Schlett EXTREM

Teil 29: Panikanreise zum Reykjavik Marathon

von Stefan Schlett im November 2023 

Da stand ich, mitten in der Wildnis im Osten Islands, auf einer einsamen, gottverlassenen, windumtosten Piste. In 75 Minuten sollte mein Shuttle von Egilsstadir in die Hauptstadt gehen. Der letzte Flieger zum morgigen Reykjavik Marathon. Ich sah ihn schon davon laufen - im wahrsten Sinne des Wortes.

Die vergangenen fünf Tage verbrachte ich in der archaischen und rauen Bergwelt der größten Vulkaninsel der Welt. Mit 103.000 Quadratkilometern ist Island nach dem Vereinigten Königreich der flächenmäßig zweitgrößte Inselstaat Europas. Die Hälfte davon entfällt auf Wüsten, 11% des Landes sind mit Gletschern bedeckt. Das Land ist ein Hotspot vulkanischer und geothermischer Aktivitäten. Es gibt mehr als 200 Vulkane, von denen in den letzten beiden Jahrhunderten 30 ausgebrochen sind. Dabei gab es spektakuläre Eruptionen. In Erinnerung blieb der Ausbruch des Eyjafjallajökull im April 2010, dessen Aschewolke den Flugverkehr auf der Nordhalbkugel wochenlang lahm legte. Erst vor vier Tagen stand ich auf dem 1833 m hohen Snaefell, der höchste Berg außerhalb der Gletscherzone und dritthöchste Erhebung Islands. Doch die Besteigung hatte ihren Preis. Bis zur Hälfte des Aufstiegs begeisterten noch gigantische Ausblicke auf die Eiskappe des Vatnajökull, dem größten Gletscher Europas. Das Licht, die Farben, die Luft brillierten mit einer Klarheit, Reinheit und Intensität, wie man sie nur noch von Neuseeland auf der Südhalbkugel kennt. Dann wurden die Bedingungen höllisch. Bei Sturmwind, Saukälte und in fette Nebelbänke gehüllt - also ganz normalem Islandwetter - begrüßte mich der Gipfel. Ich ergriff gleich wieder die Flucht.

Blick auf den Vatnajökull Anstieg zum Snaefell

Ausgedehnte Wanderungen durch das sumpfige Gelände, vorbei an mächtigen Wasserfällen, und Bergbesteigungen, kombiniert mit heißen Bädern in den überall vorhandenen Thermalquellen, waren meine ganz persönliche Vorbereitung auf den Reykjavik Marathon in der nördlichsten Hauptstadt der Welt. Nachts pendelte sich die Temperatur regelmäßig um den Gefrierpunkt ein. Das Wetter erfordert in diesem Land sehr viel Toleranz, hat aber gerade deswegen seinen eigenen Reiz. Einzige Fixpunkte: die Snaefell-Hütte am Fuße des Berges und das Laugarfell Highland Hostel im fünf Fußstunden entfernten Nachbartal. Die primitiven Berghütten sind, Oasen gleich, Außenstationen der Menschheit in der lebensfeindlichen Einsamkeit dieser Region. Ori, der Hüttenwirt der Snaefell-Hütte, musste am Abflugtag eine Versorgungstour unternehmen, hatte versprochen mich im Laugarfell-Hostel abzuholen und am Flugplatz des kleinen Städtchens Egilsstadir abzusetzen. Aber irgendwas war schief gegangen. Alarm! Mit Stress und Adrenalin musste ich mich von meiner Oase in der Wildnis verabschieden.

Laugarfell Highland Hostel mit Snaefell Snaefell-Hütte

Alle möglichen Krisenszenarien bemächtigten sich meinem Denkapparat, als sich in riesiger Staubfahne nach einer unendlich erscheinenden halben Stunde tatsächlich das erste Fahrzeug ankündigte, dazu noch in der richtigen Richtung. Jetzt wollte ich nichts mehr dem Zufall überlassen. Statt Finger raus, stellte ich mich breitbeinig auf die Schotterstraße und hob beide Hände. Der Pick-up hielt sofort an, es war ein Arbeiter vom 30 km entfernten Kárahnjúkar-Wasserkraftwerk. Er sprach kaum englisch, aber mit Händen und Füßen konnte ich ihm schnell meine heikle Situation klar machen. Und ja, er war ebenfalls nach Egilsstadir unterwegs, erklärte sich sofort bereit, mir zu helfen. Der Rucksack wurde auf die Ladefläche geworfen und ich stieg ein. Die Daten: 50 Minuten bis zum Abflug, 70 Kilometer bis zum Flugplatz - Halleluja!

Selfie an isländischem Wasserfall Der Autor in der Thermalquelle

Es begann ein Husarenritt durch die Lavawüste, Sturmwinde klatschten Regenschauer gegen die Windschutzscheibe und am Horizont thronte ein Regenbogen. Atemberaubende Landschaften, die aus des Schöpfers chaotischster Schaffensphase stammen könnten, zogen mit Tempo 100 vorbei, Asphalt und Schotterpiste wechselten sich ständig ab. Nach halber Strecke, in der Region um Fljótsdalur hatte es Handyempfang und ich konnte der Airline mitteilen, dass der fehlende Passagier im Höllentempo zum Check In unterwegs ist. Die Dame in der Flugabfertigung der Icelandair gab sich optimistisch. Noch 30 km und 20 Minuten bis zum Take Off.

Reykjavik Marathon Start-Iimpression - Foto © Veranstalter Stimmung an der Strecke - Foto © Veranstalter/Andri Thorstensen

In dieser Gegend dehnt sich der größte Wald Islands aus und nicht weit von der Straße befindet sich der 128 m hohe Hengifoss, einer der höchsten Wasserfälle des Landes. Die Straße ist in hervorragendem Zustand, so dass wir nun mit 120 Sachen am Westufer des Lagarfljót-Sees entlang preschen. Ähnlich dem schottischen Loch Ness wird auch hier vor einem Seeungeheuer, dem Lagarfljótwurm, erzählt, der in den Tiefen des Sees hausen soll. Als die Straße am Ende des 35 km langen und nur zwei km breiten Sees über eine Brücke führt taucht auch schon der "Internationale Flughafen Egilsstadir" auf, der heute de facto nur noch als Regionalflughafen genutzt wird. Durch den Bau des Kárahnjúkar-Kraftwerks erlebte der Flughafen einen Aufschwung, von 2007 bis 2012 gab es internationale Linienverbindungen von Iceland Express und der litauischen Fluggesellschaft Aurela nach Kopenhagen. Noch fünf Minuten bis zum Take Off.

Einsamer Reykjavik Marathon - Foto © Veranstalter Marathon in der nördlichsten Hauptstadt der Welt
Foto © Veranstalter

Ankunft am Flugplatz. Ich springe aus dem Pick-up, schnappe den Rucksack, renne in das kleine Terminal, werde durchgewunken, am Check In Counter liegt die Bordkarte bereit, sprinte weiter zum Vorfeld. Hier steht die zweimotorige Turboprop De Havilland DHC-8 abflugbereit. Der Rucksack wird über die kleine Einstiegsleiter gewuchtet und vom Lademeister verstaut, ich besetze den letzten freien Platz, schnalle mich an, die Klapptüre geht zu und fünf Minuten später sind wir in der Luft. Ich bin unterwegs zum Reykjavik Marathon! Verdammt, war das knapp!

