch in Kongsvinger hat man außer dem vollen noch einen halben Marathon im Programm. Und alle die sich selbst diesen noch nicht oder nicht mehr zutrauen, können beim sogenannten "Minimaraton" zudem ein Zehntel der Distanz absolvieren. Der Barnemaraton" für die Kleinsten - "Barn" bedeutet in den skandinavischen Sprachen "Kind" - führt wiederum nur über ein Zehntel dieser Strecke, also ein Hundertstel des Originals.

Insgesamt bekommt man deswegen dann auch weit mehr als dreihundert Läufer zusammen. Und wie nahezu jedes Mal, wenn eine solche Konstellation angeboten wird, ist auch in diesem Fall die kürzere Distanz quantitativ deutlich besser besetzt. Den rund zweihundert Läufern beim Halbmarathon stehen nämlich vierundsechzig Anmeldungen beim Marathon gegenüber, die am Ende dann allerdings doch nur zu achtundvierzig Startern und sechsundvierzig Zieleinläufen führen.

Die relativ hohe Nichtantrittsquote von einem vollen Viertel lässt sich sicher auch ein wenig auf die starke Staffelung der Startgebühren zurück führen. Denn wenn man bis zum Silvestertag - also mehr als sieben Monate vor dem Start - für den Marathon meldet, sind bereits dreihundertzwanzig norwegische Kronen fällig. Bis Juli kommen in zwei Stufen jedoch noch einhundert weitere hinzu. Und eine Nachmeldung in den letzten Tagen oder vor Ort schlägt gar mit fünfhundertzwanzig Kronen zu Buche.

Zumindest aus mitteleuropäischer Sicht ist die keineswegs niedrig. Denn bei einem Umrechnungskurs von ungefähr ein zu acht ergeben sich zwischen vierzig und fünfundsechzig Euro. Hierzulande kennt man solche Beträge jedenfalls eher von mittelgroßen Stadtmarathons als von den wesentlich leichter zu organisierenden Landschaftsläufen. Für norwegische Verhältnisse bewegt man sich damit aber auf dem bei Veranstaltungen dieser Kategorie absolut üblichen Niveau.

Mit einer frühen Entscheidung zur Teilnahme lässt sich also einiges an Geld sparen. Sie birgt aber eben auch das Risiko, am Ende dann doch nicht antreten zu können. Außer dem finanziellen Aspekt findet sich allerdings kein weiteres Argument für eine Vormeldung. Denn natürlich gibt es angesichts der Größe der Veranstaltung keinerlei Startplatzlimitierungen. Vielmehr freut man sich auf Seite der Organisatoren über jeden zusätzlichen Läufer, der noch am Wettkamptag den Weg zum Marathonzentrum am "Sæter Gård" findet.

Ein wenig ungewöhnlich ist der Name für einen Ort der nur wenige Meter oberhalb des Flusses liegt schon. Bedeutet "sæter" - in anderen Regionen des Landes oft auch "seter" geschrieben - doch "Alm". Diese liegen in Norwegen zwar längst nicht so hoch wie in den Alpen, aber eben doch deutlich oberhalb der sonstigen Besiedlung. Mit "gård" ist allerdings ein "Bauernhof" gemeint. Und so steht zu vermuten, dass sich die Bezeichnung eher auf ein Gehöft mit Weidewirtschaft bezieht.

Die alte Hängebrücke über die Glomma ist eines der Wahrzeichen der Stadt und ziert zudem das Logo des Marathons Die Fußgängerpromenade entlang des Flusses ist zum Teil regelrecht auf Stelzen über ihn hinaus gebaut

Einige der Gebäude, die man nach dem Abbiegen von der aus Kongsvinger hinaus führenden Straße - die Anfahrt ist mit großen Tafeln an jeder Kreuzung in der Stadt ziemlich optimal ausgeschildert - zu Gesicht bekommt, gehörten wohl tatsächlich zu einem landwirtschaftlichen Betrieb. Andere Teile der Häusergruppe sind deutlich neuer und haben auch einen völlig anderen Charakter. Wirklich harmonisch ist das Gelände, in dem sich der Marathonstart befindet, eigentlich nicht bebaut. Doch hat es auch längst eine ganz andere Funktion.

Auf dem Straßenschild, das in die kleine Einfahrt hinein gezeigt hatte, war nämlich neben "Sæter Gård" auch noch "Politihøgskolen" zu lesen. Denn Kongsvinger ist einer von gerade einmal vier Standorten in ganz Norwegen, an denen neue Ordnungshüter ausgebildet werden. Allerdings gibt es die "Polizeihochschule" an dieser Stelle erst ungefähr so lange, wie auch der Marathon existiert.

Bis Ende der Achtziger wurden die Gebäude nämlich von einer Landwirtschaftsschule benutzt. Der damals noch in Betrieb befindliche Hof deckte gleich den praktischen Teil des Unterrichtes ab. Nach der Schließung fand die Gemeinde Kongsvinger dann mit der Polizei einen neuen Nutzer. Für deren Schulungszentrum wurde das Gelände inzwischen sogar noch um zusätzliche Bauten ergänzt. Sicher nicht nachteilig für die Entscheidung dort einzuziehen war die Tatsache, dass sich direkt nebenan ein großes Waldgebiet befindet.

"Politihøgskolen ligger i naturskjønne omgivelser" heißt das auch für Nichtskandinavier durchaus verständlich auf der Internetseite der Hochschule. Neben der sich dadurch im Gegensatz zu den stadtnahen Schwesterinstituten ergebenden Abgeschiedenheit ist natürlich die Tatsache, dass man die Wälder für Ausbildungsübungen im Gelände nutzen kann, ein weiterer Vorteil. Und das ebenfalls benachbarte Skizentrum mit im Winter gespurten und zum Teil sogar beleuchteten Loipen ist ein zusätzliches Schmankerl.

Dieses Langlaufstadion stellt den Start- und Zielort für alle Läufe dar. Im Sommer besteht es aber natürlich aus nicht viel mehr als einer großen Wiese, die - wie die auf ihr stehenden Tore zeigen - von den angehenden Polizisten auch als Fußballplatz genutzt werden kann. An diesem Tag verhindert jedoch schon ein über die gesamte Fläche verlaufender Flatterband-Kanal, dass irgendjemand den Ball zum Kicken heraus holt.

Mitten durch die Stadt fließt die von zwei Brüchen überspannte Glomma, die mit sechshundert Kilometern der längste norwegische Fluss ist

Auch mehrere kleine Zelte sind auf dem Gras aufgestellt. Und die Aufschrift "Velkommen til Kongsvinger Maraton" an einer der Seitenwände zeigt eindeutig, dass man richtig ist. Die Startnummern bekommt man allerdings dort nicht. Diese werden nämlich in einer Garage unter dem der Wiese am nächsten gelegenen Gebäude der Polizeischule verteilt.

Zusammen mit dem relativ groß ausfallenden Papier bekommt man auch einen Chip ausgehändigt. Denn trotz durchaus überschaubarer Teilnehmerfelder arbeiten die Organisatoren in Kongsvinger bei der Auswertung mit einer der beiden in Norwegen führenden Zeitnehmerfirmen zusammen. Dass die "brikker" für die "tidtaking" nicht am Schuh sondern mit einem Klettband am Fußgelenk befestigt wird, wundert im vom Skilanglauf geprägten Skandinavien eigentlich nicht. Im Ziel sind diese dann außerdem auch schnell wieder eingesammelt.

Wirklich beeilen muss man sich morgens nicht, um seine Startnummer noch rechtzeitig in Empfang nehmen zu können. Denn erst um elf Uhr gehen die Marathonläufer auf die Strecke. Wer auf der halben Distanz starten möchte hat sogar noch zwei weitere Stunden Zeit, um zum Sæter Gård zu kommen. Es sind Uhrzeiten, wie sie für Laufveranstaltungen im Norden Europas vollkommen normal sind, um den weitaus längeren Anfahrtswegen der Teilnehmer gerecht zu werden.

Je nachdem ob man den mit einem Sonderstatus ausgestatteten arktischen Archipel Svalbard - hierzulande eher unter dem Namen der Hauptinsel Spitzbergen bekannt - mitrechnet oder nicht, ist Norwegen schließlich ein wenig kleiner oder sogar etwas größer als Deutschland. Es zählt aber gerade einmal fünf Millionen Einwohner, von denen ein Drittel alleine in den vier größten Städten Oslo, Bergen, Stavanger und Trondheim lebt.

Und Hedmark - die Provinz, in der Kongsvinger liegt - besitzt zwar die Fläche eines mittelgroßen deutschen Bundeslandes. Doch verteilen sich über dieses "Fylke" - wie die Verwaltungsregionen in Norwegen genannt werden - keine zweihunderttausend Menschen. So errechnet sich dann eine Bevölkerungsdichte, die nicht mehr als ein Zehntel des Wertes des größenmäßig ungefähr vergleichbaren - und ebenfalls keineswegs als übervölkert verschrienen - Mecklenburg-Vorpommern beträgt.

Man muss in Skandinavien also mit weitaus größeren Einzugsgebieten für eine Laufveranstaltung als in Mitteleuropa kalkulieren. In Kongsvinger kommt man dabei im Vergleich sogar relativ gut weg. Schließlich liegt das Städtchen ja fast noch im Großraum von Oslo. Doch bis zur nächsten größeren Stadt Hamar - mit etwa dreißigtausend Bewohnern keineswegs eine große Metropole - muss man ebenfalls rund einhundert Kilometer fahren.

Ansonsten kommt in diesem Umkreis eigentlich keine weitere Gemeinde über zwanzigtausend Einwohner hinaus. Eine Zahl, die noch deutlich aussagekräftiger wird, wenn man sich vor Augen hält, dass norwegische "kommuner" in der Regel die Ausmaße eines deutschen Landkreises besitzen. "Kongsvinger Kommune" erstreckt sich zum Beispiel über mehr als tausend Quadratkilometer und ist damit flächenmäßig größer als Berlin.

