27.9.09 - 4. Standard Chartered Jersey Marathon

Laufen im britischen Teil Frankreichs

von Ralf Klink

Sicher, etwas verwirrend ist die Überschrift. Und sie ist zugegebenermaßen auch nicht ganz korrekt. Allerdings nicht, weil es so eine Konstellation überhaupt nicht geben könnte. Es existiert in Europa sehr wohl ein Ort, an dem sich die beiden früheren Weltmächte ziemlich nahe kommen. Doch stellen die wenigen Worte dort oben den komplizierten Sachverhalt wesentlich einfacher dar, als er in Wahrheit ist.

Es geht um die sogenannten Kanalinseln. Und diese liegen direkt vor der französischen Küste. Zwischen fünfzehn und maximal fünfundvierzig Kilometer sind es von dort bis zur Halbinsel Cotentin. Zum nächstgelegen Punkt der englischen Südküste muss man dagegen je nachdem, von welcher Insel man starten möchte, einhundert bis einhundertfünfzig Kilometer übers Meer zurücklegen.

Erdgeschichtlich sind sie ohnehin ein Überbleibsel des Armorikanischen Gebirges, aus dem auch die Bretagne und Teile der Normandie bestehen. Noch während der letzten Eiszeit, als der Meeresspiegel um viele Meter niedriger lag, bestand eine Landverbindung zum Kontinent. Und die französische Bezeichnung „Îles Normandes“ also „normannische Inseln“ ist eigentlich viel treffender als das übersetzt auch ins Deutsche übernommene „Channel Islands“. Denn vom richtigen Ärmelkanal ist der Archipel durch Cotentin getrennt. Geographisch gehören sie jedenfalls ziemlich eindeutig zu Frankreich.

Dennoch ist nicht der französische Staatspräsident sondern Elizabeth II das offizielle Oberhaupt der Inselgruppe. So weit, so gut. Um es nun jedoch richtig undurchsichtig zu machen, sollte man allerdings noch erwähnen, dass die Kanalinseln keineswegs formale Bestandteile des Vereinigten Königreiches sind. Ihre Verbindung zum einstigen Empire ist offiziell einzig und allein durch die Person der Monarchin hergestellt. Denn Elizabeth herrscht über die Inseln nicht in ihrer Rolle als britische Königin, sondern aufgrund des noch aus dem Mittelalter stammenden Titels „Herzogin der Normandie“.

Schilder kündigenden Marathon überall an Die Burg von Gorey sollte Jersey gegen Frankreich verteidigen Green-Lanes-Verkehrsschild

Die Inseln haben eine Sonderstellung, die man vielleicht – wenn auch staatsrechtlich nicht ganz korrekt – als weitgehende Autonomie bezeichnen könnte. Denn eine Kolonie oder wie es neuerdings heißt ein britisches Überseegebiet – ein rechtlicher Status, den zum Beispiel Gibraltar hat – sind sie auch nicht. Die offizielle Bezeichnung lautet „Crown Dependencies“, was man ungefähr mit „Kronbesitzungen“ übersetzen könnte.

Neben der Îles Normandes gehört auch die zwischen Irland und Großbritannien liegende Isle of Man in diese ungewöhnliche Kategorie. Dort herrscht der jeweilige britische Monarch als „Lord of Mann“. Kein Schreibfehler ist dabei das zweite „n“. Offiziell wird der Titel nämlich in einer viele Jahrhunderte alten Form benutzt. Die fast genauso große und oft mit der Insel Man verwechselte Isle of Wight vor der englischen Südküste ist dagegen ganz normaler Bestandteil von England und damit des United Kingdom.

Ins Unterhaus von Westminster entsenden die Kanalinseln jedenfalls keine Abgeordneten. Sie haben ihre eigenen Parlamente, die zum Teil noch nach uralten Regeln zusammengesetzt sind. Britische Gesetze sind nur dann gültig, wenn das ausdrücklich im Text erwähnt wurde. Im Allgemeinen regieren sich die Inseln allerdings nahezu vollständig selbst. Nur für Außenpolitik und Verteidigung ist London zuständig.

Auch die Vorgaben der Europäischen Union gelten nur sehr bedingt. Denn obwohl an der Schnittstelle zwischen zwei Mitgliedern der Gemeinschaft gelegen, wurden die Inseln beim Beitritt des Vereinigten Königreichs ausdrücklich ausgenommen. Einzig und allein zum Zollgebiet der EU zählt man. Ansonsten kann das Brüsseler Parlament verabschieden, was es auch immer will, die Kanalinseln sind davon ausgenommen. Und was die Regierungschefs der Union in ihren manchmal an einen orientalischen Basar erinnernden Kungelrunden aushandeln, kann dem Archipel in der Regel ebenfalls völlig egal sein.

Insgesamt fünf der Eilande, die größten von ihnen, sind frei zugänglich. Sie heißen Jersey, Guernsey, Alderney, Sark und Herm. Einige kleinere, nur wenige hundert Meter breite Inselchen wie Jethou, Brecqhou und Lihou sind zudem in Privatbesitz und von ihren meist schwerreichen Eigentümern für die Öffentlichkeit gesperrt worden. Welche Zahl an Inseln man aber insgesamt für den Archipel angibt, hängt natürlich davon ab, wie man den Begriff „Insel“ definiert. Denn zusätzlich zu den bewohnten ragen auch noch etliche andere Felsen aus dem Meer.

Jersey ist jedenfalls die größte von ihnen. Darüber muss man nicht lange debattieren. Sogar ein wenig größer als alle anderen zusammen ist das ganz im Süden der Gruppe gelegene Eiland. Wobei „groß“ natürlich immer nur relativ zu sehen ist. Die von Jersey eingenommene Fläche entspricht gerade einmal in etwa der von Sylt. Man stelle sich einmal die nördlichste deutsche Insel als praktisch selbstständigen Staat vor.

Denn die Channel Islands unterteilen sich noch einmal in zwei rechtlich völlig voneinander getrennte „Bailiwicks“, was man ins Deutsche ungefähr mit „Vogteien“ – nicht nur die Strukturen sondern auch die Begriffe gehen bei den Kanalinseln noch immer auf das Mittelalter zurück – übertragen könnte. Jersey alleine bildet die eine. Zum Bailiwick Guernsey gehören dagegen auch alle anderen Inseln, selbst wenn diese ihrerseits dort größtenteils wieder ziemlich autonom sind.

Die relative Unabhängigkeit von Vereinigtem Königreich und Europäischer Union erlaubt beiden Vogteien ein nennen wir es einmal ziemlich liberales Steuerrecht zu haben. Die Bezeichnung „Steuerparadies“, „Steueroase“ oder gar „Steuerschlupfloch“ würde man auf Jersey und Guernsey natürlich mit Vehemenz ablehnen. „Offshore-Finanzplatz" klingt da vielleicht doch ein wenig neutraler.

Corbiére Leuchturm mit Wasser ... ... und ohne Wasser

Jedenfalls ist sowohl im Bailiwick Jersey wie auch im Bailiwick Guernsey der Banken- und Versicherungssektor mit Abstand wichtigster Wirtschaftszweig. Insbesondere auf Jersey trägt er zu einigen wirtschaftlichen Kenngrößen inzwischen mehr als fünfzig Prozent bei. Deshalb haben natürlich auch etliche internationale Banken Niederlassungen auf der Insel. Inzwischen arbeiten fast zwanzig Prozent der neunzigtausend Einwohner Jerseys für diese Finanzdienstleister.

Auch die Standard Chartered Bank ist darunter. Ein Name, der Beobachtern der internationalen Marathonszene durchaus bekannt vorkommen könnte. Denn gleich bei etlichen Veranstaltungen taucht er auf. Eine regelrechte Rennserie richtet man aus. Hauptsächlich den asiatischen Raum deckt man dabei ab, was auch ganz gut zum Geschäftlichen passt, denn obwohl eigentlich eine britische Firma ist man hauptsächlich in dieser Region aktiv.

Mit etlichen wichtigen Marathons in Asien arbeitet man zusammen. Singapur, Hong Kong, Kuala Lumpur, Bangkok, sie alle haben ein Logo in den blau-grünen Farben von Standard Chartered. Und auch in Dubai, wo seit einigen Jahren mit großen Summen versucht wird, ein großes Rennen auf die Beine zu stellen, ist man dabei. Doch selbst ein so entlegenes Plätzchen wie die Falkland Inseln im Südatlantik hat nun – nicht zuletzt aufgrund der Bank – einen eigenen Marathon.

Was lag da näher als auch im Finanzzentrum Jersey einen entsprechenden Lauf zu veranstalten. Seit 2006 gibt es auf der Kanalinsel deshalb also einen jährlichen Marathon. Und Standard Chartered tritt dabei keineswegs nur als Sponsor sondern auch als Ausrichter auf. Rennleiterin Helen Baker ist Angestellte der Bank und auch ihre Chefin Alison McFadyen ist maßgeblich in die Organisation eingebunden.

So groß wie einige der Schwesterläufe in den asiatischen Metropolen ist Jersey – fast möchte man sagen natürlich – nicht geworden. Denn auf dem Kontinent ist vielen – zumindest denen, die dort bisher keine Geldgeschäfte getätigt haben – die Existenz einer Insel dieses Namens gar nicht bekannt. Viel eher dürfte, wenn dieser Name fällt, an Textilien gedacht werde. Neben dem nach der Insel benannten Stoff wird er ja auch noch für Sportbekleidung genutzt. „Verein XY spielt in den blauen Jerseys“, hat praktisch jeder schon einmal von einem Kommentator gehört.

Es sind neben Bewohnern der Kanalinseln tatsächlich fast ausschließlich Briten, die sich für die Veranstaltung gemeldet haben. Mit drei- bis vierhundert Marathonis bleibt das Ganze jedenfalls in einem überschaubaren und deshalb durchaus familiären Rahmen. Knapp zweihundertfünfzig Fünferstaffeln bringen die Teilnehmerzahlen insgesamt dennoch klar in den vierstelligen Bereich. Eine Handvoll Deutsche – unter ihnen Horst Preisler, der die Marathondistanz öfter bewältigt hat, als jeder andere – sind dann allerdings doch vor Ort.

Und ungefähr genauso viele Franzosen haben sich ebenfalls auf dem Eiland direkt vor ihrer Küste eingefunden. Dabei hätten sie vielleicht gar nicht so große sprachliche Probleme wie im „richtigen“ Königreich, wo man vom intensiven Erlernen einer Fremdsprache eher wenig hält. Denn auf den Kanalinseln verstehen ziemlich viele Menschen Französisch und etliche sprechen es sogar ganz gut. Auch bei Aufschriften, Schilder, Broschüren usw. wird es parallel zum Englischen fast gleichberechtigt verwendet. Neben „Bailiwick of Jersey“ gibt es sogar ganz offiziell die Bezeichnung „Bailliage de Jersey“.

Schließlich ist die ursprüngliche Bevölkerung französischer Herkunft. Und bis vor gut einhundert Jahren war auch das Jèrriais, eine inselspezifische Abart des normannischen Dialekts, die normale Umgangssprache. Erst nach und nach wurde es immer mehr vom Englischen verdrängt, das unter anderem Soldaten und Verwaltungsbeamte mitbrachten, die nach Ende ihrer Dienstzeit auf dem Archipel hängen blieben.

Die Startnummern gibt es in den Räumen der Standard Chartered Bank Zwei Säulen mit dem Marathonlogo markieren den Start Große Pfeile an jeder Kreuzung lassen das Verlaufen kaum zu

Im öffentlichen Bereich hielt sich Französisch noch wesentlich länger. Verträge und Gesetzestexte wurden noch bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein ausschließlich in dieser Sprache abgefasst. Auch vor Gericht wurde Französisch verhandelt. Und im Inselparlament war die Verwendung von Englisch überhaupt erst ab 1900 zulässig. Zuvor debattierte man ausschließlich auf Französisch.

Das hat sich inzwischen doch deutlich gewandelt. Auch weil heutzutage fast die Hälfte der Inselbevölkerung nicht auf Jersey geboren wurde sondern zugewandert ist. Natürlich hauptsächlich aus dem Königreich. Der Gebrauch von Französisch beschränkt sich auf einige Formelsätze zu bestimmten Anlässen oder ein paar Floskeln und Vokabeln, die sich in die Umgangssprache eingeschlichen haben.

Dem Jèrriais droht gar das endgültige Verschwinden. Denn obwohl es in den Schulen auch weiterhin – allerdings auf freiwilliger Basis – unterrichtet wird, nutzt man es im täglichen Leben eigentlich kaum noch. Die Zahl der aktiven Sprecher ist auf wenige Hundert geschrumpft. Diejenigen, die es ausschließlich oder zumindest überwiegend im Alltag einsetzen, sind noch wesentlich weniger.

