Laufen in Kolumbien26.11.17 Bogotá Carrera New Balance 15k 17.12.17 Medellín- Bello Carrera Atlética Cotrafa 12k |
von Michael Schardt |
Im frühen November diesen Jahres lief eine Meldung über den Ticker, die laufinteressierte Leser vielleicht etwas überrascht zur Kenntnis genommen, danach aber möglicherweise schnell wieder vergessen haben dürften. So wäre es vermutlich auch dem Chronisten ergangen, wäre er zu diesem Zeitpunkt nicht mit den Vorbereitungen auf eine größere Reise nach Kolumbien beschäftigt gewesen, auf der - als Beigabe - die Teilnahme an der ein oder anderen Laufveranstaltung avisiert wurde, so wie es Lauftouristen gemeinhin tun. Die Meldung betraf den Maratón de las Flores Medellin, der von der AIMS (Association of International Marathons and Distance Races) auserwählt worden war, eine weltweit begehrte Auszeichnung zu erhalten, den Social-Award der internationalen Marathonvereinigung als Anerkennung für soziale Initiativen.
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Begründet wurde die Zuerkennung des renommierten Preises, der Marathonläufe zur Erreichung des Millenium-Entwicklungsziels der Vereinten Nationen würdigt und auf der AIMS-Gala in Athen am 10. November übergeben wurde, damit, dass der Maratón de las Flores Medellin im Rahmen seiner Veranstaltung soziale Anliegen unterstützt und damit "umfassend zur Beseitigung von extremer Armut und Hunger, zur Bekämpfung von Krankheiten, zur Senkung der Kindersterblichkeit, zur Geschlechtergleichstellung und zur Stärkung von Frauen beitrage sowie die Gewährleistung von Umweltstabilität fördere". Konkret wurde genannt, dass der Medellin Marathon die Vereinigung "United of Colombia" seit 2003 mit der Rehabilitation von Verletzten durch Landminen fördere, was "Bemühungen auch der Geldbeschaffung" einschließe, "um die Kosten der Prothetik zu unterstützen". Zur Erreichung dieses Zwecks werde in der Stadt sogar ein zusätzliches Rennen während des Jahres organisiert, um diese Initiative zu unterstützen.
Dass ausgerechnet der Medellin Marathon diese Anerkennung bekam, hat für die Stadt und das Land eine größere Bedeutung, als "nur" den Rang einer einmaligen, rein sportpolitischen Anerkennung; vielmehr erlangt sie symbolische Dimensionen für einen kontinuierlichen gesellschaftlichen und politischen Wandel, den Kolumbien seit nunmehr zweieinhalb Jahrzehnten durchmacht und den viel zu wenige Menschen und Medien - vor allem in der westlichen Hemisphäre - wahrgenommen haben.
Kolumbien ist in den Köpfen nicht weniger Zeitgenossen immer noch das Land von Gewalt und Bürgerkrieg, von Korruption und Kriminalität und Medellin die Stadt des Kokainkartells und der Drogenbarone. Das allerdings gilt längst nicht mehr, vor allem seit der Kopf und Drahtzieher der kriminellen Organisation, Pablo Escobar, 1993 gestellt und erschossen werden konnte und das Kartell sehr schnell zerfiel. Gleichzeitig war dieses Ereignis Initialzündung für tiefgreifende Bestrebungen, das Land und die Stadt trotz einer mehr als schwierigen Ausgangslage in einen tiefgreifenden, positiven Wandel zu überführen. Erste Erfolge wurden sehr bald erreicht, allerdings ohne internationale Kenntnisnahme. Erst als die günstigen Veränderungen - vor allem in der einstmals gefährlichsten Stadt der Welt, Medellin, unübersehbar wurden, goutierte das langsam auch die westliche Presse.
Inzwischen ist auch die Tourismusbranche auf die Entwicklung angesprungen und nimmt Kolumbien mehr und mehr in ihre Angebotspalette auf als Land, das für jeden Urlaubstyp genau das Richtige zu bieten hat. Kulturmagazine berichten zunehmend über diese, ihre "Entdeckung", und Trendforscher erblicken das Neuerungspotential der nördlichsten Nation auf dem südamerikanischen Kontinent als bedeutend. Inzwischen vergibt die internationale Öffentlichkeit Preise an Kolumbien, nicht nur im Laufsektor. So wurde Medellin vom US-Magazin "Wall-Street Journal" zuletzt als "innovativste Großstadt" weltweit bezeichnet - nicht zu Unrecht, wie noch zu berichten sein wird.