"Velkommen til Kongsvinger Maraton", eine Garage dient als Startnummernausgabe, ein Skilanglaufstadion als Start und Zielbereich

Neben der dünnen Besiedlung sorgen die zerklüftete, von Gebirgen und Wasserflächen dominierte Landschaft und die durch unzählige Inseln sowie die lang gestreckten, ziemlich verästelten Fjorden in kaum noch nachvollziehbarer Größenordnung zerfranste Küstenlinie für lange Anfahrten. Zwar machen die kurvigen Sträßchen Reisen quer durch Norwegen einerseits wirklich interessant und spektakulär, andererseits aber eben auch ziemlich mühsam und zeitaufwendig.

Selbst bis zu einem eigentlich nur ein oder zwei Dutzend Kilometer entfernten Ort kann man da in extremen Fällen durchaus auch einmal Stunden unterwegs sein. Wenn sie nicht dem Großteil ihrer Teilnehmer eine Übernachtung zumuten wollen, bleibt Laufveranstaltern also kaum etwas anderes übrig, als eine relativ späte Uhrzeit für den Start zu wählen.

Was hierzulande im Hochsommer praktisch undenkbar wäre, stellt im Norden Europas ein wesentlich kleineres Problem dar. Dass der Lauf in einer brutalen Hitzeschlacht enden könnte, ist angesichts der mittleren Höchsttemperaturen von ungefähr zwanzig Grad, die selbst im Süden Norwegens gemessen werden, eher unwahrscheinlich. Und je weiter man nach Norden kommt, umso kleiner werden die Zahlen natürlich.

Doch ein Durchschnitt muss selbstverständlich nicht immer vollständig damit übereinstimmen, was man in der Realität wirklich vorfindet. Dass es bei einer solchen Betrachtung eben stets auch in beide Richtungen Ausreißer gibt, davon können sich die Teilnehmer am "Kongsvinger Maraton" bereits lange vor dem Start überzeugen.

Denn schon früh ist das Quecksilber an diesem Morgen über den in den Klimatabellen angegebenen Wert gestiegen. Bis zum Mittag werden dann sogar Temperaturen von deutlich mehr als fünfundzwanzig Grad erreicht werden. Am unangenehmsten ist jedoch die relativ hohe Luftfeuchtigkeit, die auch ohne sportliche Betätigung den einen oder anderen Schweißtropfen rinnen lässt.

Wie meist bei kleinen und überschaubaren Veranstaltungen zeigt bis kurz vor dem Start kaum ein Marathoni Interesse am Einnehmen der Position. Lieber plaudert man noch ein bisschen herum

Die äußeren Bedingungen sorgen dafür, dass sich die Grasfläche weit vor der angesetzten Zeit von elf Uhr füllt. Doch wie meist bei so kleinen und überschaubaren Veranstaltungen zeigt kaum ein Marathoni irgendein Interesse am Einnehmen der Startposition. Lieber plaudert man noch ein bisschen herum. Schließlich kennen sich die meisten ziemlich gut. Denn die norwegische Laufszene ist insbesondere über die längeren Distanzen recht übersichtlich aufgestellt.

Regelmäßig wiederholen sich auf den vorderen Plätzen der Ergebnislisten die gleichen Namen. Und im Mittel- und Hinterfeld tummeln sich etliche Vielstarter. Auch hierzulande stellt sich die Situation ja nicht unbedingt anders dar. Während sich Ersttäter und Gelegenheitsstarter tendenziell verstärkt auf die großen Stadtläufe stürzen, begegnet man bei kleinen Veranstaltungen hauptsächlich Routiniers.

Allerdings ist dabei im Gegensatz zum Norden Europas sowohl die Zahl der Rennen als auch die Zahl der Läufer wesentlich höher, so dass es schon aus rein statistischen Gründen weit größeren Austausch und weniger Überschneidungen in den Starterfeldern gibt. Da deren Größe in Norwegen zudem fast immer noch einmal eine volle Zehnerpotenz niedriger als anderswo ausfällt, erkennt man selbst als aus der Ferne angereister Gast schon nach wenigen Rennen im Land eine ganze Reihe von Gesichtern auf dem Sportgelände wieder.

Erst als der Sprecher vom Balkon der ein wenig am Hang stehenden, hölzernen Zielhütte drängt, dass es nur noch "to minutter" - da es eher wie "tuu" ausgesprochen wird, lässt sich aufgrund der Analogie zum Englischen "two" die Bedeutung dieser Ansage auch für des Norwegischen nur bedingt Mächtige erkennen - bis zum Start seien, füllt sich der Aufstellungsbereich hinter der Zeitmessmatte langsam.

Doch nicht alle Marathonis versammeln sich hinter den zusammenrollbaren, orangefarbenen Plastikzäunen. Einige sind vielmehr längst auf der Strecke. Wer damit rechnet, länger als fünf Stunden zu benötigen, kann nämlich bereits um zehn Uhr starten. "Løpere som beregner å bruke mer enn 5 timer kan få starte klokka 10:00", heißt das - mit etwas Phantasie durchaus verständlich - im Original der Ausschreibung.

Erst bei der Ansage "to minutter" füllt sich der Aufstellungsbereich hinter der Zeitmessmatte langsam

Die Methode eines vorgezogenen Starts hat für die Organisatoren den großen Vorteil, dass die Verpflegungsstellen deutlich gleichmäßiger ausgelastet werden. Zwar müssen die ersten Posten ihren Dienst so etwas früher antreten. Doch brauchen die Helfer an den hinteren Ständen eben auch längst nicht so lange auf einzelne Nachzügler zu warten. Da auf dem Zwei-Runden-Kurs alle "drikkestasjoner" gleich zweimal angesteuert werden, ergeben sich jeweils etwa vier Stunden, in denen sie zu besetzten sind

Den Satz, der diese Möglichkeit eröffnet, kann man aber auch in einer englischen Variante auf der Internetseite der Veranstaltung entdecken. Denn zumindest die Basisdaten sind in dieser Sprache ebenfalls nachzulesen. In Skandinavien ist das zwar meist üblich, doch so selbstverständlich ist es eigentlich nicht. Denn welcher deutsche Lauf mit insgesamt etwa dreihundert Teilnehmern bietet schon anderssprachige Versionen seines Netzauftrittes an.

Und obwohl der weitaus größte Teil der Teilnehmer natürlich aus Norwegen stammt, hat man tatsächlich ein wenig Internationalität in die Starterfelder bekommen. So wird beim Marathon zum Beispiel der Engländer Paul Daniel Murray als Gesamtsiebter einlaufen. Und in der Halbmarathon-Liste tauchen neben einem Iren sogar noch eine Kanadierin und ein US-Amerikaner auf. Auch einige Dänen lassen sich entdecken.

Überraschend klein ist allerdings das schwedische Kontingent. Schließlich grenzt das Gemeindegebiet von Kongsvinger direkt an Schweden. Nur etwa zwanzig Kilometer beträgt die kürzeste Entfernung ins Nachbarland. Gleich zwei Straßen und sogar eine Eisenbahnlinie führen vom Städtchen aus hinüber. Doch sind weder die direkt hinter der Grenze liegenden Gemeinden Arvika und Torsby noch die beiden an Hedmark anschließenden Landschaften Värmland und Dalarna wesentlich dichter besiedelt als das norwegische Fylke.

"Tretti sekunder" schallt es aus dem Lausprecher. Und nun, eine halbe Minute vor dem Start rücken einige dann doch bis zur Linie vor. Bei "ti sekunder" sind schließlich auch die Letzten bereit. "Fem, fire, tre, to en". Ohne Schuss oder ein irgendein anderes Signal setzt sich das Feld in Bewegung, um erst einmal die mit Flatterband abgesteckte Runde um die ganzen Anlage zu absolvieren.

Bei "Tretti sekunder" rücken einige dann doch bis zur Startlinie vor
Erst einmal wird eine mit Flatterband abgesteckte Runde um die ganzen Anlage absolviert

Dabei geht es gleich einmal an einigen Fahnenmasten vorbei, an denen neben der norwegischen auch die dänische und die schwedische Farbvariante des skandinavischen Kreuzes flattern. Doch eine deutsche und eine irische Flagge haben die Organisatoren ebenfalls irgendwo aufgetrieben. Bilder von voran gegangenen Auflagen des Marathons zeigen, dass diese Auswahl keineswegs zufällig ist, sondern sich durchaus ein wenig an den Startlisten orientiert. Denn auch andere Farben hingen in früheren Jahren schon an den Stangen.

Nach einem großen Bogen und einigen hundert Metern auf Gras verlässt man das Skistadion nicht allzu weit hinter dem Startbereich. Die Strecke schwenkt nach links auf einen in den Wald hinein führenden Schotterweg. Doch schon am nächsten Abzweig geht es gleich wieder nach rechts. In einem leichten Gefälle läuft man erst einmal dem Fluss und der parallel zu ihm verlaufenden Straße entgegen.

Der eher lichte und hohe Baumbestand gibt dabei den Blick auf die Glomma frei, die an dieser Stelle bereits mehr als die Hälfte ihres weiten Weges zum Meer hinter sich gebracht hat. Praktisch die gesamte Länge des sich in Nord-Süd-Richtung gut dreihundert Kilometer erstreckenden Fylke hat sie bei ihrer Ankunft in Kongsvinger durchflossen. Im Bereich der Innenstadt macht der bis dahin südlich strömende Fluss dann jedoch einen scharfen Knick nach Westen und dreht erst nach dem Verlassen von Hedmark wieder langsam in die ursprüngliche Richtung ein.

Eigentlich kommt die Glomma sogar noch weiter aus dem Norden. Sie entspringt nämlich auf dem Gebiet der Bergwerksstadt Røros in der Nachbarprovinz Sør-Trøndelag. Deren alter Kern ist seit mehr als drei Jahrzehnten als Weltkulturerbe ausgezeichnet. Das ist insbesondere deswegen bemerkenswert, weil es in Norwegen wahrlich nicht viele dieser besonders geschützten Stätten gibt. Gerade einmal ein halbes Dutzend Einträge lassen sich nämlich auf den Listen der UNESCO entdecken.