Eine Gesellschaft, die Société Jersiaise, versucht zwar, zu retten was zu retten ist und die Sprache zu fördern, wo es nur geht. Schließlich übernimmt auf Jersey doch gerade diese Sprache eine wichtige Klammerfunktion in der so ungewöhnlichen Verbindung zwischen englischer und französischer Welt. Die Erfolge dieser Bemühungen sind allerdings eher bescheiden. Vermutlich wird man – wie anderswo auch – erst dann merken, dass etwas fehlt, wenn es zu spät ist, die Uhr zurück zu drehen, und man nichts mehr ändern kann.

Dem Guernesiais auf Guernsey geht es da kaum anders. Genau wie das Sercquais auf Sark ist es aufgrund der geringen Inselbevölkerung sogar noch deutlich stärker bedroht. Und von denjenigen, die sie noch fließend beherrschen ist der größte Teil inzwischen im Rentenalter. Bei den Jüngeren liegt der Anteil der Sprecher dagegen im Promillebereich. In Alderney hat sich die Sache schon ganz erledigt. Das dortige Auregnais ist erloschen und nur noch in schriftlichen Quellen belegbar.

Dabei sind Dialekte und Regionalsprachen doch der Ausdruck einer Identität jenseits weltweiter oder zumindest nationaler Gleichmacherei. Aber noch immer haftet ihnen eben für manche auch etwas Rückständiges, Bäuerliches, Primitives an, das man Kindern aberziehen muss oder gar nicht erst angewöhnen darf. Ja der eine oder andere geht sogar so weit zu glauben, sie seien etwas, für das man sich schämen sollte.

Ohne Jèrriais aber dürfte Jersey zumindest kulturell irgendwann zu einer ganz normalen britischen Insel geworden sein und viel von seinem ganz speziellen Charakter verlieren. So wie sich auch manch andere Gegend ohne das lokale Idiom langsam zu einem völlig beliebigen, austauschbaren Bestandteil eines Einheitsbreis wandelt.

Zumindest in Namen und geografischen Bezeichnungen ist der Dialekt der Normandie auf den Kanalinseln aber noch weit verbreitet. Selbst wenn vieles inzwischen Englisch ausgesprochen wird, lassen sich die französischen Wurzeln nicht übersehen. Bei einigen Läufern in den Meldelisten des Jersey Marathons ist es dann auch praktisch kaum festzustellen, ob es sich um alteingesessene Einheimische oder um französische Gäste handelt.

Doch auch wenn es sich beim Normannischen und seinem Ableger Jèrriais eindeutig um Varianten der französischen Sprache handelt, besitzt es nicht nur romanische Wurzeln. Denn wie der Name schon ausdrückt, wurde die Region im frühen Mittelalter von nordischen Seefahrern, die zwar meist „Wikinger“ genannt werden, aber durchaus auch als „Normannen“ bekannt sind, erst geplündert und schließlich erobert.

Vorjahressieger Andrew Hennessy gibt noch wenige Minuten vor dem Start ein Interview Ebenfalls vor dem Lauf begrüßt Andrew Hennessy, der 2007 und 2008 gewann, Joseph Kibunja, der diesmal den Marathon gewinnen wird, Hennessy wird Dritter Rennleiterin Helen Baker und Bankchefin Alison McFadyen (am Mikrofon) schicken die Läufer auf die Reise

Ihr Anführer Rollo wurde 911 vom Frankenkönig Karl III mit einem Lehen über die heutige Normandie bedacht. Natürlich auch mit dem Hintergedanken, ihn so an der Küste zu binden und von weiteren Raubzügen ins Binnenland abzuhalten. Die Nordmänner blieben und wurden recht schnell ins Reich eingebunden. Auch die französische Sprache übernahmen sie bald.

Einige altnordische Begriffe hielten sich allerdings. So entspricht zum Beispiel die Endung „-hou“ der kleineren Eilande in den Bailiwicks ziemlich sicher jenem „-holm“, das bei der Benennung von skandinavischen Schären meist benutzt wird. Und auch das „-ey“ in „Jersey“, „Guernsey“ und „Alderney“ hat seinen Ursprung in den germanischen Sprachen des Nordens. Dort werden vergleichbare Namen nämlich in der Regel mit „-øy”, „-ø“ oder „-ö“ abgeschlossen, was eben nicht anderes als „größere Insel“ bedeutet.

Mit knapp zwanzig Kilometern in der Länge und zehn Kilometern in der Breite ist Jersey zwar kein Riese, aber für einen Marathon auf einer einzigen Runde ist durchaus Platz genug. Immerhin bekommen ja nicht nur vergleichbare Kleinstaaten wie Liechtenstein und Malta so etwas hin. Nein, sogar das gerade einmal halb so große Guernsey hat seit diesem Jahr seinen eigenen Lauf über diese Distanz.

Vier Wochen vor dem Nachbarn, dem man durch eine innige – wenn auch nicht immer ernstgemeinte – Rivalität verbunden ist, konnte man Ende August im anderen Bailiwick nach knapp zwanzig Jahren Pause erstmals wieder auf 26,2 Meilen die Insel umrunden. Und nicht nur das Eiland, auch das Teilnehmerfeld war dabei ungefähr halb so groß wie in Jersey.

Dort ist St. Helier nicht nur Zentrum des Marathons sondern der gesamten Insel. In der Hauptstadt, die längst über die eigentlichen Gemeindegrenzen hinaus gewachsen ist, lebt rund ein Drittel der gesamten Bevölkerung. In ihrem Dunstkreis über die Hälfte. Und hier haben auch die internationalen Banken ihre Niederlassungen. Es sind zwar keine Wolkenkratzer, die in den Himmel wachsen wie in den wirklich großen Finanzzentren, doch einige Firmen haben durchaus stattliche Bürogebäude im kleinen Stadtzentrum errichtet.

Auch die Standard Chartered Bank besitzt einen mehrstöckigen Neubau ziemlich genau zwischen Fußgängerzone und Uferpromenade. Im dortigen Foyer können sich die Marathonis von Donnerstag bis Samstag ihre Startnummern abholen. Alles läuft recht zwanglos und unkompliziert. Zügig und ohne große Formalitäten hat man den Umschlag mit Startnummer und Zeitmesschip inklusive Klettband für das Fußgelenk in der Hand.

Dass dabei oft mehr Mitarbeiter der Organisation als Läufer vor Ort sind, erleichtert es den Helfern sichtlich ein paar Minuten für ein kleines Schwätzchen mit den Läufern zu finden. So etwas hat man bei Megaveranstaltungen mit Zehntausenden von Teilnehmern auch schon ganz anders erlebt.

„Help yourself“ heißt es beim Deuten auf den Tisch mit den Werbegeschenken. Neben Kugelschreibern und ähnlichen liegen dort zum Beispiel auch Anstecker, Aufkleber und Plakate des Marathons. Jeder soll sich ruhig mitnehmen, was er will und braucht. Da ist man auf Jersey dann doch einfach schon viel zu britisch, als dass man befürchten müsste, jemand würde die Sachen gleich in mehreren Plastiktüten aus der Bank schleppen.

Für zwölf Pfund kann man auch eine Eintrittskarte zur Pasta-Party erwerben. Das liest sich im ersten Moment wesentlich teurer, als es in Wahrheit ist. Denn während man anderswo zwar oft nur halb soviel bezahlt, dann aber mit einer Portion pampiger Nudel aus einem Plastikschälchen abgespeist wird, findet diese auf Jersey in einem Hotelsaal statt. Man kann sich dort an einem Büffet aus mehreren verschieden Pasta-Gerichten sein eigenes Menu zusammenstellen. Und Salate, Brot und zumindest nichtalkoholische Getränke sind auch noch dabei.

Die Fußgängerzone von St. Helier ist vielleicht nicht unbedingt schön, aber sie ist geschäftig

Eine Atmosphäre, in der man ruhig ein paar Stunden sitzen bleiben kann und nicht sofort nach dem Essen wieder aufspringt, weil es einfach zu ungemütlich ist. Zumal auch weder hämmernde Musik dröhnt, noch ein Moderator von irgendwelchen selbsternannten Experten Ratschläge für die Läuferschar einfordert. So bleibt Zeit für Gespräche, bei denen man den anderen versteht ohne gleich ins Schreien verfallen zu müssen. Auch etwas, was bei einem richtig großen Lauf in dieser Form schon aus logistischen Gründen kaum möglich wäre.

Zwischen dreißig und vierzig Pfund hat zuvor abhängig vom Eingangstermin die Anmeldung für die Einzelläufer gekostet. Seit der letzten Woche vor dem Start werden nun inklusive der Nachmeldegebühren fünfzig davon fällig. Staffeln berappen dagegen zwischen 125 und 175, wobei allerdings auch jeder der fünf Läufer Medaille und T-Shirt erhält. Beim bargeldlosen Zahlungsverkehr ist dabei völlig unerheblich, welche Art von Pound da gemeint ist.

Doch wenn es um Banknoten geht, gibt es sehr wohl einen Unterschied. Jersey gibt nämlich genau wie Guernsey eigene Geldscheine heraus, deren Wert zwar mit dem Pfund Sterling identisch ist, die aber völlig andere Farben und Motive haben. Und sogar eigene Münzen mit dem Aufdruck „Bailiwick of Jersey“ prägt man.

Es gibt auch noch eine Ein-Pfund-Note, etwas was die Bank von England gar nicht mehr im Umlauf hat. Deren Münz- und Papiergeld gilt auf den Kanalinseln allerdings ebenfalls als Zahlungsmittel. Und je nachdem, was der Gegenüber gerade zur Verfügung hat, bekommt man einmal das eine und einmal das andere in die Hand.

Umgekehrt ist das mit der Anerkennung jedoch keineswegs der Fall. Für die grüne Pfund-Note aus Jersey findet man höchstens noch auf Guernsey einen Abnehmer. Denn die beiden Vogteien akzeptieren ihre Währungen wechselseitig. Im eigentlichen Königreich wird man die Kanalinsel-Pfund aber maximal noch bei einigen Banken los. Ein inzwischen an den in etlichen Ländern uneingeschränkt gültigen Euro gewohnter Kontinentaleuropäer kann das gar nicht so leicht durchschauen.

Und eigentlich ist es sogar noch komplizierter, denn insgesamt gibt es im Herrschaftsbereich von Queen Elizabeth sogar drei bzw. vier verschiedene Arten Pfund im Umlauf. Während die Bank von England im namensgebenden Bestandteil des Königreichs – und außerdem auch in Wales – als unabhängige Zentralbank die Zahlungsmittel bereit stellt, haben in den anderen beiden Landesteilen traditionell auch insgesamt sieben Geschäftsbanken das Recht Geldscheine herauszugeben. Man stelle sich bei uns einmal vor, die Deutsche Bank gäbe ihren eigenen Euro aus.

Auf den Kanalinseln werden die Noten dagegen formal von den jeweiligen Parlamenten in Umlauf gebracht. Und bei der Isle of Man, die auch in Bezug auf die Währung eine ähnliche Stellung wie Jersey und Guernsey hat, ist offiziell die lokale Regierung für den Druck verantwortlich. Kompliziert genug? Nun es geht noch besser.

Denn selbst wenn man sich für den Marathon auf einer Internetseite mit der Endung „com“ anmelden und mit Informationen versorgen kann, es hätte genauso eine mit „je“ sein können. Jersey hat nämlich ein eigenes Kürzel für das weltweite Netz. Auch Guernsey besitzt mit „gg“ seine nationale Domäne.

Und Briefmarken, die sowohl Jersey wie auch Guernsey in Eigenregie herausgeben, werden zwar gegebenenfalls auch einmal mit Scheinen aus dem anderen Bailiwick bezahlt. Dort einsetzen darf man sie allerdings nicht. Jersey-Marken sind nur auf Jersey anerkannt, Guernsey-Marken nur auf Guernsey. Dass es inzwischen auf dem gerade einmal etwas über zweitausend Bewohner zählenden Alderney ebenfalls eigene Postwertzeichen gibt, sei jetzt nur noch am Rande erwähnt.

"Toads", also "Kröten" werden die Bewohner von Jersey genannt, sie nehmen es mit Humor. An der Kröte vorbei, der Deutsche Horst Preisler, ein "Weltrekordler" was die Anzahl absolvierter Marathon-Distanzen angeht Wehrtürme sind rund um die Insel verbreitet, den First Tower passiert man nach zwei Meilen Am ersten Staffelwechselpunkt nutzt man das Warten auf die Startläufer, um die Marathonis zu beklatschen

Solche aus dem United Kingdom gelten aber weder in der einen noch in der anderen Vogtei. Falsch frankierte Briefe oder Karten werden nicht befördert. Das kann man auch auf allen Briefkästen nachlesen. Die sind übrigens auf Jersey ebenfalls rot. Die Telefonzellen sind allerdings im Gegensatz zum Mutterland gelb. Und auf Guernsey ist beides sowieso blau.