Wer nicht mit einem Kreuzfahrtriesen die kolumbianische Karibikmetropole Cartagena für nur wenige Stunden besucht, reist in der Regel über Bogotá in das Land ein und landet auf dem modernen Großflughafen im Nordwesten der Stadt. Für einen Direktflug aus Deutschland zahlt er zwischen 750 bis knapp 1000 Euro. Wie riesig die Kapitale ist, erschließt sich dem Besucher schon aus der Luft, vor allem wenn er abends oder nachts ankommt und er ein vielmillionenfaches Lichtermeer unter sich erblickt.
Bogotá ist hinter Sao Paulo, aber noch vor Lima und Rio, mit rund acht Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt Südamerikas und administratives Zentrum des Landes. Sie ist so vielfältig, dass um ihr gerecht werden zu können, ein mehrwöchiger Aufenthalt nötig wäre, allein um die wichtigsten Museen und Sehenswürdigkeiten besuchen zu können. Bei nur vier zur Verfügung stehenden Tagen, ist eine Beschränkung auf das Wesentliche unabdingbar.
In der Regel beginnt eine Stadtbesichtigung, egal ob auf eigene Faust oder geführt - auf der Plaza Simon Bolivar, ein riesiger, baumloser und etwas schmuckfreier Platz, auf dem große Sakral- und Profanbauten stehen und an den auch das Regierungsviertel anschließt. Hier "schlage das Herz der Stadt und ganz Kolumbiens", heißt es, nicht zuletzt, weil hier jederzeit politisch und gesellschaftlich motivierte Kundgebungen stattfinden und kulturelle Aufführungen über die Bühne gehen.
Bei der Begehung der beiden sich kreuzenden Einkaufsmeilen Carrera 7 und Calle 13 sowie der kolonial geprägten Altstadt "La Candelaria", wo man jederzeit ein schönes, patioartig strukturiertes Hotel findet, fällt auf, dass die Menschen einen sehr gelassenen Habitus favorisieren und sich der besonderen Rolle "ihrer" Stadt durchaus bewusst sind. Stilvoll sind nicht nur die Geschäftsleute gekleidet, sondern gerne auch ältere Männer, die die siebzig längst überschritten haben. Sie treffen sich auf der Straße zu einem kleinen kulturpolitischen Disput, bei dem ein leckerer, einheimischer Hochlandmokka genussvoll geschlürft wird oder literarische Werk besprochen werden. Nicht selten kommen sie im feinsten Zwirn, dekoriert mit Seidenkrawatte und feiner Blume in Knopfloch, gestützt auf einen gedrechselten Spazierstock mit handbeschlagener Metallverzierung.
Auch findet man Männer vorgerückten Alters, die im Café literarische oder biografische Texte zu Papier bringen, denn zu erzählen haben sie vieles. Dass die Kolumbianerinnen, wie andere Latinas auch, besonders modebewusst sind, ist sofort erkennbar. Geradezu elektrisiert (aber auch etwas traurig) war die weibliche Bevölkerung just an dem Tag des Laufes, der weiter unten beschrieben wird, als die eigene Kandidatin Laura González bei der Miss-World-Wahl in die Endauswahl kam und hinter der indischen Siegerin Platz zwei errang.
Freilich ist die Welt der Betuchten, der Intelligenz und des Künstlertums, der Mode, des Stils und der Ökonomie nur die eine Seite einer pulsierenden Urbanität. In anderen Vierteln wird Armut sichtbar, hausieren Obdachlose, Drogensüchtige und gesellschaftlich Gestrandete. Diese Welt bekommt der Reisende aber kaum zu sehen, denn vor einem Besuch der Problembezirke auf eigene Faust wird gewarnt: man könne schnell Opfer von Trickdieben werden oder anderweitig Schaden erleiden - eine Gefahr, die zu relativieren ist und wie sie in jeder anderen Großstadt des Kontinents und in jeder Megacity weltweit drohen kann.
Auf den frequentierten Plätzen und Straßen herrschen in Bogotá und in anderen kolumbianischen Städten sichere Verhältnisse. Dafür sorgen Dutzendschaften allzeit präsenter Polizisten und städtische Security-Mitarbeiter - eine Errungenschaft, die Voraussetzung für das "kolumbianische Wunder" ist, Abstand von der gewaltgeprägten Zeit der achtziger und neunziger Jahre zu bekommen. Eine andere ist die Vielzahl der sogenannten grünen Männer, eine vielköpfige "Säuberungsarmada", wenn man so will, die immer und überall unterwegs ist, bewaffnet mit Besen und Kehrblech, um der Verunreinigung Herr zu werden. In der Tat produziert die Bevölkerung Unmengen von Müll, weil jedes Gut in Plastiktüten über die Ladentheke geht und alle Getränke in Plastik- oder Pappbechern serviert wird. Jedoch sind die Müllmänner und -frauen, die Angestellte der Kommune sind, hier wie überall, sehr erfolgreich.