Würde man der Straße immer weiter nach Norden folgen, könnte man tatsächlich immer entlang des Flusses bis nach Røros kommen. Genau in dem Moment, in dem sie am Asphalt ankommt, schwenkt die Laufstrecke aber wieder zurück in den Wald und gewinnt die verlorenen Höhenmeter relativ schnell zurück. In leichten Wellen geht es über einen "skogsbilvei" - was sich wortwörtlich als "Waldautostraße" übersetzen lässt, denn in Skandinavien wird "Automobil" genau am anderen Ende abgekürzt - weiter.

Durch lichten Wald geht es erst einmal leicht bergab dem Fluss entgegen Schnell gewinnt der Weg die verlorenen Meter aber wieder zurück

Schilder mit der "1" und der "2" werden auf dieser Forststraße passiert, denn jeder Kilometer ist unterwegs gekennzeichnet. Die Abstände sind dabei durchaus plausibel. Dass allerdings direkt darunter auch die Zahlen "22" und "23" erscheinen, lässt dann doch leichte Zweifel an deren absoluter Genauigkeit aufkommen. Denn weder Start noch Ziel von Voll- und Halbmarathon sind in irgendeiner Art zueinander verschoben.

Dort wo der bis dahin zwar mit leichten Bögen ans Gelände angepasste, aber dennoch weitgehend in die gleiche Richtung verlaufende Weg scharf nach links knickt, steht ein Auto im Wald. Davor sind mehrere Klapptische aufgebaut und daneben warten zwei Helfer, um den Marathonis die darauf stehenden Becher hin zu halten. Denn schon nach etwas über zwei Kilometern hat man die erste Verpflegungsstelle erreicht.

Auch im restlichen Verlauf des Rennens wird dieser Abstand weitgehend eingehalten. Insgesamt neun Versorgungsposten haben die Organisatoren pro Halbmarathonrunde im Wald vorgesehen. Zusammen mit einem weiteren Stand, den man beim Durchlauf am Sæter Gård passiert, ergibt sich für die Langstreckler so stolze neunzehn Mal die Möglichkeit Flüssigkeit nachzutanken. Und angesichts der Temperaturen und der Schwüle wird das Angebot an diesem Tag tatsächlich reichlich genutzt.

Auch die Auswahl ist keineswegs schlecht. Denn neben Wasser hat jede "drikkestasjon" noch Cola und Elektrolytgetränke vorrätig. Bananen und Rosinen - eine in Norwegen ziemlich übliche Variante der Wettkampfernährung - ergänzen das Sortiment um feste Bestandteile. Bei dieser Versorgungsdichte hat dann auch praktisch niemand im Marathonfeld zusätzliche Eigenverpflegung dabei. Was früher völlig normal war, ist inzwischen, wo viele selbst bei Stadtmarathons wie zu einer Sahara-Expedition bepackt antreten, schon eine Erwähnung wert.

Jede Getränkestelle wird von einem Schild etwa zweihundert Meter im Vorfeld angekündigt. "Velkommen til" steht dort in der ersten Zeile zu lesen. Darunter steht ein großes "drikkestasjon". Doch dazwischen taucht jedes Mal ein anderes Firmenlogo auf. So bekommt nämlich jeder Sponsor noch einmal eine zusätzliche Erwähnung mit seinem eigenen Stand. Neu ist die Methode sicher nicht. Bei einigen großen Veranstaltungen wird schon länger in dieser Form geworben. Doch warum soll ein kleiner Lauf wie der in Kongsvinger eigentlich nicht genauso verfahren?

Hinter der Verpflegung und der scharfen Kurve ist der Weg wesentlich stärker mit Gras bewachsen. Und bald darauf geht er in einen schmalen Trampelpfad über, der sich erst ebenfalls auf Gras, später aber auch über Wurzeln und Steine zwischen den Bäumen hindurch windet. Ein wenig konzentrieren muss man sich dabei schon, um nicht zu stolpern. Mit einem absolut flachen Straßenschritt geht es natürlich nicht. Doch Spaß macht es eindeutig, so durch die urwüchsigen skandinavischen Wälder zu laufen.

Nach etwas mehr als zwei Kilometern geht der anfänglich ziemlich breite Weg in einen schmalen Trampelpfad über

Hierzulande würden viele Veranstalter einen solchen Abschnitt werbemäßig gleich groß als "Singletrail" ausschlachten. Die Streckenbeschreibung in Kongsvinger beschreibt diese Passage jedoch einfach und nüchtern mit dem norwegischen Begriff "sti". Was sprachlich unverkennbar mit den deutschen Worten "Stieg" und "Steig" verwandt ist, bedeutet nämlich übersetzt tatsächlich schlicht und ergreifend "Pfad".

In einigen Bereichen ist der Untergrund ziemlich feucht. Moore sind für die Wälder in Nordeuropa durchaus typisch und können recht große Flächen bedecken. In Kongsvinger handelt es sich aber nur um einige kleinere Stellen, über die zudem fast immer Bohlenwege hinweg führen. Doch aus mehr als zwei nebeneinander liegenden Brettern bestehen sie in der Regel nicht. Wenn man sich keine nassen Füße hohlen will, kann man sie nur hintereinander belaufen. Für das kleine Marathonfeld ist das kein Problem, beim Halbmarathon dürfte es schon ein wenig enger werden.

Nach ziemlich genau vier Kilometern kommt der "sti" wieder in die Nähe des Start- und Zielgeländes. Und nur wenige Meter entfernt von der Einmündung jenes Schotterpiste, auf der man diesem den Rücken gekehrt hatte, stößt man erneut auf den schon bekannten Hauptweg, der hinter der Skiarena entlang führt. Von einem Pfad, auf dem man fast jeden Schritt mit Bedacht setzen musste, wechselt man wieder auf wesentlich einfacher zu belaufenden "grus" - wie der Schotterbelag in Skandinavien genannt wird - unterwegs.

Diese nun beendete "Einführungsrunde" wird später die Wettkampfstrecke des Minimarathons sein. Und sie ermöglicht den nicht unbedingt zahlreich anwesenden Zuschauern auf einfache Art noch einen zweiten Blick auf die Läufer. Denn anschließend werden diese für deutlich länger im Wald verschwinden. Langsam, aber stetig geht es auf dem "skogsbilvei" nun bergan, während man sich immer weiter vom Stadion entfernt.

Ein Tal namens "Djupdalen" geht es dabei mit mittleren einstelligen Steigungsprozenten hinauf. Und einen Kilometer später läuft man für einige Zeit wirklich durch einen relativ engen Taleinschnitt mit Hängen zu beiden Seiten. Der Anstieg ist in diesem Moment sogar noch ein wenig flacher geworden. Und auch als sich der Wege wenig später gabelt und die Strecke die halbrechte Alternative nimmt, bleibt das Gelände weiter moderat.

An ganz unterschiedlichen Vegetationsvarianten kommt man dabei im Verlauf der Kilometer vorbei. Einige eher lichte Teile erinnern mit ihren hohen Nadelbäumen dabei durchaus an die Gegenstücke in hiesigen Mittelgebirgen. Doch machen sie dabei trotzdem noch einen etwas naturbelasseneren Eindruck als die wirtschaftlich intensiv genutzten Forste weiter im Süden.

Über Wurzeln und Steine windet sich der "sti" zwischen den Bäumen hindurch

Andere Bereiche sind hingegen wesentlich dichter bewachsen, wirken regelrecht urwüchsig und irgendwie auch "typisch nordisch".

Zwischen Stämmen nahezu jeder Größe und Art sowie wuchtigen, moosbedeckten Granitfelsen erstreckt sich dort ein auf den ersten Blick nahezu undurchdringliches Unterholz, wachsen Sträucher und Büsche - zum Beispiel die im Norden so häufigen und beliebten "Blåbær", also Heidelbeeren. Am auffälligsten sind allerdings die an den Ästen und Rinden der Bäume hängenden hellgrünen Flechten, die dem Wald einen beinahe märchenhaften Charakter verleihen.

Selbst wenn der Weg dabei weitgehend geradeaus und nur leicht wellig verläuft, ist das keineswegs langweilig. Und spätestens als die Strecke auf dem achten Kilometer ziemlich abrupt in einen heftigen Anstieg hinein führt, gibt es auch in ganz anderer Hinsicht Abwechslung genug. Innerhalb von wenigen hundert Metern werden rund fünfzig Höhenmeter gewonnen, bevor man das Ende dieses ziemlich ruppigen Stiches erreicht hat.

Etwa genauso viele hatte man zuvor schon gegenüber dem Startpunkt im Skistadion gewonnen. Und noch einmal ungefähr fünfzig Metern stehen bevor, um den höchsten Punkt des Kurses zu erreichen. Nimmt man alle weiteren kleineren Anstiege, Kuppen und Wellen dazu, ergeben sich in der Summe rund dreihundert Meter Höhenunterschied - pro Runde wohlgemerkt. Und die Marathonis müssen davon ja zwei absolvieren. In Kongsvinger findet man also alles andere als eine topfebene Rekordpiste vor.

Aber bei einem "skogsmaraton" erwartet man diese nun auch sicher nicht unbedingt. Angesichts der schon erwähnten riesigen Waldgebiete in Skandinavien - trotz ausgedehnter Flächen, die bereits oberhalb oder nördlich der Baumgrenze liegen, sind dennoch rund ein Drittel des norwegischen Territoriums bewaldet - scheint es aus hiesigem Blickwinkel seltsam, dass es nicht mehr als drei Läufe dieser Art geben soll. Doch sind die skandinavischen "skoger" eben nicht im Entferntesten so gut erschlossen wie in Mitteleuropa.

Im Norden des Kontinents führen Wege nämlich häufig nur in dem Wald hinein, um irgendeinen bestimmten Punkt - zum Beispiel eine Hütte oder einen See - zu erreichen und dort einfach zu enden. Im günstigsten Fall kann man das Gebiet vielleicht gerade noch auf der anderen Seite wieder verlassen. Von einem dicht geknüpften Netz an Forststraßen, das im Abstand von wenigen hundert Metern ständig neue Alternativen bietet, eine Laufstrecke abzustecken, können skandinavische Veranstalter jedenfalls nur träumen.