Foto oben: Gipfel Snaefell im Sturm - und alle weiteren nicht zugeordneten Fotos © Stefan Schlett

Beitrag von Stefan Schlett

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Teil 28: Die 10 schönsten und emotionalsten Marathons, Ultras und Etappenläufe

von Stefan Schlett Weihnachten 2022 

Im Ausdauersport ist die Globalisierung schon lange Realität. Es gibt kaum noch weiße Flecken auf der Erde. Wettkämpfe werden quer durch alle Zeit-, Klimazonen und Höhenregionen ausgetragen. Ob Steppe, Gebirge, Savanne, Dschungel, Wüste, Regenwald, arktische oder antarktische Regionen - keine noch so extreme Landschaftsform, die nicht bereits von erlebnishungrigen Ausdauer- und Extremsportlern erobert worden ist. Sogar auf der Internationalen Raumstation ISS wurde schon ein Marathon gelaufen! Aber es geht noch weiter weg: Vor einigen Jahren war im Netz die (nicht ganz ernst gemeinte) Ausschreibung zu einem Mondmarathon zu finden…

Grand Raid auf La Réunion Kalte Angelegenheit: Antarktis Marathon Rundenlaufen: Marathon auf hoher See

Durch immer bessere Reisemöglichkeiten sind außergewöhnliche Laufevents in exotischen Ländern praktisch für jeden erreichbar, der dazu das nötige Kleingeld mitbringt oder Sponsoren akquirieren kann. In die Antarktis gibt es zwar keine Linienflüge, aber die mittlerweile zahlreichen Expeditionsflüge sind meist schon ein Jahr im Voraus ausgebucht. Ergo, haben sich auch dort bereits Marathon- und Ultraläufe im Kernland des Kontinents etabliert. Zuvor gab es kleinere Events lediglich auf den Inseln und entlang der Küstenlinie der Antarktischen Halbinsel, die mit dem Schiff erreichbar war.

Trans America Footrac evon L.A. nach New York
4723 km in 64 Tagen
Medieninteresse bei der Reise in die Unendlichkeit
Trans America Footrace

Da ich die Kunst des Extremsports seit meinem 19. Lebensjahr ausübe, durfte ich in den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts an dieser Entwicklung als einer der Pioniere teilnehmen. Erfolge, Siege, Rekorde, vor allem in meiner Hauptdisziplin dem Ultralangstreckenlauf, blieben nicht aus. Und so konnte ich nach und nach viele kleine Sponsoren und -als ich schon fast pleite war- endlich auch einen Hauptsponsor rekrutieren. Von da an hatte ich ein Jahresbudget zur Verfügung, mit dem ich wirtschaften konnte. Aus dem sportlichen Almosenempfänger wurde der "freiberufliche Abenteurer".

Sinnesreise ins Eisuniversum Sibiriens beim Baikalsee Eismarathon

Eine Ich-AG, die Sportler, Manager, Trainer und Sekretär in einer Person repräsentierte. Dies versetzte mich u.a. in die Lage, als erster Deutscher einen Marathon auf allen 7 Kontinenten zu absolvieren, an insgesamt 4 Transkontinentaldurchquerungen teilzunehmen, ein Dutzend deutsche und ein halbes Dutzend (meist kuriose) Weltrekorde aufzustellen. Dennoch wären all diese Aktivitäten über die Jahre nicht möglich gewesen, wenn ich in meinen Ansprüchen nicht Minimalist geblieben wäre, ein überwiegend positives Umfeld und die Unterstützung meiner Familie gehabt hätte. Modeschnickschnack, Materialfetischismus, Discos, Partys, Haschen, Rauchen und Saufen konnte ich nie etwas abgewinnen. Alleine die Tatsache, dass ich niemals ein Auto besessen habe, hat mir mindestens 4 Weltreisen finanziert…

Ein Lauf im Backofen: Badwater 1984 beim Austria Cross. In 7 Etappen von West nach Ost durch Österreich

"Was sind deine 10 schönsten Läufe" ist eine der häufigsten Fragen, mit der Journalisten, Freunde, Sportler oder auch "ganz normale" Menschen an mich herantreten. Und die sich bestimmt auch schon der ein oder andere LaufReport-Leser gestellt hat. Gar nicht so einfach, nach 213 Marathons und 511 Ultras in 67 Ländern, ein Ranking zu erstellen! Sport und Bewegung mit Reisen zu verbinden, vor allem die Kombination aus Abenteuerreisen und Extremsport, bedeutet für mich höchste Lebensqualität.

Grand Raid: Ein Lauf durch Dschungel, Lavawüste, Hochplateaus, Regenwald und Berge Naturistenlauf am Zieselsmaar bei Köln: Nacktmarathon

Ein Transkontinentallauf ist die Königsklasse, die hohe Schule des Extremsports, sozusagen das Ultra-Examen des Langdistanzläufers, oder bildlicher dargestellt, der Everest des Ultraläufers. Die Erlebnisse, Begegnungen und Eindrücke eines solchen mehrmonatigen Abenteuers sind an Intensität nicht zu überbieten. Es ist eine Reise in das Innerste der Läuferseele. Und wer sie "überlebt" wird als ein anderer Mensch daraus hervorgehen. Deshalb gehört auch diese Disziplin in die folgende Aufstellung. Leicht hätte man daraus auch ein Top 30 machen können. Ich habe mich deshalb dazu entschlossen, in den Top Ten 3 Kategorien unterzubringen: Marathon, Ultra, Mehrtagesrennen.

  1. Trans America Footrace 1992, von L.A. nach New York/4723 km in 64 Tagen/Gesamtlaufzeit 619:28:22 h

    Das erste Transkontinentalrennen der Neuzeit (das letzte war 1929). Ein Laufabenteuer erster Klasse. Eine Reise in die Unendlichkeit, durch 12 Staaten der USA, 44 Längengrade und 4 Zeitzonen.

  2. Badwater-Race 1991, USA, 241 km in 46:21 h

    Rennen durch das Tal des Todes. Ein Lauf im Backofen bei Temperaturen bis 50°C. Gigantische Landschaften. Ziel und Biwak auf dem Gipfel des Mount Whitney (4421 m). Das schönste Rennen meines Lebens!

  3. The Last Marathon 1997, Antarktis, 4. Platz in 2:55:40 h

    Hier wurde ich zum 6. Menschen auf der Welt, dem ersten Nichtamerikaner und ersten Deutschen, der auf allen 7 Kontinenten einen Marathon bewältigte. Eine Reise zu einem anderen Planeten!

  4. Grand Raid, La Reunion/Französisches Überseedepartement im Indischen Ozean, 130 km/8000 Höhenmeter (hoch und runter)

    Von 1993 bis 2002 zehn Mal hintereinander überlebt. Start und Ziel in Meereshöhe, dazwischen aber nichts Flaches, höchster Punkt 2200 Meter. Ein Lauf durch Dschungel, Lavawüste, Hochplateaus, Regenwald und Berge. Dabei werden ein gutes Dutzend Vegetations- und Klimazonen durchschritten. Ein tropischer Lauforgasmus! Keine Insel auf der Welt habe ich öfter besucht (insgesamt 20-mal).