Nicht selten agieren sie singend oder im Salsaschritt und sind nett anzuschauen. Weitflächig ist Kriminalität und Müll der Kampf angesagt, nicht nur konkret, wie hier beschrieben, sondern auch über Bewusstseinsprozesse, die von den Behörden in den Medien einflussreich propagiert werden. Das verändert soziale Wahrnehmung der Bevölkerung, und davon profitieren nicht zuletzt auch die Gäste.
Freilich, in einer solch großen, quirligen Stadt kann sich der Fremde leicht verlieren, es sei denn, er hat sich für das Besichtigungsprogramm "nur" die Inaugenscheinnahme bestimmter Highlights vorgenommen. Ein Höhepunkt im besten Wortsinne etwa ist die Ersteigung des mehr als 3100 Meter hohen Hausberges von Bogotá, des Monserrate, der auf unterschiedlichen Wegen erfolgen kann; ein anderer der Besuch des Museo del Oro, des Goldmuseums, das im Ruf steht, eines der bestgeführten Museen des Kontinents zu sein.
Den Gipfel des Monserrate kann man problemlos fußläufig erreichen, die meisten Gäste wählen aber die Fahrt mit der Zahnradbahn oder die schwebende Variante mit der Kabelbahn, welche die besten Aussichten auf den steilen Hang bietet, an dem von Studenten eines Instituts ein Naturgarten mit seltenen Pflanzen, verschlungenen Pfaden und sprudelnden Wasserläufen angelegt wurde. Spektakulär ist nicht nur die Auffahrt, sondern auch, oben angekommen, der Blick über die im riesigen Andental schön gelegene Stadt - zumindest wenn die Sicht klar ist. Die Bergspitze beherbergt zudem eine Kirche und eine kleine Klosteranlage sowie Bewirtungseinrichtungen.
Mit der Geschichte und Kultur der indigenen Urbevölkerung macht das nur wenige hundert Meter vom Hauptplatz entfernt gelegene Goldmuseum bekannt. Bei einem Eintrittsgeld von nur anderthalb Euro können die schönsten Goldarbeiten der präkolumbianischen Zeit in einer breitgefächerten Dauerausstellung bewundert werden: Schmuck, naturreligiöse Symbole, Tierdarstellungen, Machtinsignien und vieles mehr. Auch werden Hintergrundinformationen vermittelt und Arbeitstechniken erläutert. Nicht zuletzt wird der Besucher (indirekt) mit dem dunkelsten Kapitel des spanischen Eroberungs- und Ausrottungszug der Konquistadoren ab dem 16. Jahrhundert konfrontiert, dem auch die meisten Goldarbeiten zum räuberischen Opfer fielen. Die Anzahl der Ausstellungsstücke ist zwar riesig, jedoch ist das Verbliebene nur ein bescheidener Rest des einmal vorhandenen Bestandes. Zur speziellen To-do-Liste des Berichterstatters gehörte in Bogotá zudem der Start bei einem Straßenlauf, der, auf den 26. November terminiert, zufällig bestens in die Anfangstage der Reise passte.
Dass es sich bei der Teilnahme nicht um einen Marathonlauf handeln würde, der üblicherweise in der Rubrik "Reisen und Laufen" beschrieben und von der Leserschaft vermutlich auch erwartet wird, stand schon vor der Abreise statt. Zwar wird in Bogotá - wie in Medellin und in anderen Städten des Landes auch - ein international bekannter Marathonlauf organisiert, jedoch liegt der terminlich ungünstig im September. Außerdem hatte der hier berichtende westliche Flachlandbewohner einen nicht geringen Respekt vor den klimatischen Bedingungen, und, mehr noch, vor der dünnen Luft, denn Bogotá liegt auf über 2500 Metern Höhe. Deshalb war von vornherein eine kürzere Distanz überaus willkommen, und schnell wurde bei der Internetrecherche klar, dass der "15k New Balance Bogotá Run" die beste Option sein würde.