Vielleicht auch deshalb beschränkt man sich in Kongsvinger auf einen einundzwanzig Kilometer langen Rundkurs und steckt keine - natürlich außerdem viel schwerer zu betreuende - ganz große Schleife ab. Mit etwas Mühe könnte man sicher auch weitere Bögen schlagen. Den einen oder anderen Querweg entdeckt man im Wald während des Laufes schon. Ob man dann jedoch mit der Streckenlänge auch nur annähernd hinkommen würde, steht auf einem ganz anderen Blatt.

Einige feuchte Stellen werden auf schmalen Bohlenwegen passiert Auch Streckenteile, die auf der Karte als "Fahrweg" gekennzeichnet sind, kommen ziemlich uneben daher Mehrfach führt die Runde über Naturpfade, die jedoch ziemlich unterschiedlich beschaffen sein können

Der Nordmarka Maraton in Oslo ist jedenfalls die einzige Veranstaltung aus dem Trio, bei der die Distanz tatsächlich nur auf einer einzigen Runde absolviert wird. Doch selbst auf dieser müssen mit einem längeren Wendepunktabschnitt einige Kilometer heraus geschunden werde. In Bergen dagegen, beim im Vorjahr neu aufgelegten "tredje skogsmaraton i Norge" geht es sogar fünfmal um den gleichen Kurs herum.

Davon, dass es sich bei den nur in den Wald hinein, aber nicht wieder hinaus führenden Strecken keineswegs nur um eine leere Phrase handelt, kann man sich einen Kilometer später überzeugen. Denn an einigen zwischen den Bäumen auftauchenden Holzhäusern endet der breite Weg einfach. Die Marathonis müssen - man könnte aber durchaus auch sagen "dürfen" - nach rechts auf einen weiteren "sti" einschwenken.

Allerdings hatte bereits auf den letzten beiden Kilometern die auf der offiziellen Karte noch als "grusvei" geführte Strecke nicht mehr allzu viel mit der Schotterstraße gemein, auf der man anfangs in den Wald hinein gelaufen war. Diese grasbewachsene und gelegentlich auch recht unebene Piste dürfte wohl eher schlecht mit einem Auto zu befahren sein - zumindest, wenn es über keinen Allradantrieb verfügt.

Trotzdem steht dort mitten im "skog" ein Fahrzeug. Und davor kann man mehrere aufgebaute Klapptische erkennen. Denn zwischen den Kilometern acht und neun ist bereits die vierte der vielen Verpflegungsstellen erreicht. Unter dem dichtem Blätterdach eines ziemlich urwüchsigen Teil des Waldes und in einer Kurve am Hang aufgebaut, hat diese vielleicht sogar die schönste Lage von allen.

Hinter dem nicht allzu langen, aber ziemlich anspruchsvollen Stich hatte sich das Streckenprofil schnell wieder beruhigt. Sogar kürzere Passagen mit leichtem Gefälle waren dabei in der Folge durchlaufen worden. Und nachdem der "skogsbilvei" auf seinen letzten Metern noch einmal etwas bergan zu den Hütten hinauf gezogen hatte, geht es auf dem "sti" anschließend ebenfalls gleich wieder ein Stück hinunter.

Auf ziemlich brüchig und - gerade weil man sie mit viel Schwung von oben ansteuert - wenig vertrauenswürdig erscheinenden Brettern wird nämlich eine kleine Senke mit einem noch kleineren Bächelchen gequert. Danach führt der Pfad vorbei an Kilometer neun zwar erneut ein wenig nach oben. Doch wirklich heftig wird es erst, als man ihn nach einigen hundert Metern wieder verlässt und auf einen anderen Schotterweg hinaus läuft.

Zwar nicht ganz so lang wie bei der ersten heftigen Rampe, doch dafür sogar noch etwas steiler muss man auf ihm nämlich bergan klettern. Deutlich zweistellig sind dabei für zwei- bis dreihundert Meter die Prozentwerte. Selbst wenn in diesem Moment noch nicht einmal ein Viertel der Distanz bewältig ist, werden angesichts eines solchen Neigungsgrades die Beine doch ziemlich schwer.

Bei Kilometer acht ist die erste schwierige Steigung bewältigt … … die zweite führt die Läufer zum höchsten Punkt an den Skihütten von Tjernsli

Und auf der zweiten Runde, wenn es nach dreißig Kilometern den gleichen Stich noch einmal hinauf geht, kann es nicht schaden, sich immer wieder jenes "klart du kann" einzureden, mit dem die Organisatoren ihre Veranstaltung überschrieben haben. Dass ein Amerikaner, der in seinen Reden die englische Übersetzung dieses Mottos verwendete, sogar zum Präsidenten gewählt wurde, ist sicher kein Zufall. Doch wer hat dabei wohl von wem abgeschrieben?

Wenigstens braucht man diesen Anstieg aber nicht bis ganz nach oben. Denn etwa nach der Hälfte zweigt auf der linken Seite ein kleiner Weg ab, dem die Strecke von da an weiter folgt. Kleine Tafeln mit Richtungspfeilen am Wegesrand und Flatterbändern an den Bäumen machen ein Verlaufen auch ohne Streckenposten kaum möglich. Anfangs fast genauso ruppig wandelt sich er bald darauf in einen sich ziemlich wellig durch den Wald ziehenden "sti".

Eine dieser Kuppen ist der höchstgelegene Punkt des Rennens. Denn während man auf die kleine Lichtung mit den Skihütten von Tjernsli hinaus läuft, geht es schon wieder leicht bergab. Man bewegt sich dabei auf knapp dreihundertzwanzig Metern über dem - an dieser Stelle für norwegische Verhältnisse recht fernen - Meer. Bis zum Oslofjord, wo man zum ersten Mal auf Salzwasser stoßen würde, sind es von Kongsvinger aus gesehen schließlich rund achtzig Kilometer.

Und durch die zerrissene Küstenlinie ist kaum ein Punkt des gesamten Staatsgebietes überhaupt weiter als hundert Kilometer von der See entfernt. Nur ganz im Osten des Landes, dort wo Hedmark an Mittelschweden grenzt, lassen sich - immer in der Luftlinie gerechnet - für einige Ort knapp doppelt so hohe Werte ermitteln. Neben dem westlich benachbarten Oppland ist dieses Fylke dann auch die einzige der immerhin zwanzig norwegischen Provinzen, die keinen direkten Zugang zum Ozean besitzt.

Welche Bedeutung diese ausgedehnte Küste für Norwegen auch kulturell und emotional hat, lässt sich erkennen, wenn man in jenen Tagen den Fernseher einschaltet. Denn auf einem der Programme des staatlichen Senders NRK läuft fast rund um die Uhr "Sommeråpent - minutt for minutt". Ursprünglich handelt es sich bei dieser Sendung - deren Name etwa mit "im Sommer geöffnet" zu übersetzten ist - um eine Art "Mittagsmagazin am Abend", bei dem zwischen Juni und August täglich in lockeren Gesprächen verschiedenste Themen vorgestellt werden.

Nachdem zwei Jahre zuvor jedoch fast zwei Wochen lang rund um die Uhr - eben "minutt for minutt" - eine Hurtigruten-Fahrt live übertragen hatte und dabei völlig unerwartet enorm hohe Einschaltquoten registrieren konnte, haben die Programmverantwortlichen in diesem Jahr ein Schiff die norwegische Küste erst hinauf und anschließend wieder hinunter geschickt. Gesendet wird jeden Abend aus einem anderen Hafen.

Das Besondere ist jedoch, dass tagsüber viele Stunden lang die Fahrt der "MS Sjøkurs" durch Fjorde und Sunde zum nächsten Anlegeplatz ebenfalls direkt übertragen wird. Und auch diese Reise entlang der nun wirklich ziemlich spektakulären Landschaft findet keineswegs wenige Zuschauer. Selbst wenn sich natürlich so gut niemand alles ununterbrochen ansehen kann, schaut man immer wieder einmal hinein, um die Schönheit des eigenen Landes zu bewundern.

Hinter den mitten im Wald gelegenen Skihütten geht es vorbei an Kilometer zehn erst einmal spürbar bergab Nach vierzehn Kilometern klettert die Stecke einen vor noch nicht allzu langer Zeit gerodeten Hügel hinauf, von dem man einen herrlichen Ausblick hat

Nicht umsonst lauten die ersten Zeilen der norwegischen Nationalhymne "ja, vi elsker dette landet, som det stiger frem, furet, værbitt over vannet". Viel treffender lässt sich weder das Land selbst noch die Einstellung seiner Bewohner in wenige Worte fassen. Ins Deutsche übertragen würde der Text nämlich "ja, wir lieben dieses Land, wie es zerfurcht und vom Wetter gezeichnet aus dem Wasser aufsteigt" lauten. Doch gibt es sicher auch nur wenige Nationalhymnen, die von einem späteren Literaturnobelpreisträger - in diesem Falle Bjørnstjerne Bjørnson - gedichtet wurden.

Für Norwegen ist die Gegend rund um Kongsvinger jedenfalls fast schon als "lieblich" zu bezeichnen. Und relativ flach ist sie ebenfalls. Schließlich liegen über fünfzig Prozent der Landesfläche oberhalb der Fünfhundert-Meter-Marke. In näherer Umgebung der Marathonstrecke ist dagegen "Steinbitberget" mit 416 Metern und ungefähr einen Kilometer von Tjernsli entfernt die höchste Erhebung.

Ein Stück nördlich davon ragen die Berge zwar noch etwas weiter auf. Doch deutlich über fünfhundert Meter geht es weder auf dem Gebiet von Kongsvinger noch in seinen Nachbargemeinden hinaus. Verglichen mit West- und Nordnorwegen ist auch das gesamte Fylke Hedmark relativ eben. Je weiter man der Glomma flussaufwärts folgt, umso höher werden die Gipfel allerdings dann doch.