Vermutlich gibt es kaum jemanden, der wirklich all die vielen Besonderheiten im United Kingdom und seinen Anhängseln völlig durchschaut. Selbst wenn Menschen im Allgemeinen das Bestreben haben, möglichst viel in möglichst wenige, meist zu einfache Schubladen zu sortieren, um ein bisschen Ordnung in die chaotische Welt um sie herum zu bringen, werden sie spätestens bei den Kanalinseln von der wie so oft viel komplexeren Realität eingeholt.

Denn was sind denn Jersey und Guernsey nun. Richtige Länder? Selbstständige Staaten? Autonomiegebiete? Oder vielleicht doch nur ein paar Inseln im Vereinigten Königreich? Betrachtet man sie als Einheit, eben „die Kanalinseln“? Oder haben sie nichts miteinander zu tun? Einfache Antworten zu finden, nach denen man doch stets gerne sucht, ist auch hier verdammt schwer.

Sogar Marathonsammler stehen vor einem Problem. Dürfen sie Jersey und Guernsey denn jetzt mit jeweils einem Strich auf ihrer Länderliste berücksichtigen oder nicht? Was sich für den „normalen“ Marathoni jetzt völlig unerheblich anhört, wird nämlich zum Beispiel beim britischen 100 Marathon Club, wo man wie in seinem deutschen Pendant zu allen möglichen und unmöglichen Aspekten der Vielläuferei Rekordlisten führt, ernsthaft diskutiert.

Denn natürlich sieht man auch beim vierten Standard Chartered Jersey Marathon das eine oder andere blau-gelbe Trikot dieses Vereins, als sich am Sonntagmorgen die Läufer nach und nach auf dem „Weighbridge“ genannten Platz einfinden, der als Start- und Zielgelände dient. Noch vor kurzer Zeit war die zwischen Hafen und Stadt gezwängte Fläche der zentrale Busbahnhof der Insel. Doch inzwischen ist sie umgebaut und steht nicht nur für den Marathon sondern auch für andere Veranstaltungen zur Verfügung.

Hinter dem Platz erhebt sich auf einer Seite steil der Mont de Ville, der „Stadtberg“, der als felsige Halbinsel ins Meer hinaus ragt, während St. Helier auf seiner flacheren Rückseite um ihn herum gewachsen ist. Auf der Kuppe hat man im früheren Fort Regent, das einst den Hafen bewachte, nun ein Sport-, Freizeit-, Konferenz- und Veranstaltungszentrum errichtet. Die massiven Mauern der Festung sind allerdings noch deutlich sichtbar.

Überall auf Jersey trifft man auf unterschiedlichste Befestigungsanlagen aus vielen Jahrhunderten. Denn schon seit dem Mittelalter waren die Kanalinseln ein ständiger Zankapfel. Spätestens nachdem die Herzöge der Normandie ihr Gebiet über den Ärmelkanal auf die britischen Inseln ausdehnten, wurden sie dem französischen König langsam zu mächtig.

Von der 1066 ausgefochtenen Schlacht bei Hastings, in der die Normannen unter Wilhelm dem Eroberer die Angelsachsen – die allerdings ihrerseits auch einige hundert Jahre zuvor die keltische Bevölkerung Britanniens gewaltsam verdrängt hatten – schlugen und damit die Herrschaft über England erlangten, haben viele ja vielleicht im Geschichts- oder Englischunterricht schon einmal gehört.

Und die anschließenden Streitigkeiten zwischen der neuen normannischen Oberschicht und den angelsächsischen Bauern kennt man aus den unzähligen Geschichten um Robin Hood. Wobei der darin meist als Einiger beider Volksgruppen und deshalb als erster richtiger Engländer gefeierte Richard Löwenherz sich wohl eigentlich eher als Herrscher des Reiches Aquitanien in Westfrankreich verstand.

Durch das enge, schattige Waterworks Valley geht es auf dem Chemin des Moulins entlang

Man ist sich nicht einmal sicher, ob er überhaupt Englisch sprach. Und während seiner zehnjährigen Regierungszeit als englischer König hielt er sich weniger als ein Jahr wirklich auf der von ihm nicht unbedingt gemochten Insel auf. Es gibt sogar Belege, dass er das kalte nasse England bewusst gemieden habe und über jeden Grund froh war, nicht dort sein zu müssen. Wahr ist jedoch tatsächlich, dass er die normannischen Vorrechte beschnitt und die Angelsachsen zumindest formal gleichstellte.

Richard the Lionheart – oder eben auf Französisch Richard Cœur de Lion – war jedenfalls der letzte englische König, der nicht nur den entsprechenden Titel des dortigen Herzogs trug, sondern auch wirklich über die Normandie herrschte. Unter seinem Bruder John Lackland – der böse Prinz John aus den Geschichten um Robin Hood – ging 1204 das Stammland des englischen Königshauses an Frankreich verloren.

Nur die Kanalinseln blieben Johann Ohneland vom einstigen Herzogtum erhalten. Seinen Beinamen erhielt er allerdings nicht, weil er den größten Teil der kontinentalen Besitzungen für die englische Krone verlor. Den hatte er schon zuvor. Denn als jüngster Sohn war er ursprünglich leer ausgegangen, als sein Vater das Reich unter seinen Sprösslingen aufteilte.

Doch auf die Inseln vor seiner Küste erhob der französische König natürlich ebenfalls Anspruch. Und so wurden sie entsprechend militärisch ausgebaut. Auf Jersey diente zuerst die aus dem Mittelalter stammende Burg von Gorey als zentrale Garnison für die britischen Verteidiger und Sitz des Gouverneurs. Heute ist die gut erhaltene bzw. wieder aufgebaute Festung auf einem Felsen über dem Hafen des Dörfchens eine der Hauptsehenswürdigkeiten der Insel.

Als sie mit der Entwicklung der Waffentechnik im sechszehnten Jahrhundert trotz aller Umbauten dann nicht mehr mithalten konnte, da ihre relativ dünnen Mauern dem Beschuss durch Kanonen nicht lange widerstanden hätten, wurden nacheinander Elisabeth Castle in der Bucht vor St. Helier und anschließend dann Fort Regent errichtet. Daneben gibt es quer über die Inseln aber auch noch viele weitere kleine Verteidigungsanlagen.

Auf dem Platz unterhalb der letzten großen von den Briten erbauten Festung hat der Marathon nun sein neues Zuhause gefunden. Schon am Vortag wurde der Zieleinlauf aufgebaut und einige Zelte sowie die überall bekannten Häuschen aufgestellt. Ein Lastwagen dient als Aufbewahrungsort für Sporttaschen. Und duschen kann man sich nach dem Lauf in einem Gebäude im nahegelegenen Hafen.

Nur die Parkplätze stellen ein Problem dar. Doch das tun sie in St. Helier ganz allgemein. Denn diese sind in den engen Straßen der Stadt echte Mangelware. Nicht nur Parkhäuser sondern auch öffentliche Parkplätze sind deshalb kostenpflichtig. Ein interessantes, aber für Touristen erst einmal nicht leicht zu verstehendes System, bei dem mittels überall zu kaufenden „Paycards“, die gleichzeitig auch als Parkscheibe dienen, abgerechnet wird.

Und den von zwei Säulen mit dem Marathonlogo markierten Startbereich kann man auch erst im letzten Moment freigeben. Der befindet sich nämlich auf der Straße, die man nicht zu lange sperren möchte. Erst kurz vor den für neun Uhr angesetzten Start der Einzelläufer rollen die Zeitmesser die allseits bekannte rote Matte aus. Da stehen die Läufer schon wartend in dem Aufstellbereich, aus dem sie zum Start geführt werden. Die Staffeln werden dann erst dreißig Minuten später, also um halb zehn auf die Strecke geschickt.

Eine kurze ruppige Steigung hinter dem Mühlental ist das steilste Stück der Strecke Oft sind die Häuser bis direkt an die Straße gebaut Sogar die Reiter warten, bis die Läufer vorbei sind

Die Angaben verstehen sich in Greenwich Time und nicht in Mitteleuropäischer Zeit, nach der nur wenige Kilometer entfernt in Frankreich die Uhren ticken. Doch ganz so falsch ist das gar nicht, eigentlich ist es sogar voll berechtigt. Denn die Kanalinseln befinden sich auf der Höhe von Manchester und Birmingham, also ein ganzes Stück westlich des Londoner Stadtteils, der eigentlich die Mitte der nach ihm benannten Zeitzone markiert und in dem übrigens auch der London Marathon gestartet wird. Über die Hälfte des Königreichs liegt deshalb sogar weiter im Osten als Jersey.

Die Ansage für den Marathon haben Profis übernommen. Gleich mehrere Reporter von BBC Jersey sind auf dem Platz unterwegs. Und zumindest im Radio gibt es auch eine Live-Übertragung. Selbst wenige Minuten vor dem Start wird Andrew Hennessy, der Sieger der letzten beiden Jahre noch interviewt. Auch im Reporterteam gibt es einen ziemlich hohen Frauenanteil. Der Jersey Marathon scheint zumindest außerhalb der Strecke fest in weiblicher Hand, denn in der Organisation sind sie ja ebenfalls dominierend.

So ist es dann auch Bankchefin Alison McFadyen, die von der Bühne neben dem Startbereich das letzte Wort hat. Erst einmal warnt sie davor nicht das Geräusch der riesigen Dampfuhr auf der anderen Seite der Straße mit dem Tuten der Gasfanfare zu verwechseln, mit der sie das Rennen freigeben wird. Doch dann wartet sie das Pfeifen der Uhr lieber gar nicht erst ab und schickt das Feld ein bis zwei Minuten zu früh auf die Reise.

Gestartet wird auf die Stadt zu. Und schon nach wenigen Schritten kommt man an der anglikanischen Pfarrkirche der Stadt mit ihren massigen Turm vorbei. Sie ist zudem die lokale Amtskirche für den Bischof von Winchester, der seit der Abspaltung der Church of England von Rom durch Heinrich VIII für die Kanalinseln zuständig ist. Zuvor gehörten sie trotz ihrer politischen Zugehörigkeit zur englischen Krone zum französischen Bistum Coutances.

Kurz darauf schlägt man am Gebäude der States of Jersey einen Bogen von hundertachtzig Grad, um anschließend in genau umgekehrter Richtung in die Fußgängerzone hinein zu laufen. Die „États de Jersey“, wie es neben der englischen Bezeichnung auch auf Französisch zu lesen ist, sollte man jedoch auf keinen Fall mit den deutschen „Staaten“ übersetzen. Das wäre in seiner Bedeutung deutlich zu eingeschränkt.

Eigentlich handelt es sich bei den „States“ nämlich um das Parlament der Insel. Das Wort lässt sich auf die mittelalterliche Ständeversammlung zurückführen. Denn „Stände“ heißt auf Latein „Status“. Mit der Zeit entwickelten sich die Worte und ihre Bedeutung im Deutschen recht weit auseinander. Im Englischen, wo es gerade noch einen kleinen Unterschied zwischen „Estates“ und „States“ gibt, liegen die Begriffe jedoch wesentlich dichter beieinander.

Und im Französischen gibt es nach wie vor keine Unterscheidung. So ist mit „États généraux“ dann auch in der französischen Geschichtsschreibung die Versammlung aller Stände gemeint. Auch das Parlament der Niederlande trägt zum Beispiel heute noch den offiziellen Namen „Staten-Generaal“. Und auf Jersey – und genauso im Bailiwick Guernsey – haben sich die älteren „States“ ebenfalls gehalten.

Nichts Besonderes ist die Fußgängerzone. Wie man überhaupt St. Helier, das den Namen des Nationalheiligen der Insel trägt, nicht unbedingt als wirklich schön bezeichnen muss. Als wilder, bunter Stilmix aus Gebäuden unterschiedlichster Epochen kommt es daher. Und selbst wenn es durchaus das eine oder andere gemütliche Plätzchen gibt, das zum Bleiben einlädt, zwängt sich nur eine Querstraße weiter der Verkehr durch die für diese Fahrzeugzahlen nicht wirklich ausgelegten Straßen und bringt sie gelegentlich in ziemliche Infarktnähe.

Kirchen gibt es viele auf Jersey, pro tausend Einwohner eine. John Jardine aus Jersey bei seinem Marathondebüt 1720 erbaut und immer in Hand einer Familien ist das Haus, darauf legt der Besitzer Wert David Goodwin (140) war eine Woche zuvor auch beim Anglesey Marathon dabei. Er möchte in den 100 Marathon Club, sein Vereinskamerad Warren D'Rozario (99) ist schon drin

Zumindest geschäftig ist die Stadt aber definitiv. Im Zentrum herrscht jedenfalls tagsüber stets ziemliches Leben. Und an Geld scheint es auch nicht zu mangeln. Denn angesichts der doch eher bescheidenen Bevölkerungszahlen von Gemeinde und Insel, trifft man in St. Helier nicht nur auf unverhältnismäßig viele Banken sondern auch auf eine überraschend große Dichte an Juwelieren, wie sich die Marathonis beim Durchlaufen von Queen und King Street auf die Schnelle überzeugen können.