Ein erster Versuch der Informationsbeschaffung in deutschen Journalen und Foren scheiterte mangels Masse, denn mit Ausnahme einer kleinen Privatnotiz in einem Blog fand sich über Laufen in Kolumbien schlichtweg einfach nichts. Es war also Pionierarbeit zu leisten, was einigermaßen verwunderte in der kommunikativen Lauftourismusszene. Die sehr positiven Meldungen zur U18-WM, 2015 ausgetragen in der drittgrößten Stadt Kolumbiens, Cali, waren zum vorgesehenen Zweck nicht brauchbar.
Glücklicherweise gibt es zahlreiche kolumbianische Internetseiten, die mit großer Akribie geführt werden. Allein die Übersicht von "runningcolombia" verzeichnet zahlreiche Laufveranstaltung in den Metropolen, aber auch in der Provinz, die treffende Details dazu vermittelt oder mit den Spezialseiten verlinkt. So weit, so gut. Jedoch stellte sich die Anmeldung, hier wie in Medellin, als schwierig, beziehungsweise als unmöglich heraus. Medellin hatte gar keine Online-Anmeldung vorgesehen, die für Bogotá scheiterte im Online-Formular schon bei der Angabe der Reisepassnummer, was bereits zum Abbruch der Anmeldung führte, später, als die Stelle mit einem Trick überwunden war, ließ das System eine Überweisung der Startgebühr per Kreditkarte nicht zu. Erst durch eine persönliche Kontaktaufnahme bei jeweils sehr freundlichen Antworten der Organisatoren wurde eine Teilnahme in Aussicht gestellt. Diese könne aber nur durch Anmeldung vor Ort realisiert werden. Das Problem dabei war, dass sich die Zahl der Starter in Bogotá bereits bedrohlich der Obergrenze von 5500 angenähert hatte. Letztendlich klappt es für den einzigen deutschen Teilnehmer dann doch.
Eine persönliche Anmeldung bei gleichzeitiger Aushändigung der Startunterlagen war in Bogotá nur in einem von zwei New-Balance-Laufläden möglich, die je über die Hälfte des Kontingents verfügten. Da die innenstadtnahe Filiale bereits alle Startnummern aufgebraucht hatte, war eine Fahrt an die Stadtgrenze im äußersten Norden notwendig, die selbst mit dem schnellsten Verkehrsmittel der Stadt, dem Metrobus, der über eigene Fahrspuren verfügt, noch anderthalb Stunden dauerte. Immerhin lernte man hierdurch, und später durch den Lauf selbst, zwei Bezirke der City kennen, die einem sonst unbekannt geblieben wären. Nach der dann doch problemlosen Anmeldung konnte der erste Teil des Abenteuers "Laufen in Kolumbien" beginnen.
Das Rennen fand erst zum fünften Mal statt und hat die offiziell vermessene Länge von 15 Kilometern, genau dieselbe Distanz also, wie sie für alle Läufe der lateinamerikanischen New-Balance-Laufserie vorgesehen ist, egal ob in Sao Paulo, Lima, Santiago, Buenos Aires, Rio, Mexiko City oder einer anderen Megametropole. Der "Bogotá 15k Run" ist immer auf den letzten Novembersonntag terminiert und startet um zehn Uhr im Simon Bolivar Metropolitan Park im Nordwesten der Stadt, wo der gutsituierte Mittelstand seine Bungalows und Villen stehen hat. Der Sonntag als Austragungstag ist bewusst gewählt, denn große Teile der Stadt sind bis in die frühen Nachmittagsstunden autofrei und gehören dann der Bevölkerungsgruppe, die sich ausschließlich der eigenen Muskelkraft zur Fortbewegung bedient, also Radlern, Läufern, Skatern oder Inlinern.
Schon bei Ankunft am Startareal wird ein Unterschied zu deutschen Gepflogenheiten deutlich. Über neunzig Prozent aller Teilnehmer haben sich bereits das offizielle Finishershirt übergezogen, das sich im Starterbeutel befunden hat. Hintergrund: unter allen Läufern, die das gesponserte Shirt tragen, verlost New Balance zwei Freistarts für den Airbnb Brooklyn Halbmarathon in New York inklusive Flugreise und Hotelaufenthalt für zwei Personen - ein attraktiver Anreiz. Für das Land üppig sind auch die Gratifikationen für die schnellsten drei Läufer und Läuferinnen der drei Kategorien Teen (17-19 Jahre), Hauptklasse (20-39) und Master (40+). Sie betragen in den Hauptklassen für das siegreiche Trio zusammen neun Millionen Pesos, für die Altersklassen die Hälfte.