  5. Marathon auf dem Kreuzfahrtschiff Meridian (registriert auf den Bahamas), zwischen den amerikanischen Jungferninseln und Puerto Rico 1995, 3:46:45 h

    Weltrekord im Marathon auf hoher See, mit Eintrag ins Buch der Verrückten (Guinness Book of World Records). Daneben Gesamtsieger des "2. Zehn-Etappenlaufs Karibik" über insgesamt 100 km im Rahmen einer Laufkreuzfahrt. Sieger der 9. Etappe (6 km auf der Insel St. Thomas) am Morgen, Weltrekord am Abend...

  6. Sri Chinmoy 1300 Meilen Lauf in New York 1989, USA, 2091.7 km in 17 Tagen + 23:42:13 Stunden

    Eine Seelenreise in den Mikrokosmos des amtlich vermessenen 1,6 km Rundkurses im Flushing Meadow Corona Park in Queens. Das historisch erste Rennen, bei dem überhaupt jemand innerhalb des 18-tägigen Zeitlimits das Ziel erreichte. Derer gleich drei:
    - Al Howie (Kanada, gebürtiger Schotte) - 17 + 08:25:34
    - Ian Javes (Australien) - 17 + 22:01:58
    - Stefan Schlett (Deutschland) - 17 + 23:42:13

  7. St. Helena Island Festival of Running 2007, Britisches Überseegebiet, Marathon mit 2000 Höhenmetern, 2. Platz in 4:13:52 h

    6 Wochen Einsamkeit im Südatlantik, auf einer der abgelegensten Inseln der Welt. Anreise nur mit dem Postschiff von Kapstadt möglich. Hier starb vor knapp über 200 Jahren Napoleon (5.5.1821) und der Autor reinigte Körper, Seele und Geist von den Krankheiten der restlichen Welt.

  8. Baikalsee Eismarathon, Russland, 5 Teilnahmen von 2006 - 2011

    Laufen auf gefrorenem Wasser über den ältesten und tiefsten See der Erde, 1300 Meter über Grund. Sinnesreise ins Eisuniversum Sibiriens.

  9. Austria Cross 1984, Österreich, 749 km in 7 Tagen (123:55 Stunden Laufzeit)

    Etappenlauf von Bregenz am Bodensee bis Rust am Neusiedler See. 5 Teilnehmer am Start, einer im Ziel.

  10. Naturistenlauf am Zieselsmaar bei Köln 2013, Nacktmarathon in 5:45 h

    46 km splitterfasernackter Genuss. Frisch, frei, fröhlich, ungezwungen. Ein sensationelles Laufgefühl!

Fotos © Stefan Schlett

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Teil 27: Traumfrauen
"Liebeserklärung" an Claudia
(aus dem Tagebuch eines Besenläufers)

Nein, das ist keine Liebesgeschichte, wie es der Titel vermuten lässt. Sondern die Story einer besonderen Begegnung. "The Hemisphere Crossing" nennt sich ein Abenteuerlauf durch die Insel Sao Tomé von Nord nach Süd. Das Eiland am Äquator, 250 km vor der Westafrikanischen Küste, ist der größte Teil des Staatsgebietes von Sao Tomé und Principe. Der Inselstaat, zweitkleinstes Land Afrikas nach den Seychellen, war bis zu seiner Unabhängigkeit 1975 fast ein halbes Jahrtausend portugiesische Kolonie. Bei der "Durchquerung der Hemisphären" sind 200 km in 6 Tagesetappen und in Eigenversorgung durch regengeschwängerte Tropenwälder, Bananen-, Kaffee-, Kokosnuss- und Kakaoplantagen, sowie auf einsamen Betonpisten und Kopfsteinpflasterwegen aus portugiesischer Zeit abzuarbeiten. Die Organisation Global Limits um das Wiesbadener Ehepaar Stefan Betzelt und Teresa Lam stellt mit seinen Helfern Markierung, ärztliche Versorgung und die Camp-Infrastruktur im Ziel sicher.

Claudia Bebeca Guedes Bosim, 20 Jahre jung, Studentin in der Hauptstadt Sao Tomé City

Zweite Etappe, letzter Checkpoint. Ich schiebe gerade Dienst, zusammen mit Doktor Frank Johansen aus Dänemark und übernehme dann als Besenläufer die finalen 10.5 km ins Ziel. Wir stehen mitten im Dschungel auf einer steinigen Piste. Da kommt sie angetrabt, barfüßig, beide Schuhe in der Hand: Claudia Bebeca Guedes Bosim, 20 Jahre jung, Studentin in der Hauptstadt Sao Tomé City. An beiden Füßen sind die großen Zehen im Eimer. Sie hat sich für die -zumindest weniger schmerzhafte- "Barfußkategorie" entschieden, wirft die primitiven Schlappen auf den Supporterjeep und will unbedingt ins Ziel laufen, auch wenn die Piste noch so beschissen ist. Ok, afrikanische Frauen sind zäh und Willensstark, das Zeitlimit ist großzügig und es gibt keine medizinischen Gründe sie aus dem Rennen zu nehmen. Jedoch entscheidet der Doc vorsichtshalber ebenfalls mitzukommen. Wir stellen uns auf einen langen Arbeitstag ein. Sie wird 4 Stunden für die bergige Steinpiste benötigen. Unterwegs schließt sich eine Gruppe fröhlicher Teenager an, die um Arme und Beine die orangen Trassierbänder tragen, mit denen die Strecke markiert ist. Zum Glück hat unser Scout rechtzeitig nach markiert…!

Keine vernünftigen Laufschuhe bereiten Claudia, hier vor dem Pico Cao Grande, bald schon massive Probleme

Claudia gehört zu den 2 Frauen und 3 Männern aus dem Gastland, denen Organisator Betzelt durch eine ausgewogene Mischkalkulation und Kooperation mit lokalen Partnern einen Start ermöglicht hat. Allerdings sind diese noch nie mehr als Halbmarathon und erst recht kein Etappenrennen gelaufen. Da es in dem armen Land keine vernünftigen Laufschuhe gibt hatte Claudia in ihren bescheidenen Tretern schon bald massive Probleme. Auch von den aus der ganzen Welt angereisten Teilnehmern passte kein einziger der gespendeten Schuhe. Um Claudia zu motivieren begleite ich sie für ca. 1500 Meter ebenfalls barfüßig. Dafür gibt sie uns eine Einweisung in den Gebrauch der Kakaofrucht: Frisch vom Baum gepflückt wird die Frucht aufgebrochen, das süße Fruchtfleisch mit der die Bohnen umgeben sind gelutscht und die bitteren Stücke dann zerkaut. Das im rohen Kakao enthaltene Theobromin wirkt ähnlich aufputschend wie Kaffee. In einem kleinen Dorf erhält unser kurioser Marschtrupp noch einen Becher des allseits beliebten Palmweines. Kurz vor dem Ziel sorgt das spontane Bad in einem Wasserfall dafür, dass wir einigermaßen gepflegt nach 9:03 Stunden das Dschungelcamp erreichen. Claudia wird in den kommenden Tagen zu meiner besten "Besenläufer-Kundin", mal mit, mal ohne Schuhe. Wir verbringen, gelegentlich begleitet von ihrer ebenfalls schwächelnden Landsfrau Wilma Guimaraes, viele gemeinsame Stunden im Busch und bieten ein äußerst kurioses Bild: als sie beim Durchqueren der kleinen Dörfer barfuß vor mir her trottet, muss es für die einfache Landbevölkerung so aussehen, als sei ich ihr Sklaventreiber...