Am Ende des Fußgängerbereichs war früher einmal auch St. Helier zu Ende. Charing Cross nennt man den Platz, an dem sich wie beim Londoner Namensvetter gleich ein halbes Dutzend Straßen und Gassen treffen. Ein wenig kleiner fällt das Ganze dann aber doch aus. Das dort aufgestellte Kreuz trägt, obwohl es zum Silberjubiläum der britischen Königin errichtet wurde, den französischen Namen „Croix de la Reine“.

Und noch ein zweites Monument steht auf dem Plätzchen. Eine Säule, auf der oben eine überlebensgroße Kröte sitzt. Ein bisschen Selbstironie ist dabei sicher mit im Spiel. Denn als Einwohner von Jersey wird man von den Menschen auf den anderen Inseln gerne einmal mit dem Spitznamen „Toad“ oder französisch „Crapaud“ bedacht. Tatsächlich gibt es im ganzen Archipel nur auf Jersey Kröten. Als diese Amphibien nämlich vor rund zehntausend Jahren in die Region Normandie einwanderten, waren alle anderen Kanalinseln durch den steigenden Meeresspiegel schon vom Festland abgetrennt.

Doch die Jerseymen revanchieren sich auch in gleicher Form gegenüber ihren Nachbarn. Denn die Bewohner von Guernsey werden von ihnen genauso wenig schmeichelhaft „Donkeys“ gerufen. Angeblich – so die Jersey-Version – wegen deren unglaublicher Sturheit, doch in Wahrheit wohl eher, weil wegen der steilen Straßen im dortigen Hafen St. Peter Port alle Waren gleich auf Esel umgeladen wurden. Beide haben allerdings, wie nicht nur das Krötendenkmal zeigt, die scherzhaften Bezeichnungen längst akzeptiert.

Eine Rechts-Links-Kurvenkombination führt die Marathonis noch an der blumengeschmückten Parish Hall von St. Helier vorbei. Eine „Salle Paroissiale” – wie fast immer gibt es die Benennung auch in einer französischen Variante – ist keineswegs eine kirchliche Einrichtung, auch wenn man das Wort „Parish“ im allgemeinen eher mit Kirchengemeinde übersetzen würde, sondern das Rathaus.

Wie bei vielen anderen Dingen haben sich aber auch hier auf Jersey traditionelle noch aus dem Mittelalter stammende Begriffe und Strukturen erhalten. Denn seit über tausend Jahren ist die Insel in zwölf Parishes unterteilt, die sowohl kirchliche als auch politische Bedeutung hatten und noch immer haben. Fast alle sind nach Heiligen benannt. Neben St. Helier gibt es da noch St. Brélade, St. Clement, St. John, St. Lawrence, St. Martin, St. Mary, St. Ouen, St. Peter und St. Saviour.

Auch Trinity, also Dreifaltigkeit hat einen ziemlich christlichen Namen. Nur Grouville scheint ein wenig aus der Reihe zu tanzen. Ursprünglich hieß die Gemeinde allerdings einmal St. Martin de Grouville und wurde später zur Vereinfachung und besseren Unterscheidung vom anderen St. Martin – dem früheren St. Martin le Vieux – verkürzt.

Das blumengeschmückte Rathaus von St. Peter kurz hinter der Halbzeitmarke Auch in St. Peter warten zahlreiche Helfer auf die Läufer St. Peter verlässt man mit der Kirche im Rücken

Mit der wirklichen Besiedlung haben deren Grenzen inzwischen nur noch wenig zu tun. St. Helier ist längst in die benachbarten Parishes hinein gewachsen. Den Übergang bemerkt man gar nicht mehr. In weniger dicht besiedelten Gegenden der Inseln entsprechen die Gemeinden dagegen noch dem ursprünglichen Kirchspiel, das mehrere Dörfchen und Einzelhöfe, abdeckt.

Doch selbst das kleine Gorey mit seiner Burg ist politisch zwischen den Parishes Grouville und St. Martin geteilt. Auf den Wechsel deutet nur ein kleiner Grenzstein auf dem Gehweg hin. Und die Tatsache, dass auf einmal ein anderes Wappen die Straßenschilder ziert. Denn nahezu alle von ihnen tragen inselweit das Zeichen der Gemeinde, in der man sich gerade befindet.

Auch die Bezeichnung des Bürgermeisters ist im ersten Moment verwirrend. Denn er wird „Constable“ genannt. Ein Wort, das man eher mit einem britischen Polizisten verbindet. Diese Bezeichnung ist natürlich ebenfalls althergebracht und geht darauf zurück, dass früher der Gemeindechef eben auch für die Aufrecherhaltung der Ordnung zuständig war. Die auf Französisch „Connétable“ und auf Jèrriais „Connêtabl'ye“ heißenden Ortsvorsteher sind durch ihr Ehrenamt zudem gleichzeitig Mitglied in den States.

Alle Parishes haben übrigens zumindest einen kleinen Zugang zum Meer. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass ein mittelalterliches Recht Tätern erlaubte, sich ihrer Strafe durch die Flucht ins Exil zu entziehen. Acht Tage lang durften sie sich vor der Verfolgung in die Kirche retten. Spätestens nach Ablauf dieser Frist mussten sie entweder vor Gericht erscheinen oder die Insel für immer verlassen. Solange sie dabei auf dem mit „Perquage“ bezeichnete Pfad, der von der jeweilige Kirche zur Küste führt, blieben, durften sie vom Connétable nicht verhaftet werden.

Nur wenig später, nach gerade einmal einer Meile haben die Marathonis auch schon den eigentlichen Stadtkern hinter sich gelassen und auf die entlang der weitläufigen Bucht führende Uferstraße eingeschwenkt. Doch lange bleibt man nicht direkt am Wasser, denn als die Straße sich in zwei ziemlich parallel verlaufende Strecken teilt, wählt der Marathon die rechte, obere Route, von der aus bald eine Häuserzeile den Blick aufs Meer verstellt.

First Tower wird dieser Ortsteil von St. Helier an der Grenze zum Parish St. Lawrence genannt. Sein Namensgeber ist einer jener Verteidigungstürme, die rund um die Insel errichtet wurden, um einer drohenden französischen Invasion begegnen zu können. Als Martello Towers werden solche Bauwerke im englischen Sprachraum allgemein bezeichnet. Benannt nach dem in der Form vergleichbaren Torra di Mortella in Korsika, an dem sich die Rotröcke bei einem Landungsversuch einmal fast die Zähne ausgebissen hätten.

Nachdem man den Wert solcher Defensivstellungen dabei erkannt hatte, wurde die Methode überall im Empire an besonders bedrohten Stellen kopiert. Auf den Kanalinseln hatte man jedoch schon einige Zeit früher Verteidigungstürme entlang der Küsten verteilt. Auch der First Tower, der zwar nicht der erste auf Jersey, aber der erste in dieser Bucht war, wurde bereits vorher gebaut, ist also strenggenommen kein Martello Tower. Jedenfalls kann man bei einer Fahrt rund um die Insel zwei klar zu unterscheidende Typen dieser Türme entdecken. Von einst über dreißig sind immerhin noch volle zwei Dutzend erhalten.

Noch forciert wurde die Befestigung der Inseln nachdem eine, allerdings ziemlich halbherzige französische Landung 1781 in der sogenannten Schlacht von Jersey gescheitert war. Angesichts von jeweils etwa tausend beteiligten Soldaten auf beiden Seiten war es wohl aber doch eher nur ein Scharmützel, das da in den Straßen von St. Helier ausgefochten wurde.

Auf der alten, zum Radweg umgebauten Bahntrasse am Golfplatz vorbei ... ... oder durch schattigen Wald

Zuletzt hatten die Franzosen über dreihundert Jahre zuvor während der Rosenkriege einen – damals etwas erfolgreicheren – Eroberungsversuch unternommen. Erst nach sieben Jahren konnten die Kanalinseln damals für die englische Krone zurück gewonnen werden. Im Anschluss wurde es allerdings relativ ruhig. Nicht einmal der französische König Ludwig XIV, der doch sonst an allen Grenzen seines Reiches Eroberungsfeldzüge führte, unternahm etwas gegen britische Besitzungen vor direkt seiner Nase.

Erst als im achtzehnten Jahrhundert die Spannungen zwischen den beiden Großmächten ständig zunahmen und man mehrfach in den inzwischen auf mehrere Kontinente ausgedehnten Kolonialreichen Krieg gegeneinander führte, kam auch Jersey wieder in den Blickpunkt. Doch die Abschreckung funktionierte. Nach dem Scheitern der Invasion 1781 blieben die Îles Normandes selbst in den zwei Jahrzehnten unbehelligt, in denen das britische Königreich und das Frankreich Napoleons im Dauerkonflikt lagen.

So gilt das Gefecht von Jersey dann nicht nur als die letzte Schlacht auf den Kanalinseln sondern als die letzte offene kriegerische Auseinandersetzung auf den gesamten „British Islands“. Von diesem politischen Begriff zu unterscheiden – etwas, das im Deutschen aufgrund fehlender unterschiedlicher Vokabeln eigentlich kaum möglich erscheint – ist der geographische der „British Isles“. Immer wenn man glaubt, man hätte ein wenig von der komplizierten Situation verstanden und das Durcheinander geordnet, gibt es eben wieder etwas Neues, das die Verwirrung nur noch weiter steigert.

Denn während Jersey und Guernsey zwar British Islands aber keine Britisch Isles sind, rechnen zumindest die Briten Irland zu den British Isles – und zwar nicht nur den zu ihrem Königreich gehörenden Norden – dazu. Allerdings rechnet man die Republik Irland selbstverständlich nicht zu den British Islands. Die Isle of Man zählt zu beiden Inselarten dazu, aber trotzdem nicht zum Königreich.

Und die Iren meiden den Begriff „British Islands“, wo sie nur können. Schon lange versucht man Formulierungen aus dem Weg zu gehen, die irgendeine Verbindung zum großen Nachbarn herstellen könnten. Und spätestens, seitdem eine Geschichte die Runde machte, dass Michael Gorbatschow einst der Meinung war, Queen Elizabeth sei das irische Staatsoberhaupt, weil es doch eine „Britische Insel“ sei, ist die Bezeichnungen ziemlich verpönt. Nicht nur amerikanische Politiker machen in solchen Dingen gelegentlich Fehler.

Noch immer gibt es allerdings jedes Jahr auf Jersey – und auf Guernsey ebenfalls – eine Schlacht. Doch „Battle of Flowers“ ist trotz des kriegerischen Namens eigentlich ein großes Volksfest, das als Höhepunkt einen Umzug mit blumengeschmückten Motivwagen hat. Die seltsame Bezeichnung stammt noch aus dem früheren – inzwischen aber nicht mehr üblichen – Brauch, die Dekoration nach der Parade abzureißen und als Munition für ein Wurfgefecht mit den Zuschauern zu nutzen.

Rechts ab geht es in eine Querstraße. Und fast schlagartig verändert sich das Bild um die Läufer herum. Ein enges Tal hat sie aufgenommen, durch das sich die Straße in langen Bogen windet. Baumbestanden sind die Hänge am Rand. Nur ab und zu öffnet sich der Blick, wenn wieder einmal einer der Teiche umlaufen wird, zu dem man den das Tal durchfließenden Bach aufgestaut hat.

Das Gemeindehaus in St. Aubin war früher ein Bahnhof Der Wachturm stammt aus der Zeit der deutsche Besatzung Die Vogelscheuche, die sich mehr Grips wünscht und der Blechmann, der so gerne ein Herz hätte, aus dem Zauberer von Oz ... Dorothy hab ich nicht erwischt und der mutlose Löwe hat mich unterwegs überholt

In der für Jersey nicht ungewöhnlichen Mischung aus englischen, französischen und gelegentlich auch einmal nordischen Bezeichnungen geht es auf dem Chemin des Moulins durchs Waterworks Valley. Zumindest die Namen der alten Straßen im eher ländlichen Teil der Insel sind alle in Französisch oder Jèrriais. Im städtischen St. Helier sind neugebaute Straßen dann aber doch meist auf Englisch benannt.

Die eher auf die Traditionen bedachten und auf Jersey geborenen Bewohner versuchen möglichst die alten Bezeichnungen zu erhalten. Vielen der Zugezogenen tun sich dagegen schwer damit. Meist werden die französischen Worte inzwischen mit englischer Betonung ausgesprochen. So wird aus einer Rue dann in der Regel auch eine „Hruh“. Und für so manches gibt es längst zwei Begriffe.

Mäßig aber stetig bergan führt das kurvige Sträßchen. Grob gesprochen besteht Jersey aus einer leicht von Nord nach Süd gekippten Ebene, die an ihrem höchsten Punkt immerhin 143 Meter erreicht. Fast könnte man meinen, der Grund dafür wäre die ungleiche Bevölkerungsverteilung. Denn während sich an der nahezu durchgängig bebauten Südküste die Menschen drängen, gibt es im Norden fast nur kleine Ortschaften. Einige Bäche wie der, dem man gerade folgt, haben sich dann ihren Weg durch diese Hochfläche gegraben.