Kurz nach dem pünktlichen Start wird eines schnell klar: das Laufen in der Höhenlage fällt dem europäischen Gastläufer nicht leicht, den Einheimischen scheint die dünne Luft hingegen kaum etwas auszumachen. Werden die ersten 12 Kilometer auf breiten Straßen absolviert, erleben die Läufer den schönsten Teil der Strecke direkt im weitläufigen Park, wobei sie final einen See zu umrunden haben. Auf der schnellen und überwiegend flachen Strecke werden von den Siegern sehr gute Zeiten erreicht. Bei den Männern ist dies Javier Andres Peña Cabrera, der nach spannendem Endspurt in 48:16min knapp gewinnt, bei den Frauen ist es Ginory Fernanda Comargo Triana, die nach 59:14min als erste ins Ziel kommt. Insgesamt war der Lauf tadellos organisiert, nur für die Kleiderbeutelrückgabe, die mit großem bürokratischem Aufwand durchgeführt wurde, musste man viel Geduld aufbringen, denn die zog sich über Stunden hin.
Diese Zeit jedoch hatte der Chronist nicht, denn sein inländischer Weiterflug nach Cartagena war auf den frühen Nachmittag terminiert, weshalb er seine Tasche, in der sich keine wichtigen oder wertvollen Dinge befanden, an Ort und Stelle beließ (belassen musste).
Zum Pflichtprogramm eines jeden Kolumbienreisenden gehört der Besuch der wohl schönsten Stadt des Landes, Cartagena. Hier ist die touristische Infrastruktur am weitesten fortgeschritten, hier wartet die "Königin der Karibik" mit einem einmaligen, kolonial geprägten Gebäudeensemble in der historischen Altstadt und mit der herrlichen Lage in einer Meeresbucht auf ihre Gäste. Das alte Zentrum ist vollständig erhalten und hervorragend restauriert und wird fast komplett von einer meterdicken Stadtmauer aus der spanischen Besatzungszeit umgeben, auf der man spazieren gehen und den Sonnenuntergang genießen kann, gerne auch bei einem Kaffee oder einem frischgepressten Fruchtgetränk, denn in den Abendstunden öffnet auf der Mauer, in der Nähe eines Stadttores ein beliebtes Restaurant seine Türen, das besonders von Reisenden frequentiert wird.
Weniger herausgeputzt und daher authentischer wirkend als die Altstadt gibt sich der jenseits der Mauer befindliche Stadtteil Getsemani, wo insbesondere die Backpacker logieren und allabendlich für Feierlaune sorgen. Gleich nebenan liegt eine Hauptsehenswürdigkeit der Ortschaft, das mächtige Kastell San Felipe, die größte je auf lateinamerikanischen Boden von Spaniern erbaute Festung, die fast vollständig erhalten geblieben ist und begangen werden kann. Wie wehrhaft das Kastell tatsächlich war, erfuhren ihre Erbauer - Ironie des Schicksals - am eigenen Leibe. Ihnen, den Konquistadoren, gelang es nicht, die Stadt zurückzuerobern, nachdem sie zeitweise aus ihr vertrieben worden waren.
Im weit außerhalb gelegenen Stadtteil Bocagrande türmen sich die Wolkenkratzer vieler Luxushotels in den Himmel, da es hier doch ordentliche Strandabschnitte gibt, die im Zentrum fehlen. Am Anfang, an der Mole, starten die kleinen Ausflugsschiffe, die Tagesausflügler auf kleine, hübsche Inseln bringen, beispielsweise auf Baru oder die Isla del Flores. Weiter hinten, im Hafen, legen - singulär für Kolumbien - Kreuzfahrtriesen an mit bekannten, nicht immer erfreulichen Folgen. Als Besucher für nur wenige Stunden handelt es sich oftmals um keine am Land wirklich interessierten Leute. Hektisch durchlaufen sie das Zentrum auf der Suche nach Souvenirs oder Einkehrmöglichkeiten und ziehen durch ihr Verhalten lästige Verkäufer und auch Trickdiebe an. Sie bringen zwar das schnelle Geld in die Stadt, sorgen aber genauso dafür, dass die Preise explodieren und für die einheimische Bevölkerung nicht mehr realistisch sind, besonders im Miet- und Immobilienbereich.