Claudia passiert barfuß mit Landsfrau Wilma Plantagen und Dörfer

Wie üblich wenn man in einer Gruppe unterwegs ist, tauchten schon bald die üblichen Sticheleien und spitzfindigen Bemerkungen auf. Was treibt der Schlett die vielen Stunden mit dem Mädel im Dschungel? Ganz einfach: ich mache meinen Job als Besenläufer! Klar, Claudia war ein äußerst apartes Geschöpf, zudem begehrtes Fotoobjekt - auf den Bildern wirkte sie oft wie eine Diva und ihre Possen ähnelten der eines Fotomodels. Aber was will ich alter Depp mit einem 20 Jahre jungen Mädel! Auf meinen Weltreisen begegne ich alljährlich rund einem Dutzend "Traumfrauen". Die heißen übrigens so, weil sie wie es der Name schon aussagt, ein Traum bleiben. Und das ist auch gut so, denn 95% der sogenannten Traumfrauen entpuppen sich im richtigen Leben eher als (teurer) Albtraum… Das ist jetzt nicht die sexistische Aussage eines alten weißen Mannes, sondern einfach der Diskrepanz geschuldet die zwischen den naiven, romantischen Vorstellungen, die die Ausstrahlung eines solchen Traumwesens hervorruft und der Realität besteht. Ich genieße diese Begegnungen, das Kribbeln, die gute Konversation, die exotische Ausstrahlung. Oft sind es intelligente, geistreiche, taffe Frauen, denen ich selbstverständlich den nötigen Respekt zolle und die für mich kein Freiwild sind die gejagt oder erobert werden müssen. Lassen wir doch den Gedanken an Sex einfach mal beiseite, das nimmt solchen zwischenmenschlichen Begegnungen den Druck, verhilft zu einem coolen und disziplinierten Umgang und verhindert, dass das Gehirn auf ein Niveau unter die Gürtellinie rutscht. Es gibt keine Komplikationen und der Traum, die Illusion bleibt erhalten, manchmal noch über Jahre hinaus. Es heißt oft, dass viele Männer die Sklaven ihrer Triebe sind - das mag zutreffen, aber ich habe mich einfach davon emanzipiert. Punkt.

Claudia und Wilma unter der Obhut von Rennarzt Ryan Paterson Claudia mit Autor Stefan Schlett und einem Nachwuchs-Trailer Claudia schafft´s mit einem Lächeln

4. Etappe, Ultralauf über 59 km. Ich war mal wieder für die finalen Kilometer verantwortlich. Da kommen sie angewackelt: Claudia und Wilma, unter der Obhut von Rennarzt Ryan Paterson. Er übergibt mir die zwei "brünftigen Weiber", die nach über 11 Stunden Dschungelkampf allerdings schon sichtlich angeschlagen sind. Wilma haftet der Ruf an, dass sie auf Männerfang ist. Kein Wunder bei all den Schönlingen unter den 24 Teilnehmern aus 9 Ländern. Was für eine krasse Szene: Der Autor, Stirnlampe auf dem Kopf, GPS um den Hals, Karte in der Hand, verschwindet mit den beiden Amazonen Arm in Arm in die sackdunkle Nacht. Bevor uns der Dschungel mit seiner grellen Geräuschkulisse verschluckt, rufe ich dem Doc noch zu "bitte sende ein Stoßgebet zum großen Ultragott, damit ich diese Nacht überlebe"! Die grüne Hölle nahm uns auf und, was soll ich sagen, wir überlebten! Die beiden Ladys waren die glücklichsten Läuferinnen der Insel als sie nach einer Gesamtzeit von 14:12 Stunden das Etappenziel erreichten.

"Traumoma" Edda Bauer aus Deutschland war mit 77 Jahren neben zwei weiteren Golden Agern die dienstälteste Teilnehmerin auf diesem Trip. Ein zähes Weib!

Auf der letzten Etappe war die Traumfrau schon wieder enteilt, dafür durfte ich meine "Traumoma" begleiten. Edda Bauer aus Deutschland war mit 77 Jahren neben zwei weiteren Golden Agern die Dienstälteste Teilnehmerin auf diesem Trip. Ein zähes Weib! Die Globetrotterin, die schon auf einer Jacht in die Antarktis gesegelt ist, tut sich schwer mit den tückischen Dschungeltrails, ließ aber in der Endabrechnung auch noch die 57 Jahre jüngere Claudia weit hinter sich. Ihre eigentliche Kernkompetenz liegt im Straßenlauf, wo sie ein halbes Dutzend Altersklassenweltrekorde vom 12-Stunden bis 1000-Meilen-Lauf hält.

Claudia Bebeca Guedes Bosim bei der Siegerehrung - Rechts mit ihrem "Besenläufer" Stefan

Siegerehrung in einer Eco-Lodge im Süden der Insel, mit einer bei solchen Events selten erreichten Finisherquote von 100%. Der unvermeidbare Dreck, Schlamm und Muff des Regenwaldes ist abgelegt, elegante Abendkleider bestimmen den Dresscode. Attraktion des Abends: Claudia Bebeca Guedes Bosim. Das Häufchen Elend, das sich in ihrer zerschlissenen und geliehenen Ausrüstung mehr schlecht als recht und nur mit äußerster Willenskraft über die Pisten gequält, dabei so manche Träne vergossen hat und auf die keiner auch nur einen Pfifferling wettete, ist nicht wieder zu erkennen! In dezenter, traditionell einheimischer Tracht betritt eine bezaubernde und elegante junge Dame die Bühne. Eijeijei, da wird sogar der Autor melancholisch. Auch wenn wir uns all die Tage nur mit Händen und Füßen, manchmal auch mit Mister google translate verständigen konnten und aus zwei völlig verschiedenen Welten kommen, entstand durch die gemeinsamen Durchschlageübungen eine rudimentäre Beziehung. Habe ich mich vielleicht doch in dieses bezaubernde Geschöpf verliebt? JEIN! Ich gestehe, es ist eine Liebeserklärung an Eleganz, Durchhaltewillen, Anmut, Stolz und mentale Stärke, eine Verbeugung an die afrikanischen Frauen, die traditionell viel aushalten können und müssen.

Claudia - ich vermisse Dich…

Kleiner Ausschnitt weiterer traumhafter Begegnungen

Weltklassetriathletin Chrissie Wellington Weltklassemarathonläuferin Paula Radcliffe Barfußträume in der Sahara

Laufsportjournalisten in Mauritius Marathon-Verpflegungsstand in Georgien

Illusionen in Taipeh Elegante Ladys in Dominica Zwei Träumer im Dschungel von Dominica

Fotos © Stefan Schlett

Beitrag von Stefan Schlett

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Teil 26: In den Katakomben von Paris
Zeitreise ins vorletzte Jahrhundert

Aus dem schwarzen Loch schlägt mir kalte Luft entgegen, es riecht nach Zement und Vergangenheit. Nach 3 Kilometern anspruchsvoller Laufstrecke im Kiesbett der Gleise beginnt der Einstieg ins Dunkel. An dem 5 Meter hohen Eisenzaun hat jemand links unten ein paar Stäbe herausgesägt, wo man gerade so durchkriechen kann. Dann steht man im Eisenbahntunnel, der unter dem berühmten Cimetiere du Père-Lachaise durchführt, dem größten Friedhof von Paris, in dem bisher eine Million Verstorbene beigesetzt wurden. Unzählige berühmte Persönlichkeiten haben hier ihre letzte Ruhestätte gefunden. Edith Piaf, französische Sängerin, der Komponist Frédéric Chopin, aber auch Martin-Michel-Charles Gaudin -Finanzminister unter Napoleon Bonaparte- liegen hier. Unter den berühmten Philosophen, Generälen, Revolutionären, Literaten, Politikern, Astronomen usw. findet sich auch ein Sportler: Laurent Fignon, französischer Radrennfahrer, der zwei mal die Tour de France gewann. Mit rund 3,5 Millionen Besuchern im Jahr ist Père-Lachaise eine der meist besuchten Stätten in Paris. Hier, 15 Meter tiefer, verirrt sich garantiert kein Tourist hin.