Im Nordwesten, wo die Provinz auf Oppland und Sør-Trøndelag trifft, sind auch Höhenangaben von zwölf- oder vierzehnhundert Metern keine Seltenheit. Da die Baumgrenze in Skandinavien meist auf maximal acht- bis neunhundert Metern liegt, kann man dies fast schon als "Hochgebirge" bezeichnen. Und ganz im Westen von Hedmark im Rondane-Nationalpark zählen Rondslottet mit 2178 Metern sowie Høgronden und Vinjeronden sogar zu den knapp zweihundert norwegischen Zweitausendern.

Hinter der Hüttengruppe tritt die Stecke wieder auf einen "grusvei" hinaus. Und dieser führt erst einmal mit viel Schwung abwärts. Nicht nur wegen des Gefälles ist er wirklich angenehm zu laufen. Denn während im Aufstieg meist zusätzlich zur ohnehin schon schwül-warmen Witterung auch noch die Sonne beinahe vom Zenit ihrer Bahn auf die Marathonis heran schien, versteckt sie sich nun hinter einigen Wolken. Und der Luftzug, den nun man zudem noch spüren kann, hat auch nicht nur mit dem verstärkten Fahrtwind beim schnellen Lauf bergab zu tun.

Nicht allzu lange geht es jedoch wirklich so stark hinunter. Bald hinter dem zehnten Kilometer wird aus dem deutlich fallenden Profil wieder ein stetiger Wechsel aus leichtem Auf und Ab, mit dem man sich noch immer nur unwesentlich unterhalb der Dreihundert-Meter-Linie bewegt. Kilometer elf wird auf diesem ohne große Richtungsänderungen, aber trotzdem nie stur geradeaus verlaufenden Abschnitt ebenfalls noch passiert. Und erst ein ganzes Stück nach dieser Markierung taucht dann Verpflegungsstelle Nummer fünf auf.

Ausgerechnet nach dem unangenehmen Anstieg zum höchsten Punkt der Runde lässt die nächste Versorgung mit Getränken also besonders lange auf sich warten. Allerdings befindet sich der Stand genau an der Einmündung des Weges in einen anderen "skogsbilvei", auf dem es nun linker Hand weiter geht. Die Helfer können also auch gleich die Funktion des Streckenpostens mit übernehmen und aufpassen, dass trotz aller Markierungen nicht doch jemand nach rechts abbiegt, um noch weiter in den Wald zu laufen.

Noch unter den ersten Zehn absolviert Mathis Gjermshus die längere Wendepunkpassage, später steigt er aber aus Die Vereinskameraden Ole Guttulsrød (hinten) und Halvor Been laufen bis zum Schluss zusammen und werden in ihren Klassen jeweils Dritte Kjetil Moen kann als Hauptklassezweiter den M65-Sieger Kjell Skogvang doch noch etwas deutlicher hinter sich lassen

Auf den ungefähr zwei Kilometern, die man seit dem Durchqueren von Tjernsli inzwischen schon wieder zurück gelegt hat, war man zuvor an keinem anderen Abzweig vorbei gekommen. Selbst Trampelpfade hatte man beim Vorbeieilen nicht entdecken können. Doch an den meisten Stellen wäre das Gestrüpp ohnehin viel zu dicht gewesen. Unter diesen Voraussetzungen ist es, wenig erstaunlich, dass viele der besten Orientierungsläufer aus Skandinavien stammen.

In urwüchsigen und weitgehend weglosen Wäldern kann man schließlich wesentlich besser erlernen sich nur mit Karte und Kompass zurecht zu finden, als wenn man in sorgsam gepflegten Forsten schon nach wenigen hundert Metern auf eine große Wegekreuzung mit einem fast noch größeren Schilderbaum stößt. Diese Sportart wurde jedenfalls nicht nur in Nordeuropa erfunden, lange Zeit machten die Skandinavier auch die internationalen Meistertitel weitgehend unter sich aus.

In den letzten Jahren sind die Ergebnislisten dann allerdings doch etwas bunter geworden. Auch französische, tschechische oder russische Goldmedaillengewinner tauchen nun darin auf. Als dritte Großmacht dieser in Deutschland noch immer recht exotischen Disziplin hat sich neben Schweden und Norwegen jedoch die Schweiz etabliert, was die obige These gleich wieder zu widerlegen scheint. Schließlich besitzt wohl kaum ein Land ein dichteres und besser markiertes Wanderwegenetz, dessen Förderung zudem sogar in der Verfassung verankert ist.

Mehr als ein halbes Dutzend eidgenössischer Herren konnte sich jedenfalls inzwischen einen Weltmeistertitel in einer der drei existierenden Einzeldisziplinen oder zumindest in der Staffel sichern. Bei den Damen ist man kaum weniger breit aufgestellt. Simone Niggli-Luder gilt mit insgesamt dreiundzwanzig bis jetzt gewonnenen Weltmeisterschaften sogar als die mit Abstand beste und erfolgreichste Orientierungsläuferin aller Zeiten.

Dass es in dieser Sportart durchaus nicht nur um gute Orientierung sondern eben auch um schnelles Laufen geht, erkennt man daran, dass sie beim Jungfrau-Marathon ebenfalls bereits mehrfach auf dem Treppchen stand. Und ihre Vorgängerin als weibliche OL-Vorzeigeathletin Marie-Luce Romanens hält nun schon seit einem Dutzend Jahren den Streckenrekord bei diesem Rennen von Interlaken hinauf zur Kleinen Scheidegg.

Mit freiem Oberkörper und Pulsmesser wird Atle Kolbeinstveit Zweiter in der M30 Håvard Undem (rechts) und Brede Borgen Kristiansen laufen beide noch in der Hauptklasse und werden dort Dritter und Vierter

Auch auf dem "neuen" Weg verliert die Strecke erst einmal nicht wirklich an Höhe. Später gewinnt sie sogar den einen oder anderen Meter wieder dazu. Wirklich flach ist es allerdings nirgends, doch vermutlich lässt sich in ganz Norwegen sowieso keine einzige völlig ebene Fläche entdecken. Erst knapp zwei weitere Kilometer hinter dem Abzweig folgt das nächste spürbare Gefälle.

Dreißig bis vierzig Meter geht es innerhalb kurzer Zeit hinunter zu einem kleinen, durch die Bäume erkennbaren See namens "Bogerfløyta". Etwas zuvor hatten die Marathonis auch schon den ihn speisenden und deswegen selbstverständlich oberhalb gelegenen "Bogersjø" passiert. Doch obwohl dies im Abstand von nur wenigen Dutzenden Metern geschehen war, konnte man diese Wasserfläche ohne Ortskenntnis kaum entdecken.

Es sind zwei jener für Skandinavien so typischen Seen irgendwo in einer Senke mitten im Wald. Ihre Gesamtzahl dürfte alleine in Norwegen in die Zehntausende gehen. Mit wenigen hundert Metern Länge und Breite sind diese beiden eher unscheinbar. Alleine in der Provinz Hedmark gibt es mehrere hundert größere Gewässer. Da ist "Storsjøen" - übersetzt "der große See" - zwanzig Kilometer westlich schon von ganz anderem Kaliber. Denn dieser zählt mit seinen fünfundvierzig Quadratkilometern zu den fünfundzwanzig "innsjøer" mit der größten Fläche im Land.

Und noch einmal in einer wesentlich höheren Liga spielt "Mjøsa", deren Südspitze knapp fünfzig Kilometer von Kongsvinger entfernt liegt. Bis zur Nordspitze bei der Olympiastadt Lillehammer ergibt sich dann allerdings schon die dreifache Distanz, was einen guten Anhaltspunkt über die Ausmaße liefert. Die Gesamtfläche dieses norwegischen Rekordhalters entspricht ziemlich genau dem Gardasee. An den Bodensee kommt er dann aber doch nicht ganz heran.

Neben Lillehammer befinden sich mit Hamar und Gjøvik auch die beiden anderen größeren Austragungsorte der Winterspiele von 1994 an den Ufern des Mjøsa-Sees, durch den auf fast seiner gesamten Länge die Grenze zwischen Hedmark und Oppland verläuft. Und während Lillehammer das Verwaltungszentrum für Oppland ist, finden sich die Behörden von Hedmark nur gut fünfzig Kilometer entfernt in Hamar.

Diese beiden sind übrigens auch die bevölkerungsreichsten Städte des Landes, die nicht am Meer liegen. Dass sie damit nur auf den Gesamträngen siebzehn und zwanzig landen können, ist ein weiteres Indiz für die norwegische Konzentration auf die Küsten. Durch Hamar und Lillehammer - was von "Lille Hamar", also "Klein-Hamar" abgeleitet ist - verläuft allerdings die wohl wichtigste Verkehrsachse des Landes, die Oslo mit Trondheim verbindet.

Nicht das Tal der Glomma hat man dafür gewählt sondern das im Westen dazu parallel verlaufende Gudbrandsdal. Bis zur Mjøsa wird es von einem Fluss namens "Lågen" durchzogen. Unterhalb des Sees heißt er dagegen dann "Vorma" und mündet vierzig Kilometer stromabwärts von Kongsvinger auf dem Gebiet der Kommune Nes in das dort nach Westen führende längste norwegische Fließgewässer.

Wenche Dørum ist die schnellste Frau beim Marathon Der Dritte der M45 heißt Erik Wennemo Erlend Leganger gewinnt die M55 mit mehr als einer halben Stunde Vorsprung

Neben der nach ihrem höchsten Punkt dem "Dovrefjell" als "Dovrebahn" bezeichneten Bahnlinie orientiert sich an diesen schon im Mittealter bedeutenden Handels- und Reiseweg auch die Straße "E6". Wegen der vielen im Sommer auf ihr nach Norden rollenden Wohnmobile wird diese oft als "Nordkap-Rennbahn" verspottet. Allerdings geht die Fahrt dorthin hinter Trondheim erst richtig los, denn wenn man die Stadt nach weit mehr als fünfhundert Kilometer von Oslo zu fahrenden Kilometern erreicht, hat man noch nicht einmal ein Viertel der Distanz hinter sich.