Entspannter und stressfreier als in Cartagena geht es in dem 500.000 Einwohner zählenden Santa Marta zu, das im Zentrum das Flair einer beschaulichen Kleinstadt versprüht, zumindest tagsüber. Am Abend geht auf den schönen Plätzen und schmucken Gassen jedoch das heftige Partyleben los - nicht zuletzt, weil sich hier die Rucksacktouristen die Klinke in die Hand geben, hängengebliebene Althippies ihre selbstgemachten Lederbändchen feilbieten und die immer gutgelaunten jungen Leute - Besucher wie Einheimische - bereit sind, das Tanzbein zu schwingen. Santa Marta erreicht man per Bus von Cartagena aus in vier Stunden für kleines Geld. Die Stadt ist idealer Ort für einen längeren Aufenthalt und bildet den Ausgangspunkt für Tagesausflüge an die herrlichen Karibikbuchten im Norden, etwa nach Taganga oder Palomino, in den artenreichen Nationalpark Tayrona oder, wer mag, auch ins unaufgeregte, in der Provinz liegende Aracataca, ein unbekannter Ort von weltliterarischer Bedeutung.
Es ist der Geburtsort von Gabo, wie ihn die Kolumbianer liebevoll nennen, von Literaturnobelpreisträger Gabriel Garcia Marquez und der Schauplatz seines berühmtesten Romans "Cien años de solidad" (Hundert Jahre Einsamkeit). Im Werk heißt die sagenumwobene Gemeinde, die rund vierzigtausend Einwohner beherbergt, allerdings Macondo, benannt nach einer dort wachsenden, blätter- und fruchtlosen Baumart mit glatter Rinde. Als in Aracataca vor wenigen Jahren ein Bürgerentscheid anberaumt wurde, ob man den Ort in nach dem im Buch verwendeten Macondo umbenennen sollte, war die Wahlbeteiligung zu gering, um wirksam zu werden. Nichtsdestotrotz ist an jeder Ecke und in jeder Gasse ersichtlich, wie stolz die Bewohner auf ihren großen Sohn sind. Das Konterfei ist oftmals auf Mauern abgebildet, Restaurants sind nach ihm benannt, die alte Schule trägt seinen Namen und aus dem Haus, in dem der Schriftsteller 1927 das Licht der Welt erblickte, hat man ein kleines Museum gemacht. Vor fünfzig Jahren genau, 1967, erschien sein Meisterwerk und damit eine neue literarische Gattung, der magische Realismus.
Vor zwanzig Jahren wäre es vollkommen unmöglich gewesen, den Besuch Medellins als Höhepunkt einer Kolumbienreise zu bezeichnen, heute scheint nichts selbstverständlicher zu sein - so sehr hat sich die einstmals gefährlichste Stadt seit der Zerschmetterung des Drogenkartells in den frühen neunziger Jahren gewandelt, verändert, vollkommen neu erfunden. Mehr noch, sie ist in mancherlei Hinsicht Vorreiter geworden für andere Großstädte weltweit, beispielsweise mit der Resozialisierung gestrandeter oder ins Abseits gedrängter Menschen sowie mit einem innovativen Verkehrskonzept in einer geographisch und städtebaulich problematischen Lage. Besonders erfolgreich gestaltete sich auch das Gewalt-Deeskalations-Konzept in einer Stadt, die einst die höchste Mordrate der Welt aufwies und heute nicht mehr unter den ersten fünfzig zu finden ist.
Bizarre Spuren in der Stadt, die heute 3,7 Millionen Einwohner zählt, hat der brutale Obergangster Pablo Escobar, der zum uneingeschränkten Boss der weltweit agierenden Kokainmafia aufstieg und zu einem der reichsten Männer der Welt wurde, bis heute dennoch hinterlassen. Findige Leute bieten Stadtbesichtigungstouren auf den Spuren jenes Mannes an, der für mehrere hundert Morde verantwortlich sein soll, meist ausgeführt durch Auftragskiller. Zu den Besichtigungsorten gehören seine Luxustempel ebenso wie Unterschlupfszenarien oder andere "Wirkungsstätten" wie etwa der heutige Naturpark Cerro Arvi auf einer weitläufigen Andenerhebung, wo er seine Gegner - in Plastiksäcken verpackt - entsorgt haben lassen soll. Unter den umtriebigen Stadtführern befindet sich sogar ein ausgesprochener "Kenner" der Szene, der ehemalige Chefkiller Escobars, Jhon Jairo Velásquez, der sich nach dem Tod seines Bosses stellte und zwanzig Jahre absaß. Heute führt er Gäste aus aller Welt an die Tatorte und verdient seinen Lebensunterhalt damit - eine etwas andere Art der Resozialisation. Das ist - ohne Frage - schon sehr speziell, und nicht zu Unrecht fragt der "Spiegel" in seiner Titelstory vom 2. Juli diesen Jahres, warum Menschen, vor allem Jugendliche, die diese Führungen buchen, auf diese Weise einen Mörder hofieren.