Mystische Orte der Vergangenheit Alte Bahnstation

Ich streife die Stirnlampe über den Kopf und nehme eine Stablampe in die Hand, alle Sinne sind auf Alarmbereitschaft gestellt. Hier unten funktioniert auch kein Handy mehr. Am Eingang liegen Matratzen - jemand wohnt hier. Als ich weiter drinnen, wo das Tageslicht nicht mehr hinkommt, aus Versehen ein kleines Zelt anleuchte, regt sich einer. Ansonsten ist es ruhig in dem dunklen Loch. Nur ein weißer Fleck in der Ferne verrät, dass dieser Schattengang irgendwann ein Ende haben muss. Auf dem Friedhof über mir liegt übrigens auch ein gewisser Joseph-Ignace Guillotin, auf dessen Vorschlag die Hinrichtungsmaschine Guillotine erfunden wurde, deren Mechanismus die Hinrichtungen "humanisieren" und das Leid der Hingerichteten verkürzen sollte. Back to Business: Im verhaltenen Laufschritt arbeite ich mich mehr stolpernd im oder neben dem Gleisbett nach vorne, bis nach rund einem Kilometer der Tunnelausgang mit einem scheinbar unüberwindbaren Gitter versperrt ist. Die Rettung scheint weiter hinten im Tunnel durch die Decke: Durch Röhren in den Wänden fällt mattes Licht ein, Metallsprossen führen zwanzig Meter in die Höhe. Aber auch diese enden an einem Gitter und sind keine Ausstiegsoption. Wieder zurück? Ich habe Glück, am Tunnelende hat jemand ganz links einen Schlafsack über den Zaun geworfen, so dass er dessen Metallspitzen überdeckt. Dort hat auch die Tunnelwand kleine Vorsprünge. Hier Halt suchend und gleichzeitig mit den Armen am Gitter nach oben ziehend, mogele ich mich irgendwie über das rund 5 Meter hohe Hindernis, beende den Trip in die Pariser Unterwelt und kann die urbane Expedition auf oberirdischen Gleisen fortsetzen.

Autor Stefan Schlett im Untergrund Urbane Wildnis

Durch einen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen wurde ich Mitte des letzten Jahrzehnts erstmals auf den Petite Ceinture (Kleiner Gürtel) aufmerksam. Eine ringförmige Eisenbahnstrecke aus dem 19. Jahrhundert, die ab 1852 die Bahnhöfe am äußeren Rand der Stadt Paris verband und 1934 Großteils stillgelegt wurde, da die Erweiterung der Pariser Metro die Strecke überflüssig machte. Frachtverkehr herrschte noch bis Anfang der 90er Jahre. Ein Teil der verbliebenen Bahnhöfe sind heute noch vorhanden. Die meisten Zugänge sind mit Mauern, Eisentoren, Stacheldraht verbarrikadiert, was die Pariser natürlich nicht davon abhält, in diese mystischen Orte der Vergangenheit -sogenannte Lost Places- einzudringen.

Karte der Eisenbahnlinie Petite Ceinture de Paris im Jahr 1918, aus der Fahrplanbroschüre der Eisenbahngesellschaft Die gute alte Zeit auf dem Petite Ceinture - Foto © Didier Duforest CC BY-SA 4.0

Hier ein ausgehebeltes Tor, dort ein unscheinbares Loch im Maschendrahtzaun - wer sucht, der findet. Die Ceinture ist einer der letzten wilden Orte der sonst so gnadenlos zugebauten Ile-de-France. Zum Teil zieht sich die Strecke auf Erdgeschossniveau entlang, manchmal auch als Viadukt viele Meter über dem Boden. Die meisten der 32 km des Rings verlaufen aber tief unter der Erde. Dies zog früher vor allem die Katakomben-Liebhaber, les Cataphiles, an. Je enger es aber in der am dichtesten besiedelten Stadt Europas wird, desto mehr abenteuerlustige zieht die Petite Ceinture mit ihren stillen Gleisen an.

Urbane Wildnis - Foto © Thierry Bézecourt CC BY-SA 2.5 Geistertrasse durch Paris - Foto © Roehrensee CC BY-SA 4.0

Da ich aus privaten und beruflichen Gründen des Öfteren in Paris weile, zog mich das als ambitionierter "Untergrundkämpfer" (Weltrekord im Ultramarathon unter Tage, Elbtunnelmarathon in Hamburg, zahllose Höhlen- und Tunnelerkundungen auf der ganzen Welt) magisch an. An einem Dezembermorgen entdeckte ich nach langem Suchen und Überwinden eines Eisentores erstmals die hermetisch abgeriegelten, versteckt daliegenden Gleise. Voila - endlich hatte ich meinen Abenteuerspielplatz gefunden! Ein anarchisches Chaos eröffnete sich vor meinen Augen. Kilometerlang schlängelten sich die alten Bahnanlagen geheimnisvoll mitten durch die Stadt, immer wieder unterbrochen von Tunneln. Eine rege Untergrundszene trieb sich in den vergammelten Anlagen herum, überwiegend Teenager und junges Publikum. Diese Trasse hatte einen ganz außergewöhnlichen, morbiden Charme.

Alte Bahnstation Untergrund-Graffiti

Zwei Monate später, an einem kalten und düsteren Wintertag, war ich wieder hier. Im Camelbak befanden sich: Lampen, Handy, Verpflegung, Klappmesser (für eine eventuelle Selbstverteidigung - ich hatte ordentlich Muffensausen) und diverse Notutensilien. Es herrschte eine gespenstische Ruhe und Einsamkeit. Kein Mensch, nicht mal eine Ratte oder Fledermaus waren zu sehen. In einem der längeren Tunnel tropfte Wasser von der Decke. Irgendwie faszinierte mich diese apokalyptische Welt. Versteckt und nahezu unsichtbar mitten in einer Weltmetropole, viele Pariser kennen nicht einmal deren Existenz. Eine Geistertrasse, teils komplett von Bäumen oder zugewachsenen Zäunen umgeben. Zudem eröffnete sie ein völlig neues Revier für Abenteuerläufe oder, um ins Denglisch abzuschweifen, Urban Exploring. Es entwickelte sich eine regelrechte Obsession. Mithilfe von Kartenmaterial, google maps, Internetrecherche, Glück und Zufall entdeckte ich immer mehr Abschnitte des Chemin de Fer de Petite Ceinture.