Auf dieser Straße wird zwischen Trondheim und Oslo jedes Jahr in Juni ein Radrennen über fünfhundertvierzig Kilometer gestartet, bei dem man rund zweitausend Teilnehmer zählt. Dreizehn bis vierzehn Stunden sitzen die Schnellsten bei "Store Styrkeproven" - der "großen Kraftprobe" - im Sattel. Die "kleine" Strecke zwischen Lillehammer und Oslo - immerhin auch hundertneunzig Kilometer - nehmen sogar weit über viertausend Sportler unter die Räder.

Das Birkebeiner-Rennen endet dagegen in Lillehammer. Und gestartet wird es in "Østerdalen", wie der nördliche Teil des Glomma-Tals genannt wird. Über vierundfünfzig Kilometer lang führt dieser Skilanglauf-Wettbewerb, der im Hinblick auf Tradition und Bedeutung wohl nur noch vom schwedischen Wasalauf - zwischen den beiden Startorten Rena und Sälen liegen kaum hundert Kilometer - übertroffen wird. Fast die Hälfte der Strecke befindet sich dabei oberhalb der Baumgrenze. Trotzdem treten rund fünfzehntausend Sportler bei "Birkebeiner-Rennet" an.

Kaum kleiner ist das Startfeld von "Birkebeiner-Rittet", einer neunzig Kilometer langen Mountain-Bike-Tour auf einer ähnlichen Strecke. Dort rollen nämlich dreizehntausend Fahrräder über die Linie. Und auch beim am gleichen Wochenende wie der Kongsvinger Maraton ausgetragenen, achtzig Kilometer langen "Grenserittet", der ebenfalls über Stock und Stein von Schweden nach Norwegen führt, sind mehr als sechstausend Radler dabei.

Man kann also keineswegs behaupten, die Norweger hätten kein Interesse am Ausdauersport. Ganz im Gegenteil scheinen die "Nordmenn" sogar vielmehr eine große Vorliebe für Freiluftaktivitäten zu haben. Nur bei den Marathons erreicht man weiterhin irgendwie nicht die entsprechenden Teilnehmerzahlen. Immerhin kommen sowohl bei der im Rahmen des Oslo Marathons ausgetragenen Halbdistanz als auch beim ebenfalls über einundzwanzig Kilometer führenden "Birkebeinerløpet" über sechstausend Läufer im Ziel.

Noch braucht Espen Rymoen die Sonnenbrille, später wird es dann aber heftig regnen Marathonsammler Nils Hjelle läuft vorsichtig an und belegt schließlich Rang zwei in der M45 Øistein Ackenhausen ist mit einigen anderen schon eine Stunde vor dem Hauptfeld ins Rennen gegangen

Das Gefälle endet ziemlich genau auf Höhe der Wasseroberfläche von "Bogerfløyta". Ein winziger, kaum hüfthoher Damm reguliert an dieser Stelle den Abfluss aus dem See. Weg und Laufstrecke orientieren sich jedoch nicht an dem heraus plätschernden kleinen Bach sondern ziehen auf der gegenüber liegenden Seite gleich wieder den Hang hinauf. Die anfangs eher moderate Steigung legt sogar noch deutlich zu, als es aus dem Wald in weitgehend offenes Gelände hinaus geht.

Vor nicht allzu langer Zeit standen auch dort unverkennbar noch Bäume. Doch im Gegensatz zu Mitteleuropa praktiziert man in Skandinavien in der Regel keinen selektiven Holzeinschlag - was schon alleine wegen der weitaus schlechteren Erschließung der Wälder sowieso nur schwer möglich wäre - sondern räumt mit einem Kahlschlag jeweils einen Teilbereich komplett ab. Immer wieder begegnet man deswegen bei der Reise durchs Land solchen auffälligen Freiflächen.

Selbst Jahre später sind sie durch eine niedrigere, nur aus jungen Bäumen und Büschen bestehende Vegetation zu erkennen. Auch während des Marathons hatte man schon den einen oder anderen derartigen Abschnitt passiert. Allerdings war keiner zuvor so frisch "geerntet" wie dieser nach zwei Dritteln der Halbmarathonrunde erreichte. Selbst auf dem Streckenplan ist der gerade belaufene Weg, der sich nach den Holzarbeiten als ganz normale Schotterpiste präsentiert, noch als "sti" eingezeichnet.

Die Höhenmeter, die zu See hinunter verloren gegangen waren, gewinnt man mit diesem Anstieg gleich wieder zurück. Und ein paar mehr kommen noch dazu, denn auf der mit "Trettbråtan" bezeichneten Kuppe kratzt der Kurs ein weiteres Mal an der Dreihundert-Meter-Marke. Die erhöhte Position erlaubt aber in Kombination mit dem ausgeräumten Gelände dafür aber auch einen herrlichen Ausblick über die praktisch komplett bewaldeten Berge rundherum.

Hierzulande würde eine solche Landschaft wohl unter dem Begriff "Mittelgebirge" einsortiert und hätte zudem eine markante eigene Bezeichnung. Im Norden Europas ist eine solche Kategorisierung dagegen völlig unbekannt - vielleicht auch, weil es praktisch überall auf der skandinavischen Halbinsel mindestens genauso hüglig aussieht. Und die Namensvergabe für eine Region orientiert sich - wie im Falle von "Glåmdalen", "Gudbrandsdalen" oder "Østerdalen" - in der Regel eher an einem Tal.

Nach knapp einer Runde zeigt der Daumen von Mats Kaland Berntsen noch nach oben Marit Tørstad wird über die 42,2 Kilometer am Ende Zweite

Selbst wenn der Weg noch ein wenig weiter den Hang hinauf führen würde, biegt die Strecke an einer Einmündung etwa auf halber Höhe nach links ab und nimmt dabei auch gleich wieder Schwung nach unten auf. Kaum einen Kilometer später - die Marke mit der "15" wird kurz vor Ende des Gefälles passiert - ist man praktisch auf dem Ausgangsniveau gelandet, das man vor dieser kleinen "Schikane" schon am nun jenseits der Kuppe liegenden See hatte.

Weiterhin befindet man sich jedoch ein ganzes Stück oberhalb von Start und Ziel. Und das wird auch noch eine ganze Zeit so bleiben. Denn an der nächsten Ecke geht es nicht nur ziemlich scharf nach links und damit beinahe in die Richtung zurück, aus der man gerade kommt. An der dort aufgebauten Verpflegungsstelle stehen die Tische auch auf beiden Seiten des Weges. Das hat natürlich keineswegs damit zu tun, dass die Veranstalter ausgerechnet an diesem Punkt mit besonders viel Betrieb rechnen.

Vielmehr schließt sich ein knapp zwei Kilometer langer Abschnitt an, der bis zu einem Wendepunkt und zurück gleich doppelt belaufen wird. Insgesamt werden so fast vier Kilometer zusätzlich heraus gekitzelt. Die eigentliche große Runde ohne diese Passage und die ebenfalls knapp viertausend Meter lange Einführungsschleife gleich nach dem Start sowie den An- und Ablauf im Stadion hätte dagegen nur eine Länge von etwas mehr als zwölf Kilometern.

War man zuvor wegen der wenigen Starter beim Marathon längst ziemlich alleine im Wald unterwegs, herrscht nun durch den Gegenverkehr wieder deutlich mehr Leben auf der Strecke. "Benytt venstre side" mahnt deshalb eine Tafel gleich beim Betreten dieses Teilstückes. Auch ohne allzu großes Sprachtalent kann man die Bedeutung des ersten und des dritten Wortes dieser Aufforderung erahnen. Bei "venstre" sieht das jedoch schon etwas anders aus. Das muss man eigentlich kennen, um es zu verstehen.

Hans Orset (links) der Dritte der M50 und Vidar Frisk Svendsen, der Zweite der M60, sind bei Kiloemter achtzehn noch gemeinsam unterwegs, im Ziel wird der Ältere mehr als zwanzig Minuten vorne liegen

Während sich die Zahlworte in den meisten europäischen Sprachen ziemlich ähneln, gibt es bezüglich "rechts" und "links" nämlich dann doch erhebliche Unterschiede. Und weder für "venstre" noch für das Gegenteil "høyre" lässt sich eine Verwandtschaft zu den deutschen Entsprechungen entdecken. Da das Schild jedoch auf der linken Seite des Weges aufgestellt ist und man die Runde gegen den Uhrzeigersinn läuft, kann man zumindest eine Vermutung anstellen. Und tatsächlich ist "venstre" mit "links" zu übersetzen.

In der ersten Kurve stehen auf einem kleinen freien Platz etliche Autos mit zum Teil offenen Heckklappen im Wald. Aus ihren Boxen bellen von dort einige Hunde den Läufern hinterher. Andere sind in diesem Bereich des Waldes mit Herrchen oder Frauchen unterwegs. Auf dem Sæter Gård werden nämlich nicht nur zwei- sondern auch vierbeinige norwegische Polizisten ausgebildet. Und Rettungs- und Suchhund-Staffeln nutzen die vorhandenen Anlagen für ihre Lehrgänge ebenfalls. In einen solchen sind die Marathonis in diesem Moment hinein geraten.

Durch das relativ lange Wendepunktstück kann man zumindest auf der ersten Runde praktisch das gesamte Feld noch einmal in Augenschein nehmen. Trotz nicht einmal fünfzig Teilnehmern kann man dabei die Erfahrung einer satt vierstelligen Zahl von Marathonläufen in Augenschein nehmen. Alleine Bjørn Gjerde, der später mit 3:35:07 die Klasse M55 gewinnen wird, kann schließlich fast vierhundert absolvierte Rennen dazu beisteuern. Wer einigen Starts bei Marathons in Norwegen hinter sich hat, ist ihm deswegen fast garantiert schon einmal begegnet.

Auch Knut Erichsen taucht nun bereits zum dritten Mal in einem Laufreport-Artikel auf. Schon in seinem Heimatrevier Nordmarka und beim Fjellmaraton von Beitostølen war der Vielstarter aus der M65 dem laufenden Berichterstatter über den Weg gelaufen. Hinter dem diese Klasse in 3:55:29 gewinnenden und nicht minder häufig über diese Distanz von zweiundvierzig Kilometer gelaufen Kjell Skogvang wird er am Ende als Zweiter rund fünfzig Minuten zurück liegen. Noch einige andere eifrige und langjährige Sammler lassen sich im Vorbeilaufen ebenfalls identifizieren.