Im direkten Kontakt mit den Einwohnern wird sichtbar, dass sie froh sind, die Zeit des kriminellen Terrors hinter sich gelassen zu haben, haben doch viele Familien Opfer der Gewalttaten zu beklagen. Um so mehr sind sie stolz auf die vielen Verbesserungen, die sich für sie seither im konkreten Alltag ergeben haben und auch weiter ergeben werden.
Die Stadt ist für sie sicherer, sauberer, mobiler geworden. Beispielsweise durch ein Kabelbahn- und Rolltreppensystem als innovatives Verkehrskonzept, angebracht an den steilsten Hängen der einst wildwuchernden Armenviertel. Dort, wo die ältesten Menschen wohnen und die Wege am beschwerlichsten sind, hat man mit internationalen Finanzhilfen die kostenintensive Bauten realisiert und bietet die Benutzung für ein Minimalsalär oder vollständig kostenfrei an. So kommen die Leute schneller in die City, zu ihren Arbeitsplätzen, zu Freunden. Im einst problematischsten aller Viertel, in der Comuna 13, dort wo die Rolltreppen laufen, hat die Stadt ihre jungen Bewohner mit umfangreichen Graffitiarbeiten betraut, weshalb hier jetzt Kunstinteressierte aus aller Welt auflaufen, um den bunten Street-Art-Bezirk ausgiebig zu bestaunen, wobei sie geführt werden von eben jenen jungen Künstlern, die am allerbesten in der Lage sind, das nötige Hintergrundwissen zu vermitteln. Also (Re)-Sozialisierung pur darf man das benennen.
Medellin ist vielleicht nicht ganz so stilvoll und museal wie die Hauptstadt, aber es steht zu ihr in einer gesunden Konkurrenz. Auf den Straßen geht es geschäftiger zu, herrschen größere Menschenansammlungen und besteht ein mindestens ebensolch hohes Verkehrsaufkommen. Stolz sind die Einwohner auf die vielen Festivals, sei es das der Poesie, des Tangos oder der Skulpturen. Berühmt ist die "Stadt des ewigen Frühlings" vor allem aber für ihre üppige Weihnachtsilluminationen und die traditionsreiche Zucht von Blumen, insbesondere Orchideen, die in alle Welt verkauft werden. Das ist sicher auch der Grund, warum der gerade prämierte Marathon den schönen Untertitel "de las Flores" trägt.
Ein Marathon, wie gesagt, stand nicht auf dem Plan des Reiselaufreporters, wohl aber ein weiterer Unterdistanzstraßenlauf, der am 17. Dezember in Medellin schon zum 26. Mal angeboten wurde, der "Cotrafa Carrera Atlética Nadvideña", der gleichzeitig (fast) den Abschluss der Reise bildete.
Titelsponsor des Weihnachtslaufes ist ein sozial eingestellter Versicherungs- und Finanzdienstleister, die Cotrafa-Genossenschaft, die in Medellin, wo der Start erfolgt, und in Bello, wo das Ziel ist, seinen Hauptsitz hat. So ist es auch kein Zufall, dass genau an deren Firmengebäuden gestartet und gefinisht wird. Die Distanz zwischen beiden Standorten (auch Bello ist eine größere Stadt mit einer halben Million Einwohnern) beträgt genau zwölf Kilometer. Rund eintausend Läufer hatten sich für das von der regionalen Laufvereinigung Antioquias organisierten Rennen angemeldet, knapp 900 Finisher erreichten das Ziel. Zum Lauf gehören des Weiteren verschiedene Jugendrennen über Distanzen von einem bis fünf Kilometer, die allesamt in Bello über die Bühne gehen. Dies bereits sehr früh um 7:30 Uhr, und zwar deshalb, weil schon eine Stunde später mit den ersten Zieleinläufen im Hauptrennen zu rechnen ist, das um acht Uhr in Medellin angeschossen wird.