Nach drei Meilen kündigen Busse am Straßenrand und Zelte auf einer Wiese die erste Wechselzone für die Staffeln an. Auch wenn ihre Startläufer noch gar nicht unterwegs sind, warten die meisten derjenigen, die an Position zwei ins Rennen gehen sollen, schon auf ihren Einsatz. Ein Spalier von Beifallsspendern empfängt – durchaus beabsichtigt – an diesen Punkten die Marathonis, denen bei ihrem Weg über die Insel sonst eher wenig Beachtung zu Teil wird.

Schon ein Blick auf die Gesamteinwohnerzahl Jerseys schließt Zuschauermassen an der Strecke aus. Natürlich sehen sich interessierte Anwohner das Ganze an. Und einige Begleiter entdeckt man unterwegs gleich mehrfach. Realistisch betrachtet bewegt sich das aber maximal im niedrigen vierstelligen Bereich. In völlig utopische Höhen getriebene Werte, mit denen andere Veranstalter bei der Suche nach Aufmerksamkeit um sich werfen, bekommt man auf Jersey jedenfalls nicht zu hören.

Vielleicht sind es wirklich die fehlenden Zuschauer, die dafür sorgen, dass erstaunlich wenige Läufer in Verkleidung unterwegs sind. Da driftet zum Beispiel der London Marathon im Mittel- und Hinterfeld doch deutlich mehr in Richtung Fastnachtsumzug ab. Auf Jersey ist der Lauf jedoch tatsächlich noch eher ein sportliches Ereignis als eine Freiluftparty.

Ein Grüppchen hat sich allerdings dennoch in Schale geworfen und tritt in Kostümen an, sogar in aufeinander abgestimmten. Das komplette Ensemble aus dem im englischsprachigen Raum als Klassiker geltenden Kinderbuch über den Zauberer von Oz steht genau siebzig Jahre, nachdem der Film mit Judy Garland in die Kinos kam, in Jersey am Start.

Neben dem Mädchen Dorothy sind da auch Löwe, Blechmann und Vogelscheuche. Dem Löwen fehlt es in der Geschichte an Mut, wenn es darauf ankommt. Der Mann aus Metall hätte so gerne ein richtiges Herz. Und der Krähenschreck, wie man das englische „Scarecrow“ ungefähr übersetzen könnte, wünscht sich halt ein bisschen mehr Grips. Dass sie es alle am Ende bekommen, zeichnet solche Märchen fern der Realität eben aus.

Auch die Rollis dürfen sich auf Jersey auf dem letzten Teil der Strecke sportlich betätigen Die letzten Meilen führen rund um die Bucht von St. Aubin

Der Schatten auf dem Mühlenweg dürfte den Kostümierten selbst in dieser frühen Phase des Rennens schon recht willkommen sein. Denn von einem kühlen Herbsttag kann man keinesfalls reden. Statt in dicken Jacken wie im völlig verregneten Vorjahr stehen die Helfer bei Sonne und zwanzig Grad meist im T-Shirt an den ihnen zugeteilten Posten. Irgendwie erstaunlich dass doch etliche Läufer mit langer Bekleidung unterwegs sind.

Auch Pascal Van Oosten trägt lange Hose und T-Shirt. Dabei dürfte er doch ganz andere Temperaturen gewohnt sein. Schließlich hat er sich schon fünfzehnmal das Tough Guy Rennen angetan. Zweimal im Jahr – einmal in der Sommer- und einmal in der Wintervariante – schindet er sich über den Parcours, gegen den die gerade ziemlich in Mode gekommenen deutschen Nachahmer wie harmlose Kinderspielplätze wirken.

Mit Marathonerfahrung kann er dagegen kaum glänzen. Bisher hat er sich eher mit kürzeren Strecken und neuerdings auch mit Triathlon beschäftigt, was ihm bei seiner doch eher kräftigen Statur auch besser liegen dürfte. Erst einmal im vergangenen Herbst ist er in Amsterdam über 42,2 Kilometer unterwegs gewesen. Hauptsächlich weil der Termin gerade in seine Planung passt, läuft er nun auf Jersey 26,2 Meilen. Denn selbstverständlich ist auf den Kanalinseln alles in dem imperialen Längenmaßen ausgeschildert.

Ob es schlussendlich an der langen Kleidung gelegen hat, mit der jemand, der jeden Winter in eiskaltem Wasser unter einem Steg durchtaucht, vielleicht unter solchen Bedingungen nicht unbedingt antreten müsste, sei dahin gestellt. Er wird jedenfalls beim Versuch seine Bestzeit von 3:47 zu attackieren auf den letzten Meilen ziemlich eingehen und sich schließlich mit 3:55:17 ins Ziel quälen.

Mit dem Ende der Kurven wird auch das Gelände offener. Nicht nur auf der Hochebene ist man damit langsam angekommen. Nur einen Steinwurf entfernt liegt das Dörfchen, das allgemein als der Mittelpunkt der Insel angesehen wird. Seinen Namen bringt man aber eigentlich eher mit der Schweiz, genauer gesagt mit dem Wallis in Verbindung. Es heißt nämlich Sion.

Eigentlich ist es gar nicht so schwer, sich auf die Angabe eines Zentrums festzulegen. Denn in seiner äußeren Form ist Jersey beinahe ein Rechteck mit klar definierten Eckpunkten. Bei etwas Phantasie erinnert es irgendwie sogar an einen Keks, aus dem man an einigen Stellen in unterschiedlicher Tiefe ein paar Buchten heraus gebissen hat.

Doch nicht nach rechts nach Sion wendet sich der Marathonkurs, er schwenkt nach links in Richtung Westen. Wer ganz genau aufpasst, kann dabei einen schnellen Blick auf das Hamptonne Museum werfen, wo man sich in einem alten normannischen Gutshof das ländliche Leben auf den Kanalinseln in vergangenen Jahrhunderten näher bringen lassen kann. Allerdings ist Hamptonne nicht das einzige Gehöft, an dem man in der Folge vorbei kommen wird.

Ein bisschen hat man schon den Eindruck innerhalb weniger Kilometer in eine völlig andere Welt geraten zu sein. Nicht nur dass man aus dem dichtbebauten, städtischen St. Helier plötzlich in eine offene, nur von einzelnen Häusergruppen unterbrochene Landschaft gelangt ist. Waren viele Straßenzüge in ihrem Aussehen so typisch britisch, dass man stets auch das Gefühl haben konnte, sich in England zu befinden, wirken die Gebäude auf einmal doch eher französisch.

Aus Feldsteinen direkt bis an die schmalen Straßen heran gebaut, die sich zwischen ihnen manchmal regelrecht hindurch quetschen müssen, zum Teil hinter mannshohen Mauern verborgen, entsprechen sie genau dem Baustil, den man auch jenseits der schmalen Wasserstraße, die Jersey vom Festland trennt, in der Normandie finden kann.

Auch in St. Helier gibt es Klippen, allerdings künstliche La Frégate heißt das Café an der Waterfront Gelb sind die Telefonzellen auf Jersey, genau wie die Startnummern der Staffeln

Ein wenig unpassend ist dabei allerdings der Union Jack, der ab und zu an einem Fahnenmast flattert. Streng genommen hat er auf den Kanalinseln eigentlich gar nichts verloren. Die beiden Bailiwicks gehören schließlich überhaupt nicht zum Königreich und haben ihre eigenen Flaggen. Auch diese sieht man gelegentlich, doch eben kaum häufiger. Jedenfalls gibt es im United Kingdom selbst einige Regionen, in denen man die Unionsfahne seltener zu Gesicht bekommt.

Noch einmal geht es bergan. Und zwar wesentlich ruppiger als im Waterworks Valley. Die Steigung ist zwar nicht allzu lange und auch im gesamten Rennverlauf die steilste Passage, doch David Goodwin aus dem mittelenglischen Wolverhampton fühlt sich trotzdem an den Marathon von Anglesey erinnert. An dem hat er zusammen mit seinem Vereinskameraden Paul Richards, der auf Jersey diesmal ein paar Meter weiter vorne läuft, eine Woche zuvor ebenfalls teilgenommen.

Richtige Marathonsammler seien sie aber noch nicht, wiegelt er ab. Er habe gerade einmal fünfundfünfzig Marathons in den Beinen, sein Kumpel Paul ungefähr genauso viele. Aber als Ziel hätten beide natürlich schon die Aufnahme in den britischen 100 Marathon Club. Eine Woche später wollen die beiden beim Loch Ness Marathon diesem Ziel ein weiteres Stück näher kommen.

Das hat Warren D’Rozario, der dritte Mitstreiter vom Sandwell Valley RC, der auf Jersey dabei ist, längst erreicht. Seit fünf Jahren darf er das Trikot der exklusiven Vereinigung tragen, der man nur mit den entsprechenden Belegen über hundert absolvierte Rennen überhaupt beitreten kann.

Im Gegensatz zu David Goodwin, der zumindest irgendwann einmal am Berlin Marathon teilnehmen will, war er auch schon einige Male in Deutschland aktiv. So trägt er zum Beispiel nach dem Rennen stolz ein T-Shirt vom Rennsteiglauf spazieren, den er als tolle Veranstaltung lobt. Dumm sei nur, dass es oft so schwer sei, an englische Informationen zu kommen. Deutsche Freunde würden ihm bei den Anmeldungen immer helfen. Dass im umgekehrten Fall fremdsprachliche Angaben bei britischen Läufen eher noch seltener sind, lässt er aber gelten.

Der schmale Feldweg, der allerdings dennoch eine ganz normale öffentliche Straße ist, mündet auf eine der sternförmig auf St. Helier zuführenden Hauptrouten. Von einem „C“ wechselt man zu einem „A“, denn die Straßen auf Jersey sind mit den ersten drei Buchstaben des Alphabets klassifiziert. Allerdings gingen auch die mit „A“ gekennzeichneten hierzulande nie und nimmer als Bundesstraßen durch.

Einen Mittelstreifen haben sie dann zwar, doch an vielen Stellen muss man sich schon fragen, wie zwei sich begegnende Busse oder Lastwagen aneinander vorbei kommen können. Und in manche niedriger eingeordnete Sträßchen sollten diese besser erst gar nicht hinein fahren. Die könnten nämlich auch ohne Gegenverkehr schon fast zu eng werden.

Jedenfalls sind auf den Kanalinseln angesichts dieser Voraussetzungen eher Kleinwagen gefragt. Nur selten sieht man einmal jene Nobelkarossen, die anderswo als Statussymbol dienen. Benzin ist zwar billig, der Liter kostet weniger als einen Euro. Doch was will man mit einem dicken Auto auf einer Insel, die man selbst bei dichtestem Verkehr in weniger als einer halben Stunde durchquert hat.

Ein Tempolimit von vierzig Meilen – also ungefähr fünfundsechzig Kilometern – pro Stunde macht die hochmotorisierten Fahrzeuge noch uninteressanter. Doch selbst diese Geschwindigkeit kann man eher selten – und dann immer nur kurzzeitig – fahren. Staus sind zumindest im Raum St. Helier absolut nichts Besonderes. Auch das recht gut ausgebaute Bussystem bringt nur bedingt Entlastung. Jersey hat selbst für Touristen spürbare Verkehrsprobleme.

Nicht ganz so hoch wie in anderen Finanzzentren ist die Skyline Rund um das neue Hafenhotel führt die Strecke

Diese Besucher sind auf den Straßen deutlich zu erkennen. Denn Mietwagen fahren dort, wo hierzulande die Europasterne mit dem „D“ zu finden sind, auf rotem Grund ein kaum zu übersehendes, großes „H“ für „hired“ durch die Gegend. So sind die Einheimischen vorgewarnt, wenn wieder einmal ein Gast vom Kontinent nicht sofort mit den engen Straßen und dem Linksverkehr auf den Inseln zurecht kommt.

Ansonsten wird dort auf Jersey zumeist das Inselwappen mit dem Nationalitätskennzeichen „GBJ“ angebracht. Auch da haben die Kanalinseln natürlich eigene. Guernsey ist ein „GBG“ zugeordnet. Doch das eigentlich zum Bailiwick gehörende Alderney darf wieder eine Sonderrolle einnehmen. Die dortigen Fahrzeuge sind nämlich mit „GBA“ unterwegs. Der Rest der Autonummer auf Jersey ist dann wenig kreativ. Außer einem „J“ mit einer Zahlenkombination gibt es keine andere Möglichkeit. Guernsey beschränkt sich sogar nur auf Ziffern.

Erstmals kommen die Marathonis auf der A10 wirklich mit Verkehr in Berührung. Die ersten Kilometer waren entweder völlig gesperrt oder aber als Nebenstrecken so wenig befahren, dass keinerlei Störung der Läufer vorlag. Eine frühzeitige Beschilderung der Strecke, die vor möglichen Behinderungen durch das Rennen warnte, sorgt zudem dafür, dass Ortskundige auf andere Routen ausweichen können.