Schon alleine die Altersverteilung zeigt die vor Ort vertretene Routine. Denn abgesehen von ausgerechnet der ansonsten meist besonders stark besetzten M40, in der nur ein einziger Läufer ins Ziel kommt, sind die Teilnehmer über praktisch alle anderen Klassen - und zwar von der M18 bis hinauf zur M65 - ungefähr gleich stark verstreut. Jeweils vier bis sechs Marathonis werden nämlich in ihnen gezählt. Bei sechs in fünf verschiedenen Altersgruppen startenden Damen können diese dagegen eine Treppchen-Platzierung eigentlich nur durch eine Aufgabe vermeiden.

Knut Erichsen, der Zweite der M65, ist ein alter Bekannter und taucht bereits zum dritten Mal in einem LaufReport-Artikel auf Mit "Benytt venstre side" mahnt eine Tafel auf dem Wendepunktabschnitt, doch bitte die linke Seite des Weges zu benutzen

So "anders", wie man anhand des Namens vermuten könnte, ist "Norges andre skogsmaraton" jedenfalls auch in dieser Hinsicht nicht. Ganz ähnlich sehen die meisten norwegischen Ergebnislisten aus. Doch unterliegt man bei einer solchen Interpretation dieses Satzes ohnehin auch einem gewaltigen Trugschluss. Denn "andre" lässt sich zwar tatsächlich in vielen Fällen mit "anderer" übersetzen, wird dann allerdings eher im Sinne von "der eine, der andere" und nicht etwa von "verschieden, anders als" verwendet.

Vor allem steht das für Deutschsprachige leicht missverständliche Wörtchen außerdem aber noch für "zweiter". Wenn in einem Sportbericht also die Rede davon ist, dass jemand den "andreplass" belegt habe, dann ist er auf Rang zwei gelandet. Genau das ist auch in diesem Fall gemeint und die Vergleichsgröße ist selbstverständlich der Nordmarka Maraton von Oslo. Die Aussage kann sich allerdings einzig auf die Größe des Laufes beziehen. Denn in Kongsvinger organisiert man den Lauf schon einige Jahre länger als in der Hauptstadt.

Auch über den Titel "Hedmarks eneste maraton" - was bei einer Übersetzung Silbe für Silbe den "einesten" Marathon der Provinz ergibt und natürlich den "einzigen" meint - lässt sich streiten. Denn nur eine Woche später wird in einer abgelegenen Ecke der Kommune Elverum hundert Kilometer flussaufwärts der "Ulvådalen Ultra" über einundfünfzig Kilometer ausgetragen, bei dem es ebenfalls eine Marathonwertung gibt.

Wenn man jedoch nur die längste und namensgebende Distanz betrachtet, stimmt die Behauptung allerdings tatsächlich. Dem in den Neunzigern einige Jahre lang existierenden "Grenseløs Maraton", der auf schwedischem Territorium gestartet wurde und von dort dann in den bekannten Wintersportort Trysil im äußersten Osten des Fylke führte, war nämlich kein allzu langes Leben vergönnt.

Kurz vor Kilometer siebzehn erreicht man den Wendepunkt und gleichzeitig die dort postierte Verpflegung. Auch an dieser Stelle haben die beiden Helfer also mehrere Aufgaben zu erfüllen. Doch genau kontrollieren müssen sie die Durchlaufenden eigentlich nicht. Obwohl hinterher für die ersten drei jeder Klasse eifrig Pokale verteilt werden, erscheint es bei einer solch kleinen Veranstaltung - und zudem noch in Skandinavien - doch ziemlich unwahrscheinlich, dass irgendwer wirklich mit Absicht schummeln könnte, um einen von ihnen zu erhalten.

Auf dem ziemlich gut ausgebautem "grusvei" gilt es auch auf dem Rückweg - in allerdings einem recht sanften Anstieg - einige Höhenmeter zu überwinden. Denn die Mitte dieses Abschnittes liegt ungefähr zwanzig Meter über jeder seiner beiden Enden. Das Gefälle hinter dem keineswegs mit einer eindeutigen Kuppe versehenen Hügel ist ebenfalls nicht unbedingt heftig. Doch hinter der schon bekannten Gabelung mit dem Versorgungsposten, an dem der gar nicht so kleine Umweg begann, ändert sich dies ziemlich schnell.

Kent-Åke Eriksson ist einer der wenigen Schweden, die den Weg über die gar nicht weit entfernte Grenze nach Kongsvinger gefunden haben Einige Schritte vor der Startlinie stellt ein Pfahl die Wendemarke dar. Nach seiner Umrundung darf man noch einmal den völlig identischen Weg in Angriff nehmen

Auf dem nächsten Kilometer geht es nämlich fast einhundert Meter bergab. Manchmal ist das Gefälle fast schon so heftig, dass man wieder bremsen muss. Unter einer Holzbrücke, die zum Loipensystem des Skistadions gehört, führt der Weg hindurch. Und einige hundert Meter später tritt man aus dem Wald, um zwischen einer etwas abseits der eigentlichen Stadt gelegenen, aus etwa einem halben Dutzend Gebäuden bestehenden Häusergruppe auf die zum Sæter Gård führenden Hauptstraßzu hinaus zu laufen.

Nun reicht der Blick wieder weit über den Fluss und die Hügel, die am gegenüber liegenden Ufer aufragen. Auch "Vingersjøen" lässt sich jenseits der Glomma zu Füßen der Festung erahnen. Bemerkenswert ist dieser See weniger wegen seiner für skandinavische Verhältnisse ziemlich durchschnittlichen Größe sondern wegen eines wirklich erstaunlichen Naturphänomens, das als "Bifurkation" bekannt ist.

Im Normalfall fließt von dort nämlich ein kurzer Ablauf namens "Vingersnoret" in die Glomma. Führt diese jedoch - wie zum Beispiel bei der Schneeschmelze im Frühjahr - Hochwasser, kehrt sich die Strömungsrichtung um und Teile des Flusses fluten in den See hinein. Ist dessen Pegel hoch genug, läuft er dann an seinem anderen Ende über und stellt damit eine Verbindung zu einem zweiten, "Vrangselva" heißenden Flüsschen her, das es wenig später nach Schweden hinüber zieht.

Über mehrere Zwischenstationen in anderen Gewässern kommt das ursprünglich aus der Glomma stammende Wasser so in den "Vänern", den größten See in Schweden, der seinerseits wieder über den "Göta älv" ins Kattegat entwässert. Zwei Wassertropfen, die ihre Reise gemeinsam in Røros angetreten haben, können in diesem Fall also über zwei vollkommen unterschiedliche Flusssysteme und zweihundert Kilometer voneinander entfernt das Meer erreichen.

Es gibt in Norwegen sogar eine noch wesentlich faszinierendere Spielart dieser Aufteilung eines Gewässers in völlig verschiedene Richtungen. Am oberen Ende des bereits mehrfach erwähnten Gudbrandsdals befindet sich in der Nähe des Städtchens Dombås mit "Lesjaskogsvatnet" nämlich ein lang gestreckter See, aus dem im Südosten jener Lågen entspringt, der das Tal bis zur Mjøsa durchzieht.

Vor dem Zieleinlauf muss man ein letztes Mal im Flatterbandkanal die Skiarena umrunden

Im Nordwesten hat er aber noch einen weiteren Ausfluss, der die Quelle der "Rauma" ist. Und diese strebt durch das kaum weniger bekannte, mit spektakulären Felswänden und Wasserfällen aufwartende Romsdal der Norwegischen See entgegen. Zwischen Åndalsnes, wo die Rauma mündet und der Glomma-Mündung bei Sarpsborg, wo das Wasser des Lågen am Ende das Meer erreicht, liegen mehr als vierhundert Kilometer sowie die komplette Länge und Breite Zentralnorwegens.

Für einige hundert Meter verläuft die Marathonstrecke noch immer bergab nun direkt auf der Straße. Absperrungen gibt es - wie im Norden meist üblich - dabei nicht. Zwar am linken - dem "venstre" - Rand, aber auf dem Asphalt geht es dem Verkehr direkt entgegen. Wirklich gefährlich ist dies aber nicht. Und die Läufer sind es ohnehin gewohnt. Schließlich hat man bei vielen anderen Veranstaltungen die Kurse in ihrer kompletten Länge auf diese Art abgesteckt.

Schon alleine wegen der oft kurvigen und keineswegs zum Rasen verleitenden Strecken sind skandinavische Autofahrer in der Regel weit vorsichtiger, geduldiger und rücksichtsvoller als ihre deutschen Gegenstücke. Und außerdem trägt - selbst auf die Gefahr hin, mit einer solchen Bemerkung hierzulande in ein Wespennest zu stechen - sicher auch das auf den meisten Landstraßen geltende Tempolimit von achtzig Kilometern pro Stunde zu dieser ziemlich entspannten Haltung bei.

Als die Straße einen Bogen um den kleinen Hügel schlägt, auf dem Sæter Gård sitzt, nimmt die Marathonrunde dann aber doch wieder die direktere Linie über einen Feldweg. Dieser führt auf dem abschließenden Kilometer - die Markierung mit der "20" und der "41" stand kurz vor der Einmündung - zwar nicht unbedingt heftig, aber eben trotzdem deutlich spürbar noch einmal bergan.

Oben angekommen geht es dann im Zickzack zwischen den Gebäuden des Schulungszentrums hindurch und vorbei an jenem Hof, der einst dessen Ausgangszentrum bildete, dem Skistadion entgegen. Jetzt fehlt bis zum Beginn der zweiten Runde eigentlich nur noch jene Ausgleichsschleife, mit der man theoretisch die durch den An- und Ablauf auf dem Gras fehlenden Meter ergänzen müsste.