Obdachlosenquartiere im Tunnel

Anspruchsvolles Trailrunning auf mystischen Pfaden aus dem vorletzten Jahrhundert, mit Kletter- und Kriecheinlagen, bei Tageslicht oder völliger Dunkelheit. Ich begegnete den schrägsten Gestalten, Punks und Streetart-Künstlern, die Tunnel und Brücken mit Untergrund-Graffiti bepflastern. Kreatives Chaos beherrschte diese verwahrloste Trasse. Hier und da hausten Obdachlose, unter einer Brücke lebten in einer kleinen Zeltstadt mehrere Migrantenfamilien, die freundlich grüßten. Und ich entdeckte große Wandgemälde, kleine Kunstwerke aus Glasperlen, geheime Gärten, Berge von Müll, alte Möbel, verfallene Bahnhofsgebäude. Orte die einst belebt waren, Orte voller Geschichte. Auf den sogenannten Highlines, den Hochtrassen, die teilweise durch den Kern der Stadt führen, konnte ich von oben unbemerkt das Treiben der Passanten, die Blumen- und Trödelmärkte und Straßenmusiker beobachten, oder den Parisern ins Wohnzimmer schauen. Einmal führte mich ein Nebenarm im Tunnel bis zur Abwasserkanalisation, wo Platzangst und Fäkaliengeruch den Fluchtinstinkt weckten.

Morbider Charme der Pariser Unterwelt Künstleratelier über den Gleisen

Jahrzehntelang war die Petite Ceinture Zuflucht für Obdach- und Heimatlose, in den dunklen Ecken verlassener Bahnstationen wurde mit Drogen und Sex gehandelt. Bis die Pariser den Charme des "Kleinen Gürtels" wieder entdeckten. Ein Verein zum Schutz der Petite Ceinture wurde gegründet, ein Bürgerentscheid von 2006 verpflichtet die Politik, den Ring vollständig zu erhalten und durch Mischnutzung wie Konzerthallen und Parks der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Der Ceinture wird von über 200 Arten verschiedener Pflanzen und Tierarten bevölkert, Wildtiere nutzen den Bahnring als Korridor, um Paris zu durchqueren. Wann findet hier der erste Trailwettbewerb statt…? Nach rund 2 ½ Jahren war es geschafft und alle noch irgendwie zugänglichen Abschnitte des Petite Ceinture in mein Lauftagebuch eingetragen. Pures Mikroabenteuer, ein Mix aus Leidenschaft, Angst, Entdeckungs- und Bewegungsdrang.

Bar "La Recyclerie" Ein letzter wilder Ort der gnadenlos zugebauten Ile-de-France

Liebe Freunde der Laufkunst: Bitte nicht nachmachen! Denn erstens ist das nicht erlaubt und zweitens gefährlich. Aber, mittlerweile sind mehrere Kilometer der Gleise als Parks öffentlich zugänglich (die zuständigen Politiker kommen ihrer Verpflichtung nur sehr zögerlich nach), in einigen der noch erhaltenen Bahnhöfe haben sich Künstlerateliers etabliert und im Norden, rund um die Porte de Clignancourt, entstanden Bürgergärten, wo Anwohner auf den Terrassen und neben den Gleisen Gemüse und Obst anbauen, sowie Ziegen und Hühner halten. In der alten Ornano-Station an der Rue du Ruisseau eröffnete 2014 die Bar "La Recyclerie", welche komplett aus recyceltem Material gebaut wurde. Alles zu finden auf den touristischen Websites der Stadt Paris.

Fotos © Stefan Schlett,
Fotos von Thierry Bézecourt, Roehrensee und Didier Duforest sind Wikimedia Commons-Dateien aus wikipedia

Beitrag von Stefan Schlett

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Schlett EXTREM

Teil 25: Run & Swim - Mikroadventure vor der Haustüre

Sonntagmorgen 7:30 Uhr. Ich verlasse das Haus zu meiner ganz persönlichen Sportmesse, ein Ritual, das ich seit Jahren pflege. Zumindest an den wenigen Wochenenden wo ich zuhause bin. Es ist ein frischer Herbsttag. Anzugsordnung: Gummikappe, Schwimmbrille, Kompressionshemd, ärmelloser Neoprenanzug, Kompressionssocken, leichte Trailschuhe. Mein privater Swimrun steht auf der Trainingsagenda. Eine relativ neue, seit Jahren boomende Disziplin, die wettkampfmäßig betrieben recht teuer und mit rigiden Zeitlimiten belegt ist. Anreise, Startgeld und Stress erspare ich mir, meine Strategie lautet "Mikroadventure" vor der Haustüre. Einen Kilometer warm laufen durch den wie ausgestorben da liegenden Ort. Gut, dass mich in dem Aufzug keiner sieht, die Kirchgänger sind erst in einer Stunde unterwegs. Ich genieße den herrlichen Morgen, die klare Luft, die Ruhe. Die Bundesstraße 8 muss überquert werden, ein einsamer Autofahrer guckt etwas irritiert als er den Froschmann über die Straße flitzen sieht. Jetzt noch durch den Spielplatz, und das Mainufer - mein sonntägliches Schlachtfeld - ist erreicht.

Stefan Schlett beim ÖTILLÖ Swimrun 1000 Lakes / Mecklenburger Seenplatte im Einsatz - Foto © Michael Kunst Keine Frage, mit leichten Trailschuhen schwimmt es sich besser - Foto © Jakob Edholm

Dünne Nebelschwaden wabern über das Wasser, ich vergewissere mich, dass kein Frachter unterwegs ist, an der nahe gelegenen Schleuse ist es ebenfalls ruhig. Es geht los! Rein in die 13 Grad kalte Brühe, aber - lebenswichtig - kontrolliert, nur nicht springen. Erst neulich habe ich an meiner Einstiegsstelle ein Fahrrad aus den Fluten gezogen - das hätte böse Verletzungen gegeben. Anfangs habe ich mir auch so manches unfreiwillige Duell mit einem Frachtkahn geliefert. Mit zunehmender Erfahrung und Routine ist das mittlerweile vermeidbar. 150 Meter sind es bis ans andere Ufer, eine Sache von 3 Minuten, dann wird auf einem Schotterweg weitergelaufen. Was für eine Stimmung! Das Licht, die Luft, das klare, träge dahin fließende Gewässer - der Main hat kaum Strömung. Erholung für die Seele! Nächster Fixpunkt: der Biergarten auf der anderen Seite. Einige traditionelle Flussbewohner versperren den Ausstieg. Die Enten fliegen aufgeschreckt davon, nur das prächtige Schwanenpaar meckert und sträubt sich zunächst, räumt dann aber doch das Feld, obwohl sie mir im Wasser überlegen wären.

Auch bei der ÖTILLÖ Swimrun-WM in Schweden ist das Rein ins Wasser kniffelig - Fotos © Nadine Odenhagen

Bei der 3. Mainquerung muss eine Furt durch die mit Dornenhecken dicht bewachsene Uferböschung gesucht werden. Es kommt keine Langeweile auf! Ein Spaziergänger mit Hund ist die zweite menschliche und tierische Begegnung heute früh. Ich grüße freundlich, Hund und Herrchen grüßen zurück - der eine bellt, der andere murmelt ein Moin in seinen Bart. Nein, man wundert sich nicht - es ist bekannt, dass es hier in der Region so einen Verrückten gibt. Auch die Angler, 500 Meter weiter, kennen den rennenden Froschmann schon. Diesmal muss ich erst einen Frachter mainabwärts durchlassen, bevor es, in gebührendem Abstand von dem Anglertrio, an die 4. Querung geht. Jetzt kommt das Highlight: 1,2 km Laufstrecke bis zum Mainparksee, einem idyllischen Badesee. Hier ist das Wasser 1-2 Grad wärmer, Ein- und Ausstieg einfacher, da er nicht über scharfkantige Steine erfolgt, kein Bootsverkehr und mit 300 Metern die längste Schwimmstrecke. Dafür hat es Unmengen Gänse, die laut schnatternd davon fliegen, als die menschliche Amphibie ihre Morgenruhe stört. Kraulend durch den friedlich im Morgendunst liegenden See, sogleich laufend auf schmalen Trails durchs Unterholz einmal drumherum, und ich bin wieder an "meinem" Fluss.