Ganz leicht ist der Lauf auf einer Höhe von 1600 Metern bei Temperaturen von knapp 25 Grad und direkter Sonneneinstrahlung nicht. Außerdem weist die Strecke vor allem im ersten Teil einen Höhenunterschied von mehr als 200 Metern auf, die bei mehreren kurzen, steilen Anstiegen zu bewältigen sind. Bei Kilometer acht ist der Scheitelpunkt erreicht, und es geht nur noch abwärts ins Stadtzentrum von Bello, wo ganz am Schluss noch ein Minihügel wartet. Als schnellster Mann erwies sich Jeisson Alexander Suarez Bocanegra-Ganador, der nach 38:49min zu Hause war, schnellste Läuferin war Muriel Coneo, die 46:12min brauchte. War der Frauenanteil in Bogota bei der längeren Strecke noch ein Drittel gewesen, lag er in Medellin bei gut einem Viertel.
Medaillen und Shirts gab es in beiden Fällen für alle, ein Weihnachtsgeschenk beim Weihnachtslauf sogar obendrauf. Die ausgelobten Siegprämien waren auch hier erheblich, wurden aber nicht in monetärer Form, sondern als Einkaufsgutscheine vergeben. Der Anmeldevorgang war gleichfalls nur persönlich möglich, für welchen man schon zwei Tage vorher in der Stadt sein musste, was für (ausländische) Gäste schwierig sein kann. Notfalls kann man auch ohne Startnummer mitlaufen und erhält sogar im Ziel seine Medaille, wie mehrfach zu beobachten war, nur in der Ergebnisliste taucht man dann nicht auf.
Und die Zukunft? Lange Zeit kannten die Einwohner Medellins nur Asphalt, Beton und Häuserschluchten, auf den Hängen bestehend aus Bungalows und Hütten aus charakteristischem, roten Backstein, traditionell unverputzt belassen. Eines der vielen ehrgeizigen, noch zu verwirklichenden Ziele der Stadtverwaltung ist es, grüne Erholungsräume im und um die Stadt zu schaffen oder zu erschließen. Eines der wenigen intakten Ökosysteme - zugleich eine lohnende Sehenswürdigkeit - ist der Stadthügel Nutibara, der achtzig Meter hoch und komplett bewaldet ist und nach einem mächtigen indigenen Vorfahren und Führer benannt wurde. Hier hat man am Hang einen Skulpturenpark internationalen Formats eingerichtet und ein großes Freilichttheater geschaffen, zudem wurde auf dem Gipfel ein ursprüngliches Dorf der Region in Miniformat sowie ein kleines regionalgeschichtliches Museum gebaut. Die Tatsache, dass die Einheimischen den Hügel in Scharen aufsuchen, zeigt an, dass die Bemühungen auf fruchtbaren Boden fallen.
Gleichfalls hat man eine der neuen Seilbahnen, die zunächst nur vom Stadtteil Santo Domingo auf die höheren Wohnhänge führte, über mehrere Kilometer über den gesamten Hügel bis zum Nationalpark Arvi verlängert. Was anfangs als Attraktion vorwiegend für die Touristen gedacht war, entpuppt sich mehr und mehr auch als Möglichkeit der Einwohner, in dieses weitgefächerte, geschützte Reservat zu kommen, in dem große, geführte Wanderungen in wilder Berglandschaft angeboten werden bis hin zu einem idyllisch gelegenen See. Auch findet sich hier ein Schmetterlings- und Pflanzenhaus, da die Gegend so reich an seltener Flora und Fauna ist. Viele Arten kommen nur hier und sonst nirgendwo auf der Welt vor.
Ganz aus dem Häuschen sollen die Stadtväter einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zufolge gewesen sein, als sie davon hörten, dass ein deutscher Bürgermeister innerhalb seiner Stadt schon vor vielen Jahrzehnten einen kreisrunden Grüngürtel einrichten ließ als Erholungsoase für alle Bewohner. Die Rede ist von Köln und seinem früheren Stadtoberhaupt Konrad Adenauer.
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Ein solch visionäres Projekt will man nun auch in Medellin unbedingt angehen, obwohl eine Realisierung - von der Struktur der Metropole her betrachtet - fast ein aussichtsloses Unterfangen scheint. Aber: Mit scheinbar aussichtslosen Ausgangslagen kann man hier - wie sich zeigte - besser umgehen als sonst irgendwo.
Fazit: Medellin bleibt spannend wie wohl kaum eine andere Stadt von Weltformat. Die Zuerkennung des "Sozial-Awards" für ihren Marathon wird sicher nicht die letzte internationale Auszeichnung für die Stadt gewesen sein.
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Bericht und Fotos von Michael Schardt Ergebnisse Zurück zu REISEN
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