Doch sie kommt nicht. Vielmehr werden die Marathonis ins Sportgelände hinein geleitet und laufen schon nach dem ersten Halbmarathon dem Ziel entgegen. Wenige Schritte vor der Linie ist ein Pfahl in den Boden geschlagen, der die Wendemarke darstellt. Und nach seiner Umrundung darf man noch einmal den völlig identischen Weg in Angriff nehmen. Bei dieser Streckenführung kann man irgendwie nur hoffen, den Platz nicht nach genau zwei Stunden zu erreichen und damit in das gerade gestartete, nun entgegen kommende Feld des "Halvmaraton" zu geraten.

Der eine weitere halbe Stunde später gestarteten "Minimaraton" kommt dagegen kaum mit den anderen Distanzen in Kontakt. Denn selbst die langsameren Marathonis aus dem "regulären" Start haben bereits gewendet, bevor die Kurzstreckler auf die Reise gehen. Und wer beim "tidligere start" um zehn Uhr dabei war, sollte ohnehin längst durch sein. Umgekehrt haben bis auf wenige Nachzügler auch alle Läufer die gut vier Kilometern hinter sich gebracht, bevor die Schnellsten von der großen Runde zurück kommen.

Der Erste, der dabei das Stadion nach zwei Schleifen beim Marathon erreicht ist Vorjahressieger Trond Hansen, der für den bekannten Osloer Leichtathletik-Club SK Vidar läuft, der nicht nur so bekannte Namen wie "Grete Waitz" in seinen Vereinsstatistiken führt sondern zudem auch der offizielle Ausrichter des Stadtmarathons von Oslo ist. Nach 3:06:26 überquert Hansen mit klarem Vorsprung die Linie.

Im Ziel gibt es nicht nur Getränke, jeder Läufer erhält auch ein Glas, in dem das Logo der Veranstaltung eingeschliffen ist

Allerdings läuft er dabei doch deutlich langsamer als bei seinem zwölf Monate zurück liegenden Erfolg, bei dem er unter drei Stunden geblieben war. Zum ersten Mal überhaupt im neuen Jahrtausend kommt damit ein Sieger des Marathons von Kongsvinger über dieser Marke ins Ziel. Und bis zum seit zwei Jahren bei 2:38:57 stehenden Streckenrekord von John Henry Strupstad fehlt ihm fast eine halbe Stunde.

Auch die Zeiten der Zweit- und Drittplatzierten sind um mehrere Minuten schwächer als sonst, woran das für Norwegen doch ungewohnt schweißtreibende Wetter vermutlich nicht ganz unschuldig sein dürfte. "Andreplasserte" wird in 3:11:57 Øystein Solfjeld Pedersen, während der einsame M40er Ingve Nasvik mit 3:13:34 genau auf dem gleichen - nämlich dem dritten - Rang landet wie 2012.

Fast zeitgleich laufen Per-Christian Lysaker und Mads Haugerud Haavi ins Ziel. Doch kommen sie damit keineswegs auf hintereinander liegende Plätze. Denn während der Zweitgenannte nach 3:16:37 Vierter beim Marathon wird, gewinnt Lysaker mit für das Streckenprofil durchaus beachtlichen 1:16:29 den Halbmarathon. Die beste auf diesem Kurs erzielte Zeit des auch für SK Vidar laufenden Gjermund Sørstad ist in 1:13:51 sogar noch einmal deutlich schneller.

Lsyaker ist noch nicht im Ziel, als sein Verfolger Steffen Sæterhagen das Sportgeländer erreicht. Und nicht einmal eine Minute später, nämlich nach 1:17:13 löst die Zeitmessung ein zweiter Mal beim Halbmarathon aus. Dann klafft in diesem Rennen allerdings eine etwas größere Lücke. Denn Jarle Jacobsen (1:22:52) und Håvard Ellefsen (1:23:10) liegen auf den folgenden Plätzen schon deutlich zurück. Als nächstes kommt vielmehr Lars Dørum ins Ziel, der als Gewinner der Klasse M60 beeindruckende 3:18:32 über die zweiundvierzig Kilometer erreicht.

Von einer vom Himmel herunter brennenden Sonne ist zu diesem Zeitpunkt längst nichts mehr zu sehen. Erst langsam, dann immer stärker hat es sich nämlich zugezogen. Und als Anne-Berit Vangen in 1:31:42 als erste Frau von der Halbmarathonstrecke zurück kommt, haben die Wolken zum Teil bereits ein ziemlich bedrohliches Aussehen angenommen. Ihre Zeit ist keineswegs schlecht, eigentlich sogar ziemlich gut. Allerdings ist sie trotzdem weit entfernt von der Strecken-Bestmarke,

Die hat Christina Bus Holth - ebenfalls SK Vidar - mit wirklich hervorragenden 1:19:34 gesetzt. Immer wieder einmal fallen beim Durchblättern norwegischer Ergebnislisten Leistungen ins Auge, wie man sie hierzulande selbst auf meist wesentlich leichteren Kursen praktisch überhaupt nicht mehr entdecken kann. Bei älteren deutschen Veranstaltungen gibt er zwar manchmal durchaus vergleichbare Vorgaben. Doch haben diese eben meist zwei oder drei Jahrzehnte auf dem Buckel und niemand kommt mehr im Entferntesten an sie heran.

Bei der Siegerehrung auf dem Sportgelände sind die Regenschirme noch aufgespannt, andere drängen sich unter den aufgebauten Zelten

Zum Vergleich: Die älteste beiden der vier Streckenrekorde von Kongsvinger stammen aus dem Jahr 2008. Die anderen zwei sind noch jüngeren Datums. Selbst wenn es natürlich auch in Norwegen keineswegs unüblich ist, dass jemand einen Marathon in sechs oder einen Halbmarathon in mehr als zweieinhalb Stunden beendet, geht es an der Spitze eben doch meist etwas schneller und leistungsorientierter zu.

Auch mit jener 1:33:16, die Ida Bergsløkken auf den zweiten Platz bringen, könnte man schließlich bei uns manchmal bei noch wesentlich größeren Veranstaltung als dem Kongsvinger Halbmarathon ziemlich weit vorne mitmischen. Mona Rydland sichert sich nach 1:38:36 mehr als fünf Minuten zurück Platz drei und zeigt damit der 1:39:51 laufenden Vierten Anne Lise Skårerverket klar die Hacken.

Diese Damen kommen immerhin noch einigermaßen trocken ins Ziel. Die Marathonsiegerin Wenche Dørum, der mit 4:07:39 ebenfalls die langsamste Zeit seit über einem Jahrzehnt ausreicht, um vor Marit Tørstad (4:19:15) und Lill Anett Øyen (4:29:32) zu gewinnen, wird dagegen richtig nass. Denn noch bevor die Stoppuhr auf vier Stunden springt, zeigen die Wolken, was sie alles mit sich führen. Sie haben bei weitem nicht nur Regen im Gepäck. Ein klar vernehmliches, dumpfes Rumpeln belegt, dass auch eine ordentlich elektrische Ladung dabei ist.

Spätestens als aus dem anfänglich eher fernen Grummeln deutlich lautere und klar zu unterscheidende Donnerschläge werden, machen sich alle, die sich zu diesem Zeitpunkt noch im Wald befinden, den einen oder anderen Gedanken darüber, was denn passieren würde, wenn das immer näher kommende Gewitter sich wirklich direkt über ihnen entlüde. Immerhin stünden an den zahlreichen Verpflegungsstellen ja einige Autos als Faradayscher Käfig bereit.

Läufer, Helfer und Organisatoren haben aber noch einigermaßen Glück. Denn obwohl es zwischendurch wie aus Eimern schüttet, schlagen die Blitze - wie der alte Sekunden-Zähltrick zeigt - nur in einigen Kilometern Entfernung ein. Und der heftigste Teil des Unwetters zieht in gebührenden Abstand am Marathon vorbei. Über zu große Hitze klagt in diesem Moment allerdings niemand mehr.

Auch bei der Siegerehrung, die auf dem Sportgelände im Freien stattfindet, während die Letzten noch einlaufen, sind die Regenschirme noch aufgespannt. Und viele der Anwesenden drängen sich unter den aufgebauten Zelten, um nur kurz zum Entgegennehmen der Preise aus der Deckung heraus zu kommen. Doch ohnehin hat jeder schon im Ziel ein kleines Päckchen erhalten.

Denn anstelle von Medaillen werden in Kongsvinger Gläser verteilt, in die das Logo der Veranstaltung eingeschliffen ist. Das ist in Norwegen keineswegs unüblich. Selbst wenn man zumeist doch eines jener Metallplättchen am Band umgehängt bekommt, kann es durchaus auch einmal passieren, dass man von anderen Marathons mit einer Tasse oder einem Teller als Erinnerungsgabe und Auszeichnung nach Hause fährt.

Auch das ist also eines der vielen Details beim Kongsvinger Maraton, die man unter der Rubrik "typisch norwegisch" einordnen kann. Und damit hat man die Veranstaltung schon ziemlich gut beschrieben. Wirklich außergewöhnlich ist sie nicht unbedingt. Doch zeigt sie eben anschaulich, wie ein Lauf im ländlichen Skandinavien abgewickelt wird. Und dadurch werden auch solche unscheinbaren Rennen am Ende ziemlich interessant.

Dass die Teilnehmerzahlen in naher Zukunft sprunghaft ansteigen, dass die Organisatoren bald einen Ansturm von aus der Ferne angereisten Lauftouristen erleben, lässt sich kaum vermuten. Man wird so weiter machen wie bisher und der Lauf wird seinen familiären Charakter wohl so schnell nicht verlieren. Selbst das in zwei Jahren anstehende Silberjubiläum dürfte recht wenig daran ändern.

Und so kann man davon ausgehen, dass Kongsvinger und Glåmdalen bei aller Schönheit der Region auch weiterhin eher unbekannte und wenig besuchte Ziele in einem ohnehin nicht gerade überlaufenen Land bleiben. Für norwegische Verhältnisse spektakulär unspektakulär sind dort Landschaft und Menschen. Und der Marathon ist es ebenso. Doch vermutlich macht genau dies den besonderen Reiz aus.

Bericht und Fotos von Ralf Klink

Info & Ergebnisse www.kongsvingermaraton.no

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