Stefan Schlett mit Partner mit Teampartner Jörg Hafner beim Engadin Swimmrun - Foto © Nadja Odenhage Stefan Schlett mit Teampartnerin Anna Berenguel (ESP) bei der ÖTILLÖ Swimrun-WM in Schweden - Foto © Nadja Odenhage

Swimrun, also Schwimmen und Laufen im stetigen Wechsel ohne sich umzuziehen, ist für mich schon seit Anfang des Jahrtausends das ideale Medium, um meine Inselleidenschaften auszuleben. Unzählige Inseln auf der ganzen Welt konnte ich in diesem Stil erobern. Auf Rodrigues, einem einsamen Eiland im Indischen Ozean, forderte ich vor Jahren Neptun heraus und legte mein Inselexamen ab. Im Schutz der 300 Quadratkilometer großen Lagune gelangen mir 11 unbewohnte Inselchen in einem Rutsch. Die weiteste davon war 4 km vom Ufer entfernt, die größte mehrere Kilometer lang. 3 ½ km Schwimm- und 5 km Laufstrecke kamen so in 6 ½ Stunden zusammen. Mein lieber Scholli, was war ich fertig hinterher! Nicht nur die physische Belastung, plus Salzwasser, Strömung, Wind, Wellengang und starke Sonneneinstrahlung spielen dabei eine Rolle. Auch die psychischen Anforderungen sind enorm hoch. Die Angst schwimmt und rennt bei solch einsamen Abenteuern durch wildes und archaisches Terrain immer mit. Eine extrem intensive Erfahrung!

Auch nicht immer einfach ist der Ausstieg aus dem kühlen Nass. ÖTILLÖ Swimrun-WM in Schweden - Fotos © Nadine Odenhagen

Noch zwei Mal muss der Main überquert werden, dann bin ich wieder im Stall. Nach 1:15 Stunden stehen 6 km Laufen und 1200 Meter "Kaltwassertherapie" auf dem Tacho. Juhu, das Miniabenteuer ist beendet! Ein Adrenalin verwöhnter Weltreisender kann auch zuhause sein Glück finden. Gerade in Pandemiezeiten ist das aktueller denn je. Jetzt knurrt der Magen. Als ich mich noch vor dem Brunch in der heißen Badewanne einweiche um den steifen Gliedern wieder Leben einzuhauchen, läuten draußen die Kirchenglocken. Während das gläubige Volk seinem Gott huldigt, haben mich der Lauf- und der Wassergott schon reichlich belohnt.

Fotos © Nadja Odenhage, Jakob Edholm, Michael Kunst 

Beitrag von Stefan Schlett

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Schlett EXTREM

Teil 24: Eiskalte Leidenschaften in Zeiten von Corona

Die Flucht aus Russland

Urplötzlich, wie aus dem Nichts, drosch der eiskalte Sturmwind überfallartig auf uns ein. Wir saßen gerade dick vermummt in vier Lagen Funktions- und Daunenkleidung vor unseren Zelten, um nach einem harten Arbeitstag auf dem Eis unseren Feierabend-Wodka zu genießen. Eben noch herrschte eine trügerische Ruhe, es war windstill, der Vollmond tauchte den zugefrorenen Baikalsee in ein magisches Licht, nur das immer währende Krachen, Knacken und Knirschen der 30.000 Quadratkilometer großen Eisfläche, die unter immenser Spannung steht, war zu hören. Und jetzt, von einer Sekunde auf die andere, Alarm! Wir sprangen auf, sicherten die Zelte und Transportschlitten mit allen noch verfügbaren Eisschrauben und krochen in unsere fragile Behausung, in Erwartung einer beinharten Sturmnacht. Kurze Zeit später müssen wir dann ein Zelt wegen Schneeeinbruchs evakuieren und im verbliebenen, eingepfercht wie in einer Sardinenbüchse, die nächsten 14 Stunden die Launen des Baikalgottes aussitzen.

Es kracht, knackt und knirscht im Eiscamp Macht Mut und wärmt auf: Feierabend-Wodka

Während ich zusammen mit meinem Eispartner Wolgang Kulow, 71-jähriger Best Ager, lebenslanger Extremsportler und Veranstalter des Triple-Ironman-Triathlons in Lensahn/Schleswig Holstein mitten auf dem Baikalsee ums Überleben kämpfe, löst ein winziger, kaum unter dem Mikroskop sichtbarer Virus, eine waschechte globale Krise aus. Bei unserer Abreise Mitte Februar war Corona zwar schon ein Aufreger -der Gesundheitsminister musste von einem Interviewtermin zum nächsten hetzen anstatt seiner Arbeit nachzugehen und die einschlägigen Talkshows überschlugen sich-, aber selbst die Experten unterschätzten in dieser Situation noch die Gefahr einer weltweiten Pandemie.

Luxusleben Eiscamp im Einzelzelt Sardinenbüchsenbesetzung: StefanSchlett und Wolgang Kulow

Hier in Sibirien, sieben Zeitzonen weiter östlich, war Corona überhaupt kein Thema, und wenn überhaupt bekannt, lediglich ein bei Partygängern beliebtes mexikanisches Bier bzw. bei den PS-Verrückten neureichen Russen ein Automodell. Wir fokussierten uns auf die bevorstehende Expedition: 400 km mit Schlittschuhen und zu Fuß auf dem zugefrorenen Baikalsee, die Ausrüstung wurde mit einer Pulka (Transportschlitten) hinterher gezogen. Das Leben auf und mit dem Eis bescherte uns aber auch ein Leben in paradiesischer Unwissenheit - kein Netz hieß keine Schlagzeilen, Nachrichten, sinnlose Talkshows.

Daumen hoch: "Eiswolf" Wofgang Kulow Magische Nächte auch für "Gefrierfleischschletti"

Neben dem permanenten Krisenmanagement, dem Reagieren auf ständig sich verändernde Situationen, erlaubte mir die Weite, Ruhe und Abgeschiedenheit des Eisuniversums Baikalsee auch Zeit für philosophische Gedanken und Reflektionen: Natürlich waren die Horrormeldungen aus China alarmierend. Aber die Grippewelle 2017/18 hat alleine in Deutschland 25.000 Menschenleben gefordert! Mittlerweile gibt es fast 8 Milliarden Menschen die den Globus verseuchen, ausbeuten, zumüllen und diese unglaublich geniale Schöpfung mit Füßen treten. Ob Pest, Spanische Grippe, Naturkatastrophen oder sinnlose Kriege - bedient sich die Natur lediglich verschiedener Regulierungsmechanismen, um eine Art, die sich seuchenartig ausbreitet, in die Schranken zu weisen? Das mag zynisch klingen, ist aber nahe an einer Realität, mit der sich die Menschheit auseinander setzen muss.