Nun halten Helfer auch einmal ein paar Fahrzeuge an, damit die Läufer gefahrlos passieren können. Doch ist das im Rennverlauf eher die Ausnahme. Rund die Hälfte der Strecke ist auf Rad- und Fußwegen komplett autofrei, der Rest zu großen Teilen auf ruhigen Seitenstraßen abgesteckt. Die Begegnungen halten sich also für beide Seiten in Grenzen.

Aber nicht nur die Autofahrer, auch ein paar Reiter, die auf der Straße unterwegs sind, stellen sich anstandslos in die Warteschlange. Pferde sind nicht wirklich ungewöhnlich auf der Insel. Man hat in bester britischer Tradition sogar eine Galopprennbahn und einen Race Club, auf der rund zehnmal pro Jahr Rennen ausgetragen werden. Mit den legendären Veranstaltungen von Ascot sind diese vielleicht doch nicht ganz vergleichbar. Die Lage des Platzes hoch über dem Meer direkt an der Nordwestspitze der Insel ist allerdings schon etwas Besonderes.

Nur kurz bleibt man auf der Hauptstraße, dann zeigt ein großer schwarzer Pfeil auf einem noch größeren neongelben Schild wieder nach links in eine kleine, schattige Allee. Die dank ihrer Farbgestaltung schon von weitem sichtbaren Richtungstafeln, die an wirklich jeder Kreuzung angebracht sind, lassen ein Verlaufen eigentlich kaum zu. Und an besonders wichtigen Stellen sind zudem auch noch Ordner mit genauso leuchtend gelben Westen postiert.

An Helfern scheint es eigentlich nicht zu mangeln. Nirgendwo gibt es Engpässe oder Probleme. Doch nur eine Woche vor dem Rennen wurde von den Veranstaltern eine e-Mail in die Breite gestreut, dass noch etliche zusätzliche „Marshals“ benötigt würden. Insbesondere bei den Staffeln hakt man dabei fast schon flehentlich nach. Der Lauf am Sonntag könne sonst nicht stattfinden. Es scheint gefruchtet zu haben. Die Organisation funktioniert wie am Schnürchen.

Vom nur kurz berührten Parish St. John führt der Kurs die Marathonis nun ziemlich geradeaus in die Nachbargemeinde St. Mary. Auf der Route de Sainte-Marie – wieder einmal eine für Jersey so typische Doppelbenennung in Französisch und Englisch – gelangt man mitten nach St. Mary’s Village, das allerdings aus kaum mehr als ein paar Häusergruppen rund um die Kirche besteht. Doch ist die Gemeinde in Bezug auf die Bevölkerung auch mit Abstand die kleinste der Insel.

Rund um das neue Hafenhotel Entlang der Uferpromenade Die Festung Elizabeth Castle kann man nur bei Ebbe zu Fuß erreichen

An der Parish Church kommen die Marathonis direkt vorbei. Und wenig später können sie eine Windmühle am Streckenrand bewundern. Die ist zwar nicht mehr in Betrieb sondern zu einem Restaurant umgebaut, aber perfekt restauriert. Über mangelnde Abwechslung und Langeweile kann man sich beim Jersey Marathon nun wirklich nicht beschweren.

Bei Meile neun harren die an Position drei eingeplanten Staffelläufer der Dinge, die da bald auf sie zukommen werden. Sie haben einen eher längeren Part vor sich, denn die Abschnitte sind nicht gleichlang sondern aufgrund logistischer Überlegungen festgelegt. Distanzen zwischen drei und sieben Meilen gilt es unter den Mannschaften zu verteilen. Die Startläufer sind dabei am schnellsten fertig.

Zwar gibt es auch Bustransporte zu den Wechselzonen. Doch einige Teams übergeben einfach ein Fahrrad, mit dem der abgelöste Läufer wieder zum nicht wirklich weit entfernten Ziel zurück radeln kann. Dem einen oder anderen Radler mit einer gelben Staffelnummer auf dem Bauch kann man unterwegs schon begegnen. Ansonsten sind Radbegleiter allerdings ausdrücklich untersagt. Auch das Verbot von Kopfhörern wird in den Informationen zum Rennen noch einmal erwähnt.

Dennoch können es einige nicht lassen und haben einen Knopf im Ohr. Und Radler sieht man ebenfalls etliche. Doch haben die nicht unbedingt etwas mit dem Rennen zu tun, selbst wenn viele als Zuschauer mehrere Punkte anfahren. Aber Radfahrer sind auf Jersey ohnehin keine Seltenheit. Und man gibt sich auch richtig Mühe mit ihnen. Überall hat man Cycle Routes für sie ausgeschildert. Je nachdem, nach was man sucht, finden sowohl Anhänger der sportlichen als auch der Genussvariante geeignete Strecken darunter.

Der längste Weg führt einmal rund um die Insel. Stattliche vierundsechzig Kilometer kann man auf ihm bewältigen. Beim Round-the-Island Cycle Ride ging das zwei Wochen vor dem Marathon auch bei einer offiziellen Veranstaltung. Insgesamt sind Radwege in einer dreistelligen Kilometerzahl markiert. Dazu kommen noch etliche der sogenannten Green Lanes, für die man sich auf Jersey ein eigenes Verkehrsschild ausgedacht hat. Auf diesen schmalen Sträßchen gilt für Autofahrer ein Tempolimit von fünfzehn Meilen. Radfahrer, Fußgänger und Reiter sollen auf ihnen Vorrang haben.

Nach der Wechselzone biegen auch die Läufer auf einen solchen Weg ein. In nicht allzu weiter Ferne kann man das Meer erkennen. Bis zur Steilküste, die nur von wenigen kleinen sandigen Buchten unterbrochen, die gesamte Nordseite der Insel einnimmt, wäre es nicht einmal mehr ein Kilometer. Oberhalb von ihr verläuft praktisch auf der gesamten Länge ein Wanderweg. Hundert Meter über den an die Felsen krachenden Wellen bietet er weite Ausblicke. Sowohl das Festland wie auch alle anderen Kanalinseln kann man bei guten Bedingungen von dort erkennen.

Bis ganz dorthin führt der Kurs die Marathonis dann allerdings doch nicht. Ein Stück später dreht ihr Kurs wieder in westliche Richtung ab. Wer den Klippenpfad an der Nordküste belaufen möchte, kann das jedoch im Rahmen der Great North Coast Charity Challenge tun. Zwanzig Meilen führt die Wanderung von der Mole in St Catherine im Nordosten zur Burgruine Grosnez an der Nordwestecke der Insel. Laut Ausschreibung kann jeder teilnehmen, der die Strecke zwischen drei und zehn Stunden bewältigt. Doch ist die Untergrenze auf diesem Pfad wohl wirklich nur machbar, wenn man ihn im Laufschritt in Angriff nimmt.

Wie so vieles auf den britischen Inseln ist auch diese Wanderung eine Wohltätigkeitsveranstaltung. Mit der Inselumrundung auf dem Rad verhält es sich ähnlich. Und sogar einen Marsch um die komplette Insel zugunsten von Hilfsorganisationen gibt es. „Charity“ gehört im englischen Sprachraum – und insbesondere im Königreich selbst – zu großen Sportereignissen einfach dazu. Neben Teilnehmerzahlen und gegebenenfalls den Siegern ist deshalb auch die Spendensumme fester Bestandteil von Pressemeldungen.

Kilometerlang läuft man entlang der Uferpromenade

Beim Jersey Marathon gibt es deshalb ebenfalls einige Projekte, die man als förderungswürdig hervorhebt, selbst wenn natürlich auch finanzielle Zuwendungen an andere als die ausgewählten Institutionen willkommen sind. Zu den von der Standard Chartered Bank unterstützten Initiativen gehört eine zur Bekämpfung von zur Erblindung führenden Krankheiten. Henry Wanyoike, der blinde Marathonläufer aus Kenia ist deshalb nicht nur zufällig Ehrengast der Veranstaltung.

Er gehört fast schon zum Inventar, war bisher jedes Mal zum Marathon auf Jersey und bei der Premiere zusammen mit seinem Begleiter Joseph Kibunja sogar Zweiter. Auch diesmal läuft er die Strecke. Allerdings in Begleitung einer lokalen Staffel. Der Vater eines schwer verunglückten Mädchens, mit dem sich Wanyoike nach ihrem Unfall im Vorjahr lange unterhalten hatte und das später den Verletzungen erlag, hatte ausdrücklich darum gebeten.

So darf Joseph Kibunja, der im Normalfall mit dem mehrfachen Paralympics-Sieger ein eingespieltes Team bildet, einmal auf eigene Rechnung laufen. Fast selbstverständlich bei einem Kenianer gehört er damit auch zum Favoritenkreis. Und zusammen mit Andrew Hennessy, dem zweifachen Gewinner des Jersey Marathons, hat er dann auch zur Mitte des Rennens schon klar die Führung übernommen.

Von St. Ouen führt die Strecke ins zur Gemeinde gehörende, nur wenige Häuser zählende Dörfchen Léoville. Diese sind allerdings fast alle im typisch normannischen Stil errichtet. Mit ihren dicken Granitmauern und dem Blumenschmuck ergeben sie ein ziemlich harmonisches, ja regelrecht idyllisches Bild. „Im Jahr 1720 gebaut und seither immer in Familienbesitz“, verkündet stolz ein dem Marathon zusehender Eigentümer, als man sein Haus bewundert.

Richtig ländlich ist die Gegend. Wiesen und Ackerflächen dominieren das Blickfeld. Auf einigen von ihnen wird die Jersey Royal angebaut. Eine als absolute Delikatesse – runde fünf Euro muss man für ein einziges Kilo einkalkulieren – geltende Frühkartoffel, die nirgendwo sonst im Königreich gedeiht. Nur auf dem vom Golfstrom erwärmten und durch die hohen Klippen vor kalten Nordwinden geschützten Jersey wächst sie und wird dort noch immer in Handarbeit geerntet. Doch auch sonst sorgt das milde Klima der Insel für gutes Wachstum aller möglichen Pflanzen. An einigen Stellen können sich sogar Palmen halten.

 Im Zickzack läuft man mal über kleine, mal über noch kleinere Straßen dem nördlichsten Punkt der Strecke entgegen. Ein regelrechtes Labyrinth von ihnen erstreckt sich über die gesamte Insel. Über fünfhundert Kilometer lang ist das Straßennetz des kleinen Jersey. Viele dürfen nur in einer Richtung befahren werden, was das Herausfinden aus diesem Irrgarten zusätzlich erschwert, wenn man einmal die Orientierung verloren hat. Selbst Einheimischen geht es manchmal nicht anders.

Eine Zeit lang wird auch John Jardine, der auf Jersey zu Hause ist und sich deshalb eigentlich auskennen müsste, durch die ständigen Richtungswechsel ziemlich verwirrt. Irgendwie ist er überhaupt nicht sicher, wo er sich denn gerade befindet. Erst als der Kurs erneut auf eine der quer über das Eiland hinweg führenden Hauptstrecken einschwenkt, wird es ihm wieder klar. Selbst dass man eigentlich nur einen großen Bogen geschlagen hat und in St. Ouen nur zwei- bis dreihundert Meter von einer Stelle entfernt ist, die man einige Kilometer zuvor passiert hatte, bemerkt er erst in diesem Moment.

John, der übrigens St. Helier nicht unbedingt interessant, den Rest der Insel aber durchaus schön findet und deshalb gerne auf Jersey lebt, läuft seinen ersten Marathon. Und da er das in seiner Heimat tut und immer wieder einmal ein Bekannter an der Strecke steht, bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als ihn auch zu beenden, wie er halb im Spaß und halb im Ernst bemerkt.

An der Uferpromenade

Bisher ist er im Wettkampf nicht über Halbmarathon hinaus gekommen. Das Angebot auf den Kanalinseln ist in dieser Hinsicht eben doch recht begrenzt. Selbst wenn es für eine doch eher kleine Insel eine überraschend hohe Zahl an Rennen gibt. Neben dem Halbmarathon im November, der mit seiner Streckenführung im Osten einen vom Marathon nicht berührten Teil des Bailiwicks abdeckt, gibt es im Jahresverlauf noch einige weitere Veranstaltungen über kürzere Distanzen.

Und auch im Training hat John Jardine nie mehr als sechzehn Meilen, also knappe fünfundzwanzig Kilometer, zurückgelegt. Eigentlich zu wenig, wie er selbstkritisch anmerkt. Es reicht zum Ankommen, auch wenn er auf der zweiten Hälfte zwanzig Minuten verlieren wird. Nach 4:08:51 kann er seine wohlverdiente Medaille in Empfang nehmen.