Kochen in der selbst gewählten Einsamkeit

Listvyanka, größter Ort im Süden des Baikalsees, Endpunkt der Reise. Hier kommen wir knapp 4 Wochen später und 8 kg leichter an - das Leben in der Kälte hat etwas Substanz gekostet. Es ist Mitte März und vorbei mit der selbst gewählten Einsamkeit und Isolation. Die Nachrichten aus dem world-wide-web erschlagen uns. Die ganze Welt befindet sich im Corona-Alarm, erstmals hören wir von der "Coronakrise". In Deutschland gibt es aktuell 3 ½ Tausend Infizierte und 8 Tote. Telefonrapport mit der Heimat. Wolfgangs Ehefrau ist in Panikstimmung, in einigen Bundesländern soll der Notstand ausgerufen werden, von Ausgangssperren ist die Rede, in den Supermärkten finden Hamsterkäufe statt, einige Inseln in Nord- und Ostsee sind bereits abgeriegelt und die umliegenden Länder machen ihre Grenzen dicht. Wir diskutieren schon, welche Lebensmittel hier in Russland besorgt werden könnten und wie viel Platz noch in unseren Packsäcken übrig ist… Holy Shit - ich sehne mich zurück nach dem harten Leben auf dem Eis! Sturmwind und Schneetreiben, der tägliche Kampf gegen Erfrierungen und kaputter Ausrüstung, karge Mahlzeiten, die Maloche in den Packeisfeldern - das alles ist mir lieber als Viruswahn und Corona-Liveticker, mit denen wir nun regelrecht bombardiert werden.

Karge Mahlzeit SchlettEXTREM als Wasserträger

Es sind noch 3 Tage bis zum Abflug. Wir befinden uns hier im Paradies und genießen es. Klare Luft, wunderschöne Eislandschaften, täglich frischer Omul vom Markt - ein köstlicher endemischer Fisch aus dem Baikalsee. Wir "fressen wie die Henker" um wieder zu Kräften zu kommen, fotografieren und filmen um die Social Media Kanäle unseres Sponsors zu füttern, springen täglich in ein nahe gelegenes Eisloch. Noch ist Sibirien der zweitsicherste Platz auf der Welt (der sicherste ist die Antarktis) - hier hat sich Mister Corona noch nicht hin verirrt. Aber wir sind keine Träumer, der Tag wird kommen, an dem wir uns der "neuen Welt(un)ordnung" stellen müssen. Die Fakten: Der sechsstündige Inlandsflug von Irkutsk nach Moskau findet sicher statt. Raus aus Moskau Richtung Westen wird zumindest spannend! Überland, ob per Bahn, Bus oder PKW ist keine Option, da mehrere dabei zu durchquerende osteuropäische Länder bereits die Grenzen dicht gemacht haben. Und selbst wenn, die Kosten wären nicht tragbar - die Kriegskasse ist leer. Wie erwartet wurde der gebuchte Flug Moskau-Hamburg storniert - die Aeroflot, welche normalerweise ein halbes Dutzend Metropolen in Deutschland anfliegt, hatte schon seit Tagen diesen Dienst eingestellt. Es sollten nur noch wenige Flüge nach Berlin raus gehen.

Wenig Komfort in der Zeltstadt Baden im Eisloch

Wolfgang ist ein beinharter Typ der auch in extremsten Situationen cool bleibt, rational handelt und nach Lösungen sucht. Letzteres wurde ihm am Vorabend der Rückreise zum Verhängnis. "Eiswolf" lief heiß, wollte unbedingt eine Lösung erzwingen, telefonierte die halbe Nacht und machte etliche Leute verrückt. Mein Einwand, dass die Aeroflot ihren Transportauftrag erfüllen und Alternativen ausarbeiten muss, beruhigte ihn nicht. Und überhaupt, ein paar Tage länger im "Paradies" kann uns doch nur recht sein, der Wahnsinn holt uns noch schnell genug ein. Immerhin hatte ich nach 3 ½ Jahrzehnten des sportlichen Nomadentums schon widrigere Situationen bewältigt. Morgens um zwei gab er dann endlich Ruhe…

80 kg Ausrüstung Expeditionshaushalt

Mittwoch, 18. März, Flughafen Irkutsk: Nach der Aufgabe von 1 ½ Zentnern Fluggepäck gab es die Bordkarte nach Moskau und eine Umbuchung nach Berlin für den folgenden Tag. Flughafen Moskau-Sheremetyevo: Stundenlanges Anstehen an diversen Schaltern, um Transfer-, Hotel-, Verpflegungscoupons zu erhalten, die uns laut Passagierrecht zustehen. Da fällt es uns wie Schuppen von den Augen: Heute läuft unser Visum ab! Das Überschreiten des Visums wird in Russland mit hohen Geldstrafen geahndet. Ok, das machte mich nicht unbedingt nervös - unverschuldet und mit einer Bestätigung der Fluggesellschaft sollte das zu regulieren sein. Aber auf die Willkür seelenloser Bürokraten hatten wir keinen Bock. Also, nichts wie raus hier! Das beunruhigte dann sogar den "Trouble Manager" von Aeroflot. Aber halt, da gibt es doch tatsächlich noch einen Nachtflug, und -oh Wunder- 2 Plätze sind auch noch frei! Her mit den Bordkarten! Meiner Bitte nach zwei Verpflegungsgutscheinen wegen der langen Wartezeit wird ebenfalls statt gegeben, und dann nichts wie raus aus dem Land.

Zu Fuß mit einer Pulka auf dem zugefrorenen Baikalsee Verzaubernde Eiswelt

Flughafen Berlin-Schönefeld, Parkposition auf dem Vorfeld, der Airbus A 320 wird von einer Einsatzgruppe der Grenzpolizei abgeschirmt. Vorerst dürfen nur deutsche Staatsbürger das Flugzeug verlassen. Hurra, die "Flucht" aus Russland ist uns gelungen! Aber kommen wir jemals wieder aus Deutschland raus…? Zwei Seesäcke, die Tasche mit den beiden Transportschlitten sowie je 2 Wühltaschen und kleine Rucksäcke werden in einem Rutsch zur 500 Meter entfernten S-Bahn Station gewuchtet und dann stehen wir kurz vor Mitternacht mit dem gesamten Expeditionshaushalt im menschenleeren, monströs wirkenden Berliner Hauptbahnhof. Die Klamotten, seit 4 Wochen getragen, und unsere Ausdünstungen waren nicht mehr ganz so koscher. Aber in den gähnend leeren Nachtzügen, die es von Berlin tatsächlich noch gab, merkte das eh keiner. "Eiswolf" musste nach Nordwesten, "Gefrierfleischschletti" nach Südwesten. Zivilklamotten, Haustürschlüssel, Bahnfahrkarte und all die Dinge, welche in Sibirien nicht gebraucht wurden, lagen in Wolfgangs Haus in Lensahn. Aber das waren lösbare Probleme.

Holy Shit - ich sehne mich zurück nach dem Leben auf dem Eis! Unvergesslicher Eiszauber

So endete unsere eisige Expedition in das größte Land der Erde, zum tiefsten See auf diesem Globus, der gerade kräftig durcheinander gewirbelt wird. In den kommenden Tagen und Wochen wurden fast eine viertel Million Deutsche Staatsbürger aus der ganzen Welt zurückgeholt. Die größte Rückholaktion in der Geschichte der Bundesrepublik! Wahrscheinlich waren noch nie so viele Deutsche in Deutschland! Und wahrscheinlich steht mir die längste Zeit in diesem so bewegten sportlichen Nomadenleben bevor, die ich in der Heimat verbringen muss.

Stefan Schlett, Weltreisender im Hausarrest...

Fotos © Wolfgang Kulow 

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