Dass er nicht unbedingt Erfahrung mit langen Strecken hat, kann man schon daran erkennen, dass er anfangs auch bei strahlender Sonne und Temperaturen in der Nähe von zwanzig Grad mit einer Laufweste unterwegs ist. Aber eigentlich ist er ja auch Boxer, was dann auch seine doch recht stämmige und wenig läufertypische Statur erklärt. Und die schwitzen ja – wie man spätestens in den Rocky-Filmen sehen konnte – angeblich ganz gerne.

Gleich zwei Boxclubs gäbe es auf der Insel, erzählt Jardine. Aber der meistverbreitete Sport wäre trotzdem der Fußball. In rund zwanzig Vereinen wird nämlich dem Leder hinterher gejagt. Einen eigenen Verband hat man auf Jersey zwar, eine richtige Nationalmannschaft aber nicht. Denn von UEFA und FIFA ist dieser nicht anerkannt, sondern gehört aus ihrer Sicht zur englischen Football Association.

Dennoch bestreitet man inoffizielle Länderspiele. Und zwar nicht nur gegen Guernsey und Alderney, selbst wenn das natürlich die Hauptgegner sind. Aber auch gegen die Isle of Man und Gibraltar, die von Finnland weitgehend autonomen Åland-Inseln oder das ebenfalls mit Sonderrechten ausgestattete portugiesische Madeira ist man schon aufgelaufen.

Meist geschieht dies während der im zweijährigen Rhythmus ausgetragenen Island Games, bei denen sich verschiedene Inseln und Inselgruppen, in verschieden Sportarten miteinander messen. Sogar gegen die Färöer, die als einzige Beteiligte auch eine international anerkannte Auswahl besitzen, hat man im Rahmen dieses Mini-Olympia schon gespielt.

Mehrere Teams kommen dabei aus Skandinavien, wie zum Beispiel das schwedische Gotland. Einige aus dem Mittelmeerraum wie Rhodos oder Menorca. Rund die Hälfte von ihnen hat jedoch Queen Elizabeth als Staatsoberhaupt. Neben Kolonien wie Bermuda oder den Cayman Islands und den schon bekannten Crown Dependencies sind mit den Shetlands, Orkneys und Hebriden, der Isle of Wight oder dem walisischen Anglesey auch etliche Inseln und Archipele dabei, die ganz normal zum United Kingdom gehören.

Jersey und Guernsey liegen bei diesen seit 1985 ausgetragenen Wettbewerben eigentlich stets im Medaillenspiegel weit vorne. Doch man hat ja auch etwas mehr Erfahrung als einige andere. Schließlich tritt man bei den Commonweath Games ebenfalls mit einer eigenen Mannschaft an. Dort geht man gegen Sportnationen wie Australien, Kanada oder Neuseeland allerdings in der Regel ziemlich leer aus.

An der Uferpromenade

Auch und gerade im Langstreckenbereich waren die Läufer von den Kanalinseln – jedoch eher die Donkeys als die Toads – bei den letzten Inselspielen im Sommer 2009 ziemlich erfolgreich. Gegen den für Åland startenden früheren Marathon-Europameister Janne Holmén, der sowohl die zehntausend Meter wie auch den als längste Strecke ausgeschriebenen Halbmarathon klar für sich entschied, blieben ihnen zwar nur die unteren Plätze auf dem Podest. Ansonsten gingen jedoch von den zehn Goldmedaillen auf den Laufstrecken ab achthundert Metern sechs, also fast der gesamte Rest, nach Guernsey. Jersey konnte immerhin einige zweite und dritte Plätze erobern.

Auf der Grande Route de Saint-Pierre, die – wie nicht anders zu erwarten – nach St. Peter führt aber so groß nun auch wieder nicht ist, hat man die Halbzeitmarke erreicht. Der Kirchturm des Dorfes ist der höchste der ganzen Insel. Und das will etwas heißen, denn davon hat man auf Jersey eine ganze Menge. Pro tausend Einwohner soll es ein Gotteshaus irgendeiner Glaubensrichtung geben.

Die Zahl der auf der Insel registrierten Firmen ist allerdings noch wesentlich höher. Denn auf ungefähr zwei Menschen kommt ein Unternehmen. Dass darunter reine Briefkastenadressen sein könnten, die angelegt wurden, um irgendwo anders Steuern zu sparen, würde man allerdings sicher energisch verneinen. Die Bürger von Jersey sind eben einfach fleißig.

Auch wenn man durch die Petite Rue de l’Église läuft, bekommt man nicht wirklich die Parish Church aus der Nähe zu sehen. Zum einen ist sie zur Renovierung eingerüstet. Und zum anderen versperrt das lang gezogene, natürlich mit Granitsteinen gemauerte Gemeindehaus davor den Blick. Doch ist das mit seinem Blumenschmuck eigentlich auch ganz ansehnlich.

So kann man dann auch die Lampe, die angeblich auf der Turmspitze angebracht ist, nicht wirklich erkennen. Grund für diese Maßnahme ist der nahe gelegene Flughafen, den die Marathonis auf den nächsten beiden Meilen zur Hälfte umrunden werden. Für eine doch eigentlich recht kleine Insel ist auf dem Landeplatz ordentlich Betrieb. Aus etlichen britischen Städten wird er zum Teil sogar mehrmals täglich angeflogen. Und auch aus Deutschland gibt es Direktverbindungen.

Einen gewissen Bruch stellt diese Passage immer am Sicherheitszaun entlang dann aber doch dar. Denn von ländlicher Idylle, die bisher die Strecke prägte, ist dabei wenig zu spüren. Begründbar ist die Kurssetzung allerdings schon irgendwie. So kann man nämlich für längere Zeit Straßen vollkommen vermeiden und auf den geschotterten Radweg bleiben. Nur einige wenige Querungsstellen müssen abgesichert werden.

Auch um St. Brélade läuft man auf einem dieser Radwege herum, bis man das weitläufige Sportgelände erreicht, an dem sich nicht nur der dritte sondern auch der vierte Staffelwechselpunkt befindet. Denn die große Inselrunde kommt an dieser Stelle gleich zweimal vorbei, einmal auf der einen und einmal auf der anderen Seite.

Nachdem der Halbbogen, den der Kurs um die Sportanlagen schlägt ebenfalls beendet ist, werden die Marathonis nach rechts auf den sogenannten Corbiére Walk gelenkt, auf dem sie den größten Teil der nächsten Meilen bleiben werden. Es handelt sich dabei um die alte Trasse der Inselbahn, die – was man hierzulande ja auch oft tut – nach der Stillegung zu einem Fuß- und Radweg umgebaut wurde.

An der Uferpromenade

Unter schattigen Bäumen führt die Strecke in – wie bei einer ehemalige Bahnlinie nicht anders zu erwarten – sanftem Gefälle auf die Südwestspitze der Insel zu. Nebenan spielen andere im Dünengelände, das den größten Teil der Westküste Jerseys prägt, Golf. Wieder ein ziemlicher Wechsel in der Umgebung. Langweilig ist der Jersey Marathon nun wirklich nicht. Und eine richtig angenehme Passage zum – je nach Verfassung – Erholen oder Tempomachen. Meile siebzehn fliegt jedenfalls regelrecht vorbei.

An einer der ungefähr ein Dutzend Verpflegungsstellen, die unterwegs aufgebaut sind, wird mit zwei direkt aufeinander folgenden Linksschwenks, die sich fast zu einer Haarnadelkurve ergänzen, die Umkehr eingeleitet. Auch im Hinblick auf die Versorgung stimmt die Organisation absolut. Fast möchte man sagen, sie ist sogar zu perfekt.

Denn die Getränke gibt es in Plastikflaschen. Sowohl Wasser als auch die Elektrolytgetränke. Und während man das erste alternativ auch zur – durchaus nötigen – Kühlung einsetzen und sich überschütten kann, ist es bei der klebrigen Flüssigkeit vielleicht doch nicht ganz so angebracht. Ein halber Liter lässt sich aber auch nicht so schnell austrinken. Also bleiben nur die Alternativen, die noch halbvolle Flasche wegzuwerfen, was viele auch tun, oder sie eine ganze Zeit mitzuschleppen und langsam weiter zu trinken. Bis zur Leerung hat man dann vermutlich schon den nächsten Verpflegungsposten erreicht.

Warum angesichts, dieser Versorgungsdichte etliche dennoch meinen, ihre Fläschchen mit sich herum schleppen zu müssen, darf man sich schon fragen. Zumal wenn sie auch noch gelbe Nummern vorne und das Schild „Relay“ auf dem Rücken tragen. Andererseits hört man ja auch hierzulande immer öfter einmal Klagen, wenn es bei einem Lauf über zehn Kilometer selbst im Winter unterwegs nicht mindestens eine Getränkestelle gibt. Besser aber sogar zwei oder drei.

Nur ganz kurz kann man bei der Wende einen Blick von der vermutlich meistfotografierten Sehenswürdigkeit der Insel werfen. Und auch nur, wenn man beim Abbiegen einmal in die entgegengesetzte Richtung sieht. Die äußerste Ecke Jerseys wird nämlich vom Corbiére Lighthouse eingenommen, das nicht nur wegen seiner fotogenen Lage zwischen wild gezackten Felsen eigentlich von jedem Touristen mindestens einmal besucht wird.

An der Uferpromenade

Noch viel interessanter ist die Tatsache, dass man bei Niedrigwasser ganz gemütlich einen Betonweg zum Leuchtturm hinüber spazieren kann. Ein Weg, der bei Hochwasser dagegen bis zu zehn Meter tief unter dem Meeresspiegel liegt. Denn abgesehen von der kanadischen Bay of Fundy ist nirgendwo auf der Welt der Tidenhub so groß wie rund um die Kanalinseln und die Bucht von St. Malo an der französischen Küste.

Bis zu zwölf Meter hebt und senkt sich der Wasserspiegel. Schon deshalb ist es überhaupt nicht möglich eine genaue Zahl von Inseln und deren Fläche anzugeben. Beides ist flüchtig und davon abhängig, ob gerade Ebbe oder Flut herrscht. Wo vor einigen Stunden noch ein Hunderte von Metern breiter Sandstrand war, ist dann auf einmal nur noch Meer. Umgekehrt hat mancher Felsen, an dem von allen Seiten die Wellen schlagen, wenig später auf einmal eine Landverbindung.

Das Lighthouse ziert jedenfalls auch das Logo des Jersey Marathons. Deshalb hätte man die Strecke ruhig noch ein wenig näher an das weiter unten liegende Leuchtfeuer heran führen können, selbst wenn man das mit weiteren Höhenmetern hätte erkaufen müssen. Schließlich fängt die Strecke auf dem Rückweg nach St. Brélade nun nach dem langen Gefälle fast selbstverständlich wieder an zu steigen.

Während sie vom Leuchtturm nur einen kurzen Blick erhaschen konnten, ist der Beobachtungsturm aus dem Zweiten Weltkrieg für die Marathonis länger im Sichtfeld. Erbaut wurde er aber nicht von den Briten sondern von Deutschen. Denn nach ihrem Rückzug aus Dünkirchen überließ die geschlagene British Army die Kanalinseln kampflos den Truppen des Dritten Reiches. Nicht ohne allerdings einen Teil der Bevölkerung zu evakuieren.

Die Deutschen versuchten den Inseln in ihren Atlantikwall zu integrieren und errichteten überall neue Küstenbefestigungen. Fotografiert werden sie von den Besuchern allerdings kaum, sie sind ja bei weitem nicht so pittoresk wie die Martello-Türme. Aber auch die alten, schon vorhandenen Anlagen wurden zum Teil integriert. Und so haben die Türme der Burg von Gorey nach ihrer Aufstockung doch tatsächlich Dächer aus Beton. Immerhin hat man sie aber mit Granit verkleidet.

Im Waterfront Center gibt es auch ein großes Schwimmbad Der blinde Läufer Henry Wanyoike läuft diesmal in Begleitung einer Staffel Das Waterfront Centre ist das neue Unterhaltungszentrum der Stadt

Während sie sowohl hierzulande wie auch im Vereinigten Königreich nahezu vergessen ist, bleibt die Zeit der deutsche Besetzung nicht nur wegen der noch immer erhaltenen Bunker auf Jersey ziemlich präsent. In der Nähe des Marathonziels steht auf dem Liberation Square ein Denkmal, das in Lebensgröße jubelnde Menschen beim Schwingen eines Union Jack am Tag der Befreiung zeigt. Dieser neunte Mai ist seither gesetzlicher Feiertag.

Erst mit der endgültigen Kapitulation des Dritten Reiches endete nämlich die fünfjährige deutsche Episode. Obwohl die britischen und amerikanischen Truppen am D-Day unweit der Kanalinseln an den Küsten der Normandie landeten und von dort weiter ins Landesinnere vorstießen, unternahm man bewusst keine Versuche der Rückeroberung. Die Verluste bei der Invasion waren hoch genug, weitere Kämpfe bei Landungsoperationen hätten die Opfer nur erhöht.

Man wollte die Deutschen stattdessen durch Aushungern zur Aufgabe zwingen. Ein Plan der nicht funktionierte, denn die Inselbevölkerung hungerte noch viel mehr. Schließlich wurde dem Roten Kreuz erlaubt mit der Lieferung von Nahrungsmitteln das Schlimmste zu verhindern. So blieben die Kanalinseln bis Kriegsende in deutscher Hand und – wenn auch im weitesten Sinne – der einzige Teil des Königreichs, den man erobern konnte.

Indirekt ist die deutsche Besetzung auch für das Zurückdrängen der normannischen Dialekte mitverantwortlich. Denn viele der Evakuierten kamen nicht zurück sondern blieben in England. Stattdessen zogen Briten nach. Und diejenigen Insulaner, die zurück kehrten hatten fünf Jahre weit verstreut in komplett englischsprachigem Umfeld gelebt, die Kinder waren darin aufgewachsen. Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg kamen Jèrriais und Guernesiais nicht mehr richtig auf die Beine.

Anfangs über Land führend wird die Bebauung zu beiden Seiten der Straße zuerst dichter und schließlich sogar modern und städtisch, je mehr man sich wieder St. Brélade nähert. Auch der Verkehr wird stärker. Deshalb weichen die Marathonis auch für einige Meter auf den Gehweg aus, bevor sie wenig später in eine Neubausiedlung abbiegen.

Das Sportgelände kommt wieder in Sicht. Und erneut deutet ein Helfer nach rechts in den Corbiére Walk. Unweit der Stelle, an der man vorhin einbog, schwenkt man ein zweites Mal auf die Bahntrasse ein. Doch dieses Mal in die andere Richtung, nach Osten, dem Ziel entgegen. Fast ist es ein Déjà vu, denn auch jetzt fällt der nicht asphaltierte, aber gut befestigte Radweg wieder. Sogar ein wenig steiler als vorhin.

Doch diesmal gräbt er sich manchmal fast hohlwegartig ins Gelände ein. Gleich mehrere Straßen werden durch Unterführungen gequert. Und plötzlich ist man mitten in St. Aubin und am Meer gelandet. Das eher kleine Hafenörtchen gehört zu St. Brélade, doch eine Parish Hall hat es trotzdem. Denn der frühere Bahnhof von St. Aubin wurde zum Rathaus der gesamten Gemeinde umgebaut. Und auch der Bucht hat das einstige Fischerdorf seinen Namen gegeben.

Auf deren anderer Seite ist bereits St. Helier zu entdecken. Klar kann man die Hochhäuser erkennen, die es auf der Insel fast nur in der Hauptstadt gibt. Und auch die flache Kuppel des Fort Regent Leisure Centre auch dem Mont de Ville ist schon sichtbar. Doch noch sind es mehr als fünf Kilometer bis dorthin. Selbst wenn die Zielgerade auf Jersey eher ein Zielhalbkreis ist, schon so lange im Voraus kann man selten das Ende des Rennens anpeilen.

"Donkey" Andrew Walker aus Guernsey läuft auf der Nachbarinsel Rund um den Hafen wurde viel neu gebaut

Immer auf der Promenade entlang führt die Strecke. Der Verkehr besteht nicht mehr aus Fußgängern, Rad- und Rollschuhfahren. Doch auch sie werden mit großen Schildern und mit Erfolg zur Rücksichtnahme aufgefordert. Im Vorjahr krachten hier beim Marathon die Wellen nicht nur an sondern manchmal sogar über die Ufermauer. Nicht nur regnerisch und kalt war es damals sondern auch extrem windig. Und es herrschte Flut. Diesmal hat das Meer sich zurück gezogen und einen breiten sandigen Streifen hinterlassen.

An dieser Stelle bekommt der zweifache Sieger Andrew Hennessy endgültig Probleme. Knieschmerzen zwingen ihn sogar einige Schritte zu gehen. Joseph Kibunja setzt sich immer klarer ab und siegt in 2:33:29 am Ende doch ziemlich deutlich. Selbst den zweiten Platz kann Hennessy nicht verteidigen. Nick Saunders, ein ursprünglich aus Zimbabwe stammender britische Profi-Triathlet mit Wohnsitz Jersey zieht auf den letzten Kilometern noch vorbei und wird mit 2:46:21 gestoppt. Für den eigentlich von der Hindernisstrecke kommenden Titelverteidiger im blau-gelben Trikot der Wells City Harriers bleibt nach 2:47:32 Rang drei.

Auch bei den Frauen, die immerhin fast ein Drittel des Feldes ausmachen, fällt die endgültige Entscheidung recht spät. Und nicht nur enger als bei den Herren ist der Ausgang, in der Breite sind die Ergebnisse auch hochwertiger. Denn während nur elf Männer unter drei Stunden bleiben – als Letzter von ihnen schafft Gavin Jemison mit 2:59:59 eine Punktlandung – kommen dahinter in dichter Folge fünf Läuferinnen unter 3:10 ins Ziel.

Nur hauchdünn scheitert Claire Forbes von den einheimischen Jersey Spartans bei ihrem ersten Marathon an der Drei-Stunden-Marke. Zumindest in der für Rekordlisten noch immer gültigen Bruttozeit tut die Achtunddreißigjährige, die sich bisher auf kürzere Distanzen konzentriert hat und eher auf der Tartanbahn als auf dem Asphalt zu Hause war, das. Denn 3:00:02 „Gun time“ stehen 2:59:59 „Chip time“ gegenüber. Ihre fünf Teamkameraden, die mit 2:31:49 die schnellste Staffel auf die Beine bringen, können sie deshalb auch nicht ganz einholen.

Madelaine Clarke folgt als Zweite in 3:02:50 und hat damit einen einigermaßen sicheren Vorsprung vor der ebenfalls aus Jersey stammenden Sarah Davis, die mit 3:06:12 ihrerseits die 3:08:46 benötigende Zoe Lowe auf Distanz hält. Dagegen hat Clare Prosser bis zum Schluss sehr wohl Sichtkontakt zu der vor ihr liegenden Lowe. Nach 3:09:07 beläuft sich ihr Rückstand nämlich auf weniger als hundert Meter.

Wieder durch die Innenstadt führt das letzte Stück der Streck, auch an der Standard Chartered Bank geht es vorbei

Fast durchgängig ist die Bebauung jetzt. Spätestens ab Beaumont gibt es nur noch wenige Lücken im Häuserband auf der linken Seite. Der „schöne Berg“ gilt als eine der besseren Wohngegenden der Insel. Und jenseits der Uferstraße steht auch die eine oder andere größere Villa auf den angrenzenden Hügeln. Doch auch die folgenden Ortschaften Bel Royal und Milbrook können sich über ihre Lage wirklich nicht beschweren.

Den Martello-Turm von First Tower bekommt man nun auch von Seeseite zu Gesicht. Auch in Beaumont hatte eine weitere dieser Verteidigungsanlagen die Bucht bewacht. Und in St. Aubin gibt es auf einer bei Niedrigwasser zu Fuß erreichbaren Insel sogar ein kleines Fort. Die andere Seite wird die St. Aubin Bay vom wesentlich größeren Elizabeth Castle beschützt, zu dem man ebenfalls nur dann über Land gelangen kann, wenn das Wasser vollkommen zurück gewichen ist. Nicht nur St. Helier sondern auch die Festung hat man bei der Umrundung der Bucht ständig im Blick.

Benannt ist sie nicht nach der aktuellen Regentin sondern nach der ersten Elizabeth, während deren Herrschaft die Anlage Anfang des siebzehnten Jahrhunderts unter dem damaligen Gouverneur, dem eher als Seefahrer bekannten Walter Raleigh errichtet wurde. Später kamen immer weitere Verstärkungen hinzu. Und auch die Deutschen hinterließen noch einmal neue Bunker und Gefechtsstellungen. Direkt daneben liegt der Felsen, auf dem der heilige Helier, der das Christentum nach Jersey brachte und nachdem die Inselhauptstadt benannt ist, seine Einsiedelei hatte.

Am Café „La Fregate“, das je nach Phantasie die Form eines gestrandeten Wal oder ein umgekippten Schiffes hat, trennen sich Uferstraße und Promenade. Da hat man St. Helier schon längst wieder erreicht und auch die Tafel mit der „25“ bereits passiert. Die Marathonis bleiben weiter an der Wasserkante. Das Ziel im Zentrum der Stadt wird nämlich nicht direkt und auf dem kürzesten Weg angesteuert. Eine Schleife führt das Läuferfeld noch einmal durch das neugestaltete Hafengelände.

Dort sind in den letzten Jahren etliche moderne Neubauten in die Höhe gewachsen. Und noch immer wird an einigen Ecken ordentlich gewerkelt. Irgendwie hat Jersey in dieser Gegend fast schon etwas von Monaco, wo mit viel Geld ständig Neues entsteht. Zumal – wie auch an vielen Stellen im Ministaat am Mittelmeer – der Boden, den man beläuft, durch Landgewinnung entstanden ist.

Das Hafenhotel, das man umrundet, ist ebenfalls unübersehbar neu. Auf seiner Restaurantterrasse sehen einige Gäste während ihres Mittagessens in aller Ruhe den vorbei eilenden Läufern zu. Um die Jachten in der Marina daneben zu sehen, muss man den Blick schon ziemlich senken. Doch die große Digitalanzeige neben der Einfahrt ins Hafenbecken belegt, dass der niedrigste Tidenstand noch lange nicht erreicht ist. Die Wasserspuren an der Kaimauer zeigen andererseits aber auch, wie hoch die Flut steigen kann.

Nach einem weiteren Schlenker um das Waterfront Centre, einem – wie könnte es in dieser Gegend von St. Helier auch anders sein – relativ neuen Vergnügungskomplex mit Kinos, Restaurants und einem Freizeitbad, nimmt man dann aber doch Kurs auf die Innenstadt. Ehrenamtliche Polizisten, auch so eine Besonderheit auf Jersey, überwachen das Queren der Hauptstraßen. Zwar gibt es auch rund zweihundert hauptamtliche Polizeibeamte, doch für Kleinigkeiten in den Parishes ist noch immer die Honorary Police zuständig, deren Mitglieder von den dortigen Einwohnern gewählt werden.

Zieleinlauf am Weightbridge Platz Pascal Van Oosten war schon fünfzehnmal beim Tough Guy dabei, läuft aber auf Jersey erst seinen zweiten Marathon Auch nach dem Lauf ist es eher gemütlich

Noch einmal stattet man dem Sitz der Standard Chartered Bank einen Besuch ab, diesmal im Laufschritt, bevor man sich durch ein schmales Gässchen dem Ziel nähert. Ein wenig ist das schon so etwas wie ein Anschleichen durch die Hintertür. Eine triumphale Zielgerade stellt man sich doch irgendwie ein bisschen anders vor.

Es sind – wie die etwas triste Passage am Flugplatz oder die Tatsache, dass man seine Medaille nicht direkt im Ziel erhält sondern mit dem T-Shirt im sogenannten Goody Bag an einem der Zelte abholen muss – Kleinigkeiten, die man kritisieren kann. Den allgemein positiven Gesamteindruck stören sie allerdings nicht wirklich.

Und auf den letzten Metern nehmen dann ohnehin wieder etliche Zuschauer die herein kommenden Läufer in Empfang. Das Publikum konnte sich in der Zeit zwischen dem Start der Staffeln und den ersten Zielankünften auch noch am Fun Run über drei Kilometer erfreuen, an dem sich noch einmal über dreihundert Läufer beteiligen. Und die letzte Meile dürfen – ohne Wettkampfcharakter – auch Rollstuhlsportler in Angriff nehmen. Insgesamt sind so rund zweitausend Athleten unterwegs, eine für Jersey durchaus beachtliche Zahl.

In Bezug auf die Zahl der Aktiven ist der Standard Jersey Marathon schon nach wenigen Jahren seiner Existenz das größte sportliche Ereignis der Insel. Noch immer ist er auch im Wachstum begriffen. Eine Massenveranstaltung wie einige seiner asiatischen Geschwister wird er allerdings vermutlich dennoch nicht werden. Das Ganze wird wohl auch in Zukunft ziemlich überschaubar bleiben. Eigentlich kann man das aber auch nur hoffen. Unbegrenztes Wachstum ist auf einer so kleinen, endlichen Insel eben in keiner Hinsicht möglich, ohne schnell an Grenzen zu stoßen und völlig den eigene Charakter zu verlieren.

Und den hat sowohl der Marathon wie auch Jersey an sich. Das gleich mehrfache Aufeinandertreffen von zwei Welten, zum einen der englisch-französische Kontrast, zum anderen der Wechsel zwischen Stadt und Land auf engstem Raum machen die Kanalinsel auch ohne Steuerschlupflöcher zu einem lohnenden Reiseziel. Nicht nur diejenigen, für die die Schweiz aus nachvollziehbaren Gründen gerade ziemlich ihren Reiz verloren hat, könnten ja mal versuchen, ein bisschen Geld dort zu lassen.

Bericht und Fotos von Ralf Klink

Ergebnisse und Infos unter www.jersey-marathon.